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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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04.04.2022, 12:47 | #1 |
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Berlin
Bibi Johns. Kenn sie noch jemand?
Einst ein Star. Titelbild auf der HörZu. Populär. Beide. Tailleneng in Gold gekleidet. daneben in roten Lettern: Berlin bleibt Berlin. Oma schüttelte den Kopf, schaute mich an und fragte: Glaubst du das? Ich hatte keine Ahnung. War noch Kind. Verstand nichts. Wusste nichts. Nichts über Teilung und Mauer. Konnte nichts anfangen mit den Brocken und Bröckchen, die ich aufschnappte, nichts mit „Itakern“ und „Polacken“, mit „Amis“ und „Franzmännern“ und den Kriegskrüppeln überall. Damals durfte man noch reden. Ganz nach Schnabel Wir waren alle Vögel. Zwitscherten, was der Alltag hergab, wie die Sonne gerade stand und uns nachts der Mond schien. Man durfte nicht alles, schließlich gab es Sitten, aber wir durften alles sagen als Frühgeburten der Demokratie. Berlin ist Berlin geblieben. Little Boy, für Berlin erdacht, fiel woanders. 8. Mai, mehr als knapp. Friede. Mehr als siebzig Jahre. Seitdem fallen die Bomben woanders. Berlin, wieder vereint, auf der Wippe: Balance und Schnauze halten. Um jeden, absolut jeden Preis. Unten ist harter Boden. 04.04.2022 |
04.04.2022, 13:00 | #2 |
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.877
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ach ja, die Bibi Jones - sie müsste heute über neunzig sein und ist so alten Knaben wie mir natürlich noch ein Begriff. So weit ich mich erinnere, ist sie Schwedin und schwach erinnere ich mich noch an "Bella Bimba" und "Junggesellen musst du Fallen stellen".
Aber Dein Gedicht beschränkt sich ja nicht auf nostalgische Erinnerungen an einen (symphatischen) Schlagerstar, sondern gibt Eindrücke der ersten bundersrepublikanischen Wirklichkeit wieder. Und das hast Du gekonnt verarbeitet. Gruß, Heinz |
04.04.2022, 13:45 | #3 | |
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Zitat:
Man spricht immer von dem "Muff" der damaligen Zeit, aber in vielerlei Hinsicht war unsere Gesellschaft damals freier als heute. Die sogenannten "guten Sitten" waren eine Richtschnur, aber sehr dehnbar; und nicht jedes Wort wurde auf die Goldwaage gelegt. Was wir heute wieder predigen, nämlich weniger Verbrauch, mehr Dauerhaftigkeit und mehr Sparsamkeit, war damals selbstverständlich, weil man sich Massenkonsum nicht leisten konnte. Vielleicht ist der "goldene Löffel", mit denen die Generationen nach den 68ern geboren wurden, gar nicht so gülden. Eine Greta hätten wir jedenfalls nicht gebraucht. Die direkte Nachkriegsgeneration ist nicht dafür verantwortlich, dass der Kapitalismus in den letzten vierzig Jahren dermaßen ausgeufert ist. Wenn wir uns vorgenommen hatten, dass es unseren Kindern besser gehen soll als uns, hatten wir uns nicht vorgestellt, dass man sich alle zwei bis drei Jahre neue Geräte, Autos und Smartphones. und zwar alles doppelt und dreifach, anschafft., sich jedes Jahr von Kopf bis Fuß neu einkleidet und statt einmal dreimal im Jahr in den Urlaub fliegt. Wir hatten uns vorgestellt, dass sie ein gutes und sicheres Einkommen haben, gewisse Rechte genießen, gesundheitlich gut versorgt sind, innerhalb der Familie und mit ihren Nachbarn in Frieden leben, satt sind, ein warmes Zuhause haben und auch sonst mit sich in Einklang stehen. Und dass es vor allem keinen Krieg mehr gibt. Das klassische "Spießerdenken". Aber es ist anders gekommen. Meine Eltern hatten noch alles richtig gemacht. Ich vielleicht auch, wie ich an meinem äußerst bescheidenen Sohn sehe und daran, dass ich alles bis zum Anschlag aufbrauche, ehe ich Neues anschaffe. Aber danach? Leute wie mich, die mit einem 33 Jahre alten Auto durch die Landschaft fahren, wenn überhaupt mal, braucht der Turbo-Kapitalismus nicht. Für die Versuchungen der Werbung bin ich das reine Gift. Es würde mich aber wirklich interessieren, an welchem Punkt die Sache aus dem Ruder gelaufen ist und wer da wirklich politisch versagt hat. Oder handelt es sich um eine Spirale, die sich verselbständigt hat und aus der keiner mehr rauskommt? |
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04.04.2022, 14:06 | #4 |
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.877
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das alles schürft tief und den "Amis", Polacken und Franzmännern könnte man noch die Russkis (vor denen die Angst viel größer war als vor den Amis und Tommys) und Schluchtenscheißer (wie man zartfühlend die Österreichen nannte), die Nigger, Kanaken und Akalatzen hinzufügen.
