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07.10.2013, 12:52 | #1 |
Halbzwillinge
Wenn fremde Menschen im Vorübergehen, irritiert von unserer Gleichaltrigkeit und unserer geringen äußeren Ähnlichkeit, fragten, ob wir Geschwister seien, so antwortete ich stets: "Halbzwillinge". Ich nahm an, dass dies die korrekte Bezeichnung für unser Verwandtschaftsverhältnis sei, da es dem Verständnis unserer Mutter entsprach, das sich aus den unübersichtlichen Umständen heraus entwickelte, welche in den Wirren ihrer langen Jugend zu unserer Zeugung beitrugen. Für mich war dieser Begriff, so befremdlich oder gar abstoßend er auf Andere gewirkt haben mag, kein Begriff, sondern selbstverständlich gelebte Wirklichkeit.
Erst spät begann ich zu begreifen, dass "Halbzwillinge" aus einem ganz anderen Grunde zutreffend ist. Es war nicht die Tatsache, dass mein Bruder und ich am selben Tag das Licht der Welt erblickten, die uns so eng aneinander band, sondern der geteilte Wunsch, ebendies vor dem Hintergrund unserer Unterschiedlichkeit zu verstehen: Mein Bruder tat stets sein Bestes, sich selbst inmitten einer zu findenden Ordnung zu verorten und in dem Alter, in dem andere Kinder fragen, woher denn die Babys kämen, konfrontierte er meine Mutter zum ersten Mal mit der Frage: "Wie viele Papas braucht man denn?" "Keinen Einzigen", erklärte Tina, unsere Mutter, während sie sich schminkend auf den Weg zur Tür machte, um Ute hereinzulassen. Ich glaube, Ute hat uns häufiger zu Bett gebracht als Tina. Ich, der Nachgeborene, jedoch zog mich immer in mich selbst zurück, um aus mir heraus die Welt zu erschaffen, in der ich mich selbst verstehen konnte. Bis zu meinem fünften Lebensjahr habe ich kein Wort gesprochen. Stattdessen zeichnete ich stundenlang allerlei Bilder von Käfern, die an den Füßen größerer Käfer wachsen, die wiederum an den Füßen noch größerer Käfer wachsen, von Bäumen, die an der Unterseite eines Pilzhutes nach unten wachsen, von Fischen, die im Bauch einer Frau herum schwammen. Ich zeichnete meist auf die Tafel, die neben meinem Bett hing und kaum, dass ich ein Bild vollendete, wischte ich es weg und zeichnete das nächste. Als meine Ausdrucksmöglichkeiten mit den Jahren fokussierter und elaborierter wurden, begann ich Geschichten zu schreiben, die niemand lesen wollte über Themen, die niemand verstehen konnte. Zum Glück konnte ich bei meinem Bruder unterkommen, der mir, teils aus Verständnis, teils um in meiner Nähe zu sein, ein ansprechendes ZimCDPhen in dem Turm seines schönen alten Herrenhauses einrichtete. Ich muss vorwegschicken, dass er als medial gefragter Universitäsprofessor einigen finanziellen Erfolg hatte. Auf ihn geht der in der psychologischen Fachliteratur viel diskutierte Begriff des "Ahornblüten-Syndroms" zurück, der attitudinal hochgradig ambivalente Personen beschreibt, die Geschlechtsverkehr mit mehreren Partnern bevorzugen, um die genetischen Unsicherheiten bei der Fortpflanzung möglichst zu streuen. Doch der Erfolg spielte für uns nie eine Rolle. Wir respektierten einander für die jeweilige Art und Weise, sich dem Geheimnis unserer Existenz zu nähern, stellten einander beim Abendbrot unsere Ergebnisse vor und wussten unabhängig von deren Überzeugungskraft bald immer mehr um die wahre Bedeutung des Begriffs "Halbzwilling". "Ohne dich wäre ich nur die herzlose Hälfte eines siamesischen Zwillings", waren seine letzten Worte - so pathetisch, wie man es von mir erwartet hätte, aber so kompromisslos analytisch, wie er nicht anders zu denken war. |
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07.10.2013, 13:50 | #2 |
gesperrt
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Hallo Schmuddelkind,
schön, dass du wieder schreibst. Und du kannst es noch. War das autobiographisch? Denn das "Ahornblüten-Syndrom" klingt interessant, selbst für Monogamisten. Dein Anliegen jedenfalls, das mit den Halbzwillingen zu klären, ist dir jedenfalls gelungen. Jeronimo |
07.10.2013, 14:00 | #3 | |
Vielen Dank für deinen Beitrag, Jeronimo und für dein generelles Lob!
Zitat:
Freut mich aber sehr, dass das mit den Halbzwillingen dann doch nicht so kryptisch wurde, wie ich befürchtete. LG |
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