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Theorie und Dichterlatein Ratschläge und theoretisches Wissen rund um das Schreiben. |
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19.11.2004, 17:34 | #1 |
Dabei seit: 11/2004
Beiträge: 253
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Wie entsteht ein Gedicht
Wer schon immer mal in meinen Kopf blicken wollte, wenn ich ein Gedicht schreibe, der hat jetzt die Gelegenheit dazu. Hier könnt ihr den Entstehungsprozess eines neuen Gedichtes verfolgen, während es entsteht. Das Schöne daran ist, dass ich durch die nun folgenden Schilderungen den Eindruck erwecken kann, das Ganze hätte irgendetwas mit Arbeit zu tun.
Die Idee für das neue Gedicht entstand heute Nacht so zwischen 2 und 3 Uhr Nachts. Im Groben sollte es darum gehen, den Hass einem Menschen gegenüber auszudrücken, der mir etwas genommen hat, das eigentlich für mich bestimmt war. Eine Frau natürlich. Des Weiteren hatte ich unbedingt vor, das Asche-Motiv als Ausdruck für die Zeit mit einzufügen. Das ist so gemeint, dass, wenn etwas verbrennt, dieser Vorgang irreversibel ist und alles was noch übrig bleibt, Asche ist. Los geht’s. Aufgeschobene Gefühle müssen raus, deswegen geht die erste Strophe sehr leicht von der Hand. „Ich bin nicht blind, wollt es nie sein Ich sah es nicht, war wohl zu dumm Sie lies sich träumend auf dich ein Und Gott allein weiß nur, warum“ Gefällt mir, auch wenn es schon fast wieder ein bisschen zu sexuell klingt, aber das kann mir sowieso niemand verübeln. Doch ich bezweifle, dass das die erste Strophe bleiben wird, denn das ist ein schlechter Einstieg. Es kommt unvorbereitet und ohne jede Einleitung. Vielleicht macht es das ja zu einem gutem Einstieg. Wir werden sehen, was kommt. Weiter im Text. Es wird Zeit für ein bisschen kreativ ausgeschmücktes Selbstmitleid. Das kann ich gut, deswegen geht das auch leicht von der Hand. „Ich bin für diese Welt zu schwach Dessen war ich mir bewusst Doch der Schmerz hält mich noch wach Denn er sitzt tief in meiner Brust“ Klingt klasse. Finde ich. Ich merke aber, dass das viel zu egoistisch klingt. Ich will ja Verbundenheit ausdrücken. Kein Problem, die deutsche Sprach eignet sich für kleine konjugationsbedingte Korrekturen wie keine zweite. Dann heißt die letzte Zeile eben so: „Denn er sitzt tief in unsrer Brust“ Das Verbundenheitsgefühl wird noch verstärkt durch den Ausdruck „Unsrer Brust“, denn „wir“ ist ja Mehrzahl, also müsste ich auch von „Brust“ die Mehrzahl bilden, aber ich tue es nicht, denn „wir“ teilen uns hier eine Brust (steht bei mir für „Herz“), und wenn das kein Zeichen von Verbundenheit ist, dann weiß ich auch nicht. Schluck Kaffee, dann weiter. Jetzt wollen wir mal versuchen, den Hass, den das lyrische ich empfindet, dem Leser deutlich zu machen. „Ihre Tränen fließen lautlos Doch brennend über ihr Gesicht Ihrer Leere ist unendlich groß Denn sie starb allein durch dich.“ Ok, es sind vier Zeilen, es reimt sich und es würde reichen, aber ich finde, dass ist mein Niveau von 2003, und das ist nicht gut genug. Es klingt zu plump und berührt nicht. Mehr Motive, mehr Emotionen und so. Zweiter Versuch: „Ihre Tränen haben lautlos Sich in ihr Gesicht gebrannt Ihre Leere ist unendlich groß Denn sie starb durch deine Hand.“ Besser, denke ich. Keine Aushilfsworte mehr, wie „nun“, „doch“ oder „und“, um die Silben auszugleichen und alles flüssig klingen zu lassen. Das kann man so stehen lassen. Jetzt kommt die wichtigste Frage, warum sie starb und warum „du“ sie getötet hast. Natürlich, ein Unmensch, ein aalglatter Mann, der keine Gefühle zulässt (Thomas würde sagen: Ein Politiker *löl*) und eine reizende Frau, die Gefühle geradezu herausfordert und das alles in vier Zeilen. Versuch: „Etwas, das tief in dir steckt Tief in deinem ... (argh) vergraben Hat sie liebevoll erweckt Doch du wolltest es nicht haben.