In unserer Gesellschaft gibt es, Gott sei es gelobt, gepriesen und gepfiffen, auch eine Art Aussteiger. Mit 33 Jahre altem Auto kann ich nicht dienen, meins hat gerade mal 25 auf dem Buckel. Tröstlich und hoffnungsvoll schau ich auf viele junge Menschen in meinem Freundeskreis (und da bilden die Mädchen und jungen Frauen eine rühmliche Mehrheit), die fremdsprachlich und musikalisch auf einer Höhe stehen, von der ich als junger Kerl nur geträumt habe. So, jetzt muss ich los und ein paar OP-Vorbereitungen mit meiner Ärztin besprechen. Gruß, Heinz |
04.04.2022, 14:34 | #5 |
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"Schluchtenscheißer" kannte ich noch nicht - nie zuvor gehört.
Aber egal. Ich weiß nur eins: Dass ich zu den "Krauts" gehöre, denen dieser politikgerechte Wahnsinn auf den Senkel geht. |
04.04.2022, 18:54 | #6 |
Möchte auch ein bisschen Senf dazu geben
Deine Gedankenfetzen, liebe Ilka-Maria, lösten etwas in mir aus: unvergessene Schwärmereien für die Stars in den 50er Jahren. Die Westfilme (auch aus dem westlichen Ausland) waren in der DDR seinerzeit sehr begehrt und ziemlich rar. Man brauchte mitunter Beziehungen, um eine Kinokarte zu erhaschen. Die Oma einer Schulkameradin war Platzanweiserin im Kino und somit…
Meine Eltern schwärmten immer von den Ufa-Stars, wie Marika Rökk, Zarah Leander, Rene Deltgen, Willy Birgel usw. und das hatte sich auf mich übertragen. Bibi Johns war nicht unbedingt mein Idol, aber ich schaute eben mal in meiner katalogisierten DVD-Sammlung nach. Die vier Filme, in denen sie mitwirkte, suche ich mir gleich heraus und wenn mal die „Flimmerkiste“ nichts Gescheites hergibt….? Als ich „Backfisch“ war, himmelten wir vor allem an: Vico Torriani, Caterina Valente, Peter Alexander, Sonja Ziemann, O.W. Fischer, Hardy Krüger, Maria Schell, Gerard Philippe, Danielle Darieux , Yves Montand, Simone Signoret, Jean Gabin, Gina Lollobrigida u.v.m. Und was die Sparsamkeit anbetrifft. Meine Mutter pflegte immer zu sagen: sparsam ist nicht geizig. Sehe ich auch so. Als Kriegs- und Nachkriegskind liegt es einfach in einem so drin, nicht alles so schnell wegzuwerfen. Unser Auto hat auch schon 24 Jahre auf dem Buckel, die Waschmaschine, Kühlschrank und Tiefkühltruhe halten seit 1998 tapfer durch. Man sollte es nicht glauben, aber zwischen meinem 10. und 20. Lebensjahr hatten wir nicht mal fließendes Wasser, mussten es von der Pumpe holen. Der Hausbesitzer war zu bequem oder zu geizig, sich das fehlende Teil zu beschaffen? Wenigstens den Ausguss konnte man benutzen. Eine Badewanne? Die gab es für mich erst ab 1961, als wir die Jugendherberge in Mannheim übernahmen – der reinste Luxus für mich. Urlaub? Den erstem konnten wir erst 1986 - nach unserem 27. Hochzeitstag - machen, nur einmal im Jahr. Im Rentenalter waren es dann auch mal 2-3 Kurzreisen. Seit 2007 Reisen, bedingt durch die Krankheiten meines Mannes, nicht mehr möglich. Also, ich würde von mir behaupten: bescheiden aufgewachsen und es auch geblieben. Ein luxuriöses Leben hätte ich nie gebraucht und auch nicht gewollt. Aber eigentlich waren die Urlaube ja auch irgendwie Luxus (eher wohlverdient)? Inka sagt Danke für die Denkanstöße |
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04.04.2022, 19:40 | #7 | |
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Zitat:
