Kinder des Zorns
Eines Tages, Torheit und Narrentum waren nicht mehr und Frieden und Freiheit regierten mit weiten beschützenden Flügeln,
da stieg ein Gedanke herab wie die erste zarte Schneeflocke an einem Wintertag, bedacht aber zielstrebig, und setzte sich in den Geist der Menschen und läutete die Eiszeit ein.
Die Gier war geboren und mit ihr der große Bruder Neid und die kleine Schwester Selbstsucht. Nichts und niemand auf der Welt vermochte ihnen Einhalt zu gebieten, wurden sie doch in ihrer verschleierten Gestalt von nichts und niemandem erkannt. Allein vor ihrer aller Vater, dem Zorn, knieten sie in allumfassender Ehrfurcht nieder und lauschten demütig seinen lehrenden Worten.
Und der Zorn sprach zu seinen Ebenbildern: Horcht auf, ihr Unbescholtenen! Euch wird von nun an eine große Aufgabe zu Teil. Der Ernst des Lebens beginnt hier und jetzt, seid ihr doch erst die Kraft, die den Ernst des Lebens schafft.
Als Teil der Armee im ewig fortwährenden Kampf zwischen Liebe und Hass, als Soldaten in der nie enden wollenden Schlacht von Tugend und Sünde, seid ihr das Zünglein an der Waage. Im direkten Duell mit euren Gegenspielern Güte, Nächstenliebe und Selbstlosigkeit dürft ihr den Blick niemals abwenden. Denn wenn ihr euch abwendet, hüllen Sie alles und jeden in ein Gefühl von Wärme, Zugehörigkeit und Geborgenheit. Lasst dies nicht zu. Falls es doch einmal geschehen sollte, sammelt eure Kraft, vereint eure Stärke und hüllt wiederum die glänzende Hülle der Liebe ein in Dunkelheit und Angst. Ihr seid das Gift im Festmahl, die Motte in der Kleidung, die schroffe Felswand am Ende des Weges und ihr existiert, um auszulöschen. Ihr lebt, um zu töten.
Erst, wenn sich der Himmel verdunkelt, der Mond erlischt und die Menschen beginnen zu hassen, ist euer Werk getan. Nun geht hinfort und macht eurem Vater Ehre. Bringt Ruhm über euch und Verderben über die Menschheit. Denn dies ist eure Bestimmung.
Und so gingen sie, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Sie streiften durch die Lande und löschten in jedem Haus die Flamme der Liebe und säten in jedem Garten den Keim des Unfriedens.
Eines Nachts, der Himmel war schon dunkler geworden und der Mond schien nur noch schwach, klopften sie an der Tür eines alten alleinlebenden Mannes. Als dieser öffnete, begrüßten sie ihn zuerst freundlich, so, wie sie es immer taten. Der Greis bat sie herein und sie setzten sich. Dann begannen sie mit ihrem Ritual. Während die Gier jedes Licht löschte und der Neid jede Wärme erkalten ließ, war es die Pflicht der Selbstsucht, das Opfer an sich zu binden und seinen Geist zu manipulieren. Sie schaute dem alten Mann tief durch die Augen in seine Seele, so, wie sie es immer tat. Doch zu ihrem Überraschen erloschen seine Augen nicht. Auch sein Herz erkaltete nicht. Er blickte den Töchtern und dem Sohn des Zorns weiterhin sanftmütig entgegen.
Sie erinnerten sich an die Worte des Vaters und sammelten all ihre Kräfte und vereinten ihre Stärke. Doch der Greis blickte sie weiter nur sanftmütig an. "Wer bist du, alter Mann" schrien sie ihn an, "Bist du die Güte, die Selbstlosigkeit oder gar die Liebe selbst!?". Der Greis schwieg und erhob sich langsam und bedächtig und hob die Hand und sofort klarte der Himmel auf und die dunklen Wolken verzogen sich und der Mond erstrahlte heller als je zuvor. In blanker Panik und geblendet von der Erscheinung wandten sich die Kinder des Zorns ab, doch für sie war es längst zu spät, als sie erkannten, dass es die Weisheit war.
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