|
|
Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw. |
|
Themen-Optionen | Thema durchsuchen |
13.09.2017, 01:26 | #1 |
Forumsleitung
|
Cluj
Cluj war obdachlos. Mit seinen paar Habseligkeiten im Rucksack zog er durch die Straßen auf der Suche nach einem geschützten Schlafplatz. Der Herbst ging zu Ende, die Sonne verlor an Kraft, und die garstigen Winde des kommenden Winters zausten die Nächte.
Bis vor kurzem hatte Cluj noch Arbeit. Auf einem Bau. Schwarz. Dann war die Saison zu Ende. Jetzt musste er sehen, wo er bleiben konnte. Er stammte aus Rumänien, aus einem Kaff in der Nähe von Cluj. Niemand konnte sich seinen Namen merken, der auf „...escu“ endete, und deshalb nannten ihn alle Cluj. Er hatte nichts dagegen. Vor einem massigen, düsteren Bau blieb Cluj stehen. Das Gebäude schien verlassen zu sein. Die Tore waren verschlossen, einige Fensterscheiben waren zerbrochen, und innen herrschte Dunkelheit. Er brach den Rest einer Fensterscheibe heraus und kletterte hinein. Im Restlicht des Mondes erkannte er alte Maschinen und Förderbänder, ersparte sich aber Gedanken darüber, wann ihr Betrieb eingestellt wurde. Er wollte nichts weiter als einen Schlafplatz für eine ungestörte Nacht. In einer Ecke in der Nähe eines Fensters, durch das der Vollmond schien, legte er seinen Rucksack ab, ließ sich darauf nieder und fiel augenblicklich in Schlaf. Cluj träumte von Cluj. Oder besser gesagt, von der Nachbarstadt, in der er aufwuchs. In der er zum ersten Mal verliebt war, ohne sich zu trauen, sein Mädchen zu küssen. Wo er zum zweiten Mal verliebt war und sich traute, sein Mädchen zu küssen – und diesen stechenden Schmerz des Glücks fühlte, nicht nur im Herzen und in den Lenden, sondern im ganzen Körper, ... „Autsch!“ Cluj schoss aus seinen Träumen und griff nach seiner Unterlippe. Als er seinen Finger besah, war dessen Kuppe voll Blut. Cluj schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder, um sicher zu sein, dass er wach war und recht gesehen hatte. Dann erblickte die Ratte. „Wer bist du denn?“ Er hatte die Frage nur dahingesagt, mehr zu sich selbst als zu der Ratte, während er das Blut von seiner Fingerkuppe leckte. „Ich bin Fiffifee.“ Cluj wäre beinahe vor Schreck erstarrt. Eine Ratte, die sprechen konnte! Ihm selbst verschlug es glatt die Sprache. Fiffifee richte sich vor ihm auf. „Wer glaubst du zu sein, mit deinem Krawall unseren Frieden zu stören?“ „Krawall?“ „Du hast geschnarcht wie beim Abholzen von zehn Hektar Wald. Keiner von uns konnte ein Auge schließen!“ Bei diesen Worten begann es überall zu rascheln, und in null Komma nix sah sich Cluj einem Rattenheer gegenüber, das aus dem Nirgendwo gesprossen schien. „Aber... ich war nur müde ...“ Fiffifee sah befriedigt in die Runde. „Darf ich bekannt machen: meine Familie. Alle da.“ Cluj brach der Schweiß aus. „Ihr... ihr... tut mir doch nichts ... ?!“ Fiffifee sah ihn verschmitzt an. „Glaubst du an Märchen?“ „Nein... na ja, manchmal.“ „Küss mich, und ich werde deine Prinzessin sein!“ Cluj überwandt seinen Ekel und küsste Fiffifee mit geschlossenen Augen auf ihr gespitztes Mäulchen. Als er die Lider hob, sah er keine Prinzessin, sondern die fette und listige Ratte, die sich über ihn lustig machte. „Was bist du für ein Schafskopf!“ Zwei Jahre später wurde das Gebäude abgerissen. Neben den veralteten technischen Einrichtungen fand sich ein verrotteter Rucksack und ein blitzblankes Skelett. Die beiden Briefe, die im Schlafsack gefunden wurden, waren eindeutig an weibliche Personen gerichtet, trugen jedoch zur Aufklärung der Identität des Toten nicht bei. 13.09.2017 |
13.09.2017, 08:59 | #2 |
Wie gruselig, da schüttelt's einen ja.
Jetzt habe ich Bilder im Kopf... |
|
13.09.2017, 13:59 | #3 |
Gute Geschichte. Besonders der Dialog gegen Ende war super!
Wurdest du eventuell hiervon inspiriert? https://www.derwesten.de/panorama/qu...211861201.html LG k |
|
13.09.2017, 14:20 | #4 |
Forumsleitung
|
|
13.09.2017, 16:58 | #5 |
Da gabs gestern so einen Film auf RTL Nitro.
An den erinnert mich die Geschichte spontan. Echt gruselig. Aber gut geschrieben. Da kommt man auf allerlei Nachdenkens- und Nachfühlens"wertes," Mögliches und Unmögliches, Naheliegendes und Abwegiges... Gern gelesen. Nein. Also, schon... Andererseits... Scheiss Welt... LG Sonnenwind |
|
13.09.2017, 22:40 | #6 |
abgemeldet
|
Hallo Ilka,
die Geschichte könnte beinahe realistisch sein. Die Idee und die Umsetzung finde ich sehr gelungen. (Bei während fehlt das d) Das habe ich neulich gesehen und fand es sehr befremdlich. https://www.youtube.com/watch?v=4EoenokibfI Lieben Gruß Letreo |