“ Tja, ganz nett, nur mir fehlt ein Wort. Herz? Wie oft findet man dieses Wort schon in meinen und auch in allen anderen Gedichten. Herz... Herz. Es drückt natürlich genau das aus, was ich sagen will, aber ich sträube mich jedes Mal gegen dieses Wort. Doch ich habe keine Alternativen. Schoß? Schoß finde ich auch ein schönes Wort, aber das wird viel zu sehr sexualisiert, weil die meisten Lyriker mit diesem Wort irgendwelche Aktivitäten im Genitalbereich ausdrücken wollen. Und sonst? Es gibt nicht viele einsilbige Wörter, mit denen man dieses Gefühl tief in uns drinnen beschreiben kann. Hier stößt man an seine Grenzen. Tja, dann wird’s wohl doch beim Herz bleiben. Auch egal, die Trägheit siegt, den zu langes Nachdenken strengt an. Das passt schon so. Herz. Pah! Der Verlauf der Dinge passt uns natürlich überhaupt nicht, deswegen hauen wir ab. „Nun sind wir auf der Flucht Vor dir und deinesgleichen So fliehen wir vor deiner Sucht Das Höchste zu erreichen.“ Genau! Weil Perfektion ist eh doof! Genau wie Geld und Sex. Brauch eh keiner. Mir gefällt die Strophe, auch wenn das Motiv des Wegrennens wohl auch schon ausgelutscht erscheinen mag, gefällt es mir immer wieder. „Rosengarten“, „Inseparabilis“, „Königin“ ... die besten Gedichte sind doch immer die, in denen man die Zeit mit Träumerein verbringt. Idiotisch, aber schön. Wie gesagt, Perfektion ist doof, aber Freiheit fetzt schon. Deswegen brauchen wir natürlich unbedingt ein Happy End, und das geht so: „Ein neuer Morgen bricht heran Für uns ist er so klar und rein Denn deinem Willen Untertan Werden wir nie wieder sein.“ Total knuffig eigentlich, voll süß, „Pretty Woman“ für Arme. „Wir“ rennen vor dem bösen Zuhälter weg, irgendwo hin, wo alles toll ist und wohin „uns“ niemand folgen kann. Gott, was gäbe ich dafür, zu wissen, wo das ist. Vielleicht Friesland...? Egal, genug geschnulzt, wir sind noch nicht fertig. Es fehlt noch ein Titel. Ihr ahnt es schon, ich kenne den Titel natürlich bereits, aber er ist mir auch nicht zugeflogen. Diese Story, die kam mir so bekannt vor, und ich irrte mich nicht. Ich griff nach meiner Bibel, blätterte zunächst ziellos umher, doch dann fand ich es, im Evangelium des Matthäus, ich musste nicht mal weit blättern, Kapitel 2, Vers 16. Der Kindermord des Herodes. Herodes, König von Judäa, hörte von der Geburt eines Kindes, dass bereits überall im Land als „König der Juden“ bezeichnet und gepriesen wurde. Das jagte ihm Furcht ein, denn er sah seine Macht gefährdet, und nachdem er nicht herausfinden konnte, wo sich Jesus und dessen Eltern aufhielten, befahl er kurzerhand, alle Kinder des Landes, die jünger als zwei Jahre alt waren, töten zu lassen. Josef jedoch wurde vorher durch einen Engel davor gewarnt und floh deshalb mit Maria und dessen Sohn nach Ägypten und entgingen so der Willkür des Herodes. Tja, Herodes hat auch versucht, diesen Menschen das Wichtigste im Leben zu nehmen und er hat es nicht geschafft. Aus diesem Grund muss sein Name nun für den Titel dieses Werkes durchschnittlicher Qualität herhalten. Wunderbar, Bibelschmökern lohnt sich also doch. So, wir sind fertig. Gedauert hat alles zusammen nicht mal ganz drei Stunden (netto). Süpi, ne? Das ist dabei herausgekommen: GEDICHT NU. 90: "HERODES" 19. November 2004 Ich bin nicht blind, wollt es nie sein Ich sah es nicht, war wohl zu dumm Sie lies sich träumend auf dich ein Und Gott allein weiß nur, warum Ich bin für diese Welt zu schwach Dessen war ich mir bewusst Doch der Schmerz hält mich noch wach Denn er sitzt tief in unsrer Brust Ihre Tränen haben lautlos Sich in ihr Gesicht gebrannt Ihre Leere ist unendlich groß Denn sie starb durch deine Hand Etwas, das tief in dir steckt Tief in deinem Herz vergraben Hat sie liebevoll erweckt Doch du wolltest es nicht haben Nun sind wir auf der Flucht Vor dir und deinesgleichen So fliehen wir vor deiner Sucht Das Höchste zu erreichen Ein neuer Morgen bricht heran Für uns ist er so klar und rein Denn deinem Willen Untertan Werden wir nie wieder sein --- Also, wenn euch meine Gedichte manchmal zusammenhanglos erscheinen, dann schreibt euch eure eigenen Zeilen dazwischen. *g* Oder fragt einfach nach. Liebe Grüße, euer Riif-Sa |
27.01.2005, 22:54 | #2 |
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Beiträge: 7
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RE: Wie entsteht ein Gedicht
wunderbar, dieser komplette Bei-/Vortrag ist ein Gedicht...
finde ich gruß baeredel |
18.03.2005, 15:44 | #3 |
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Beiträge: 3
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`Hallo, das Gedicht ist wirklich schön, aber dieser Wechsel zwischen "ich" und "dich" z.B. in der ersten Strophe stört irgendwie ein bisschen. Ist das so beabsichtigt?
bis später |
10.06.2005, 18:17 | #4 |
Dabei seit: 06/2005
Beiträge: 146
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Es ist mir noch nie in den Sinn gekommen die Entstehung eines Gedichtes aufzuschreiben aber eine nette Idee ist es auf jeden Fall.
Mir ist aufgefallen, dass wir nur in einer Sache mit dem Gedichte schreiben übereinstimmen. Die Uhrzeit wenn die Muse heranschleicht und einem die Zunge in den Hals steckt. Ich schreibe wirklich zu den unmenschlichsten Zeiten aber wenn ich dann schreibe hilft kein Anker mehr. |
10.06.2005, 20:56 | #5 |
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Beiträge: 8
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Die Idee finde ich lustig das aufzuschreiben
Ich könnte das nie bei meinen Texten. Das sit wie eine droge ich schreibe und danach weiß ich nichts mehr. Bis denn |
16.06.2005, 19:03 | #6 |
Dabei seit: 06/2005
Beiträge: 7
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gedichte entstehen bei mir nicht als idee. es sind sprachfetzen, die sich irgendwie zusammengesetzt haben und die ich eine weile mit mir rumtrage. manchmal stunden, manchmal monate. meistens schreibe ich sie nicht auf. irgendwann kommen neue fetzen, die irgendwie dazupassen, weil sie an die anderen anklingen, ihnen widersprechen usw. und irgendwann treffen dann die aneinandergereihten fetzen auf eine stimmung, die zu ihnen passt. und dann kommen bilder. alle formt sich... dann schreibe ich.
ich schreibe immer wieder an denselben gedichten. was mir vor wochen vorkam wie ein meisterwerk, kann schnell verpuffen in eine enttäuschung über mich selbst und die armseligkeit der gedanken, des ausdrucks. dann suche ich nach neuer dichte, mehr inhalt. das, was dazukommt, wird neu verschlüsselt, das alte entweder angepasst durch einarbeitung oder als tragendes fundament (wenn es nicht ganz durchgefallen ist bei der revision ;-)). ich schreibe dadurch eigentlich recht wenig. schreiben hat für mich keinen tagebucheffekt. ich katalysiere sicherlich meine emotionen und eindrücke aus dem alltag, aber durch die zeit, die zwischen den schreibschritten verstreicht, verfremdet sich das geschriebene. der konkrete bezug fällt weg. es wird künstlich. im idealfall sowas wie künstlerisch (hoffe ich ;-)). ich habe mal eine zeitlang bildhauerei betrieben, und mit dem schreiben ist es bei mir wohl ähnlich... ein langsamer prozess über grobes, feinheiten und einbrüche. |
25.06.2005, 23:29 | #7 |
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Beiträge: 124
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Bei mir entstehen die meisten Gedichte aus Selbstgesrächen, andere widerum werden "geplant".
Für erstere habe ich immer meine Version des "Reimbuches" dabei |
26.06.2005, 13:40 | #8 |
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das mit den selbstgesprächen kenne ich. ;-) es gibt leute, die glauben, ich hätte imaginäre freunde. ich sage dann immer, nein, das ist alter ego nummer soundsoviel. *g*
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26.06.2005, 13:41 | #9 |
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Noch jemand mit den selben Dämonen in Sich *freu*
Schreibst du diese Gespräche auf? Geile Signatur Sigu |
26.06.2005, 21:59 | #10 |
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Beiträge: 7
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das sind keine dämonen... das bin einfach ich, fürchte ich... *gg* aber vll. bin ich ja ein/mehrere dämon/en?! oder einfach nur ein entseelter körper? ein lamm im magen des aasgeiers? ;-) (danke für das kompliment btw!)
ich schreibe nur auf, was sich wohlklingend wiederholt - besagte "fetzen". das kann sich aber sehr lange hinziehen. ich bin da sehr kritisch und vertraue auf den alten spruch "was einmal gedacht wurde, geht niemals verloren" - sprich, wenn´s gut war, werde ich mich schon erinnern - dann, wenn es passt. |