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14.08.2012, 22:28 | #1 |
Selbstportrait
Ich bin jemand, bei dem man nicht weiß, was man von ihm halten soll. Ich kann es niemandem verdenken, aber ich kann es auch niemandem neiden, der leichter zu verstehen ist. Immerzu sehne ich mich so sehr nach menschlicher Nähe und Wärme, dass sie zuweilen zu schnell über mich kommt und mich eiskalt erwischt. Dann bin ich oft so erschrocken darüber, dass ich wochenlang mit niemandem mehr reden will.
Vielleicht ist das auch besser so. Vielleicht bin ich der einzige Mensch, der mit mir zurecht kommt. Ich bin nämlich eitel, so eitel, dass ich ruhigen Gewissens behaupten könnte, meine Eitelkeit sei nur noch von meiner Genialität übertroffen. Wobei - möglicher Weise bin ich doch gar nicht eitel. Ich bin klug, schön und eloquent; so viel weiß ich und natürlich ist mir das lieber, als dumm, hässlich und einsilbig zu sein. Aber ich bilde mir nichts darauf ein, weiß ich doch, dass ich selbst wenig dazu kann. Warum sollte ich also nicht ehrlich damit umgehen? Ist falsche Bescheidenheit nicht eine der größten alltäglichen Betrügereien, weil sie so harmlos daher kommt und dabei so einnehmend ist? Jedenfalls begleitet mich das Gefühl (vielleicht gerade deswegen), dass meine Talente mir mehr im Weg stehen, als dass sie einem guten Leben förderlich seien, da sie nicht selten Bewunderer anziehen, die sich letztlich doch darüber wundern, dass ich aus meinen Möglichkeiten nicht mehr gemacht habe; denn die meisten halten mich wohl für einen Versager. Das bin ich wohl und so wird es auf meinem Grabstein stehen: ein bewundernswerter Versager. Das ist wohl der Grund, weswegen Frauen mich entweder bewundern oder bemuttern oder beides (oder sie ignorieren mich, aber denen ist ohnehin nicht mehr zu helfen). Bin ich also ein Mensch, den man nicht lieben kann? Oft kommt es mir so vor und ich fühle mich einsam, unverstanden und bin wütend auf die Welt, am meisten aber auf mich selbst. Meist mache ich gute Miene dazu, um nicht Gefahr zu laufen, umso mehr bemitleidet und bemuttert zu werden und mache es dadurch anderen Menschen unmöglich, mich zu verstehen. Kurzum: Ich leide an mir selbst. Aber der Alkohol hilft mir oft, mich selbst zu vergessen und dann setzt diese Gleichgültigkeit ein, die vielleicht das lebensfrohste Gefühl ist, das mir zu empfinden möglich ist. Und dann ist da noch diese andere Droge, die es mir leichter macht, mich selbst zu vergessen: die Lyrik. |
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14.08.2012, 23:39 | #2 |
abgemeldet
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Ein sehr interessanter Text.
Der Ich-Erzähler setzt sich mit sich selbst auseinander, hinterfragt sich und findet doch keine Antworten. Möglicherweise gibt es gar keine Antworten auf diese Fragen. Dennoch ist der Prozess des Hinterfragens wichtig für die Selbstfindung, die wahrscheinlich bei keinem Menschen je gänzlich abgeschlossen ist, da zu viele Faktoren eine Rolle spielen und stets neue Faktoren hinzukommen. Das Tragische an dem Text ist für mich der Schluss. Zweierlei "Drogen" werden als "Hlife" verstanden: Alkohol und Lyrik. Beide sollen ablenken, ausblenden. Was nicht das Schlechteste ist. Aber übermäßiger Alkoholkonsum intensiviert eine Sinnkrise nur. Da die Lyrik ebenfalls als "Droge" bezeichnet wird, handelt es sich auch hier um ein Suchtverhalten. Einen Rausch, der ausgelöst wird, nachdem man giert. Doch was ist, wenn er ausbleibt, wenn die Kreativität stockt? Nimmt dann die Leere überhand? Vergiss man sich selbst wirklich während des Schreibens - oder befasst man sich erst dabei wirklcih mit seinen Gedanken, mit sich selbst? Der Text gefällt mir. Er regt zum Nachdenken an. Der Ich-Erzähler wirft zahlreiche Fragen auf, die (wenn überhaupt) nur er selbst beantworten kann. Trotz all der Unklarkeiten, weiß er doch um seine Stärken und da kann er ansetzen. Liebe Grüße Peace |
14.08.2012, 23:49 | #3 |
Danke für deinen langen und reflektierten Kommentar, Peace!
Ja, interessant fand ich den Text, wohl weder besonders gut, noch besonders schlecht, aber irgendwie interessant; deshalb hab ich ihn gepostet. Gerade wegen der Offenheit und Unklarheit, die du ansprichst. Es ist vermeintlich ein Selbstportrait, ein Ausschnitt aus einem Einzelschicksal, aber meine Hoffnung ist, dass er vielleicht auch darüber hinausreicht und wenn er zum Nachdenken anregt, habe ich schon etwas erreicht. Interessant finde ich deine Reflexion über die Drogen. Beide angesprochene Drogen ermöglichen das Vergessen, aber eben nur für den Zeitraum des Rausches; danach erfährt man eine unbefriedigende Situation und vielleicht ist das tatsächlich so auch beim Schreiben. Du hast natürlich recht, dass das Schreiben auch eine Beschäftigung mit sich selbst ist und vielleicht sogar die ehrlichste, aber letztendlich erschöpft sich der Ich-Erzähler im Schreiben, statt einfach zu sein. Ich denke, dass dies, wie du bereits angesprochen hast, kein rein pessimistischer Text ist. Es ist eher eine realistische Selbsteinschätzung eines Menschen, der um seine Stärken und seine Schwächen weiß und dieses Bewusstsein ist vielleicht seine größte Stärke. LG |
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15.08.2012, 01:00 | #4 |
R.I.P.
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Die ersten beiden Absätze sind gefühlter Robert Walser, fast redivivus.
Die hätte ich vom Rest so *** abgetrennt. Denn hier wechselt der Duktus eklatant; Eher in Richtung ganz früher (und noch guter) Simmel. Oder einen sehr gebändigten Fallada. Oder - des witzigen Untertones wegen: Roda Roda. Na - wie auch immer: Erster Klasse bin ich gefahren. Durch Deinen Text. Thing |
15.08.2012, 01:07 | #5 |
Das ist interessant, denn ich habe den Duktus als durchgängig wahrgenommen und hättes es eher mit Woody Allen verglichen (man nennt mich nicht umsonst Schmuddi Allen)
Freut mich jedenfalls, dass dir der Text so gut gefallen hat, dass du mich gleich mit einer ganzen Autorenarmee bombardierst. LG |
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15.08.2012, 01:24 | #6 |
R.I.P.
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Lieber Schmuddelkind,
von Woody Allen hab ich leider keine Ahnung. Die meisten seiner Filme ließen mich einfach begriffsstutzig zurück. Schön, daß Du mir die Nennung der anderen Autoren nicht übelnimmst. Ich weise ganz zart darauf hin, daß wir um Generationen differieren. Lieben Gruß von Thing |
15.08.2012, 01:25 | #7 |
abgemeldet
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15.08.2012, 10:50 | #8 | |
Wieso sollte ich dir die Nennung dieser Autoren übel nehmen, Thing? Bin ich glücklich mit.
Zitat:
LG |
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Lesezeichen für Selbstportrait |
Stichworte |
melancholie, schmuddi, selbsterkenntnis |
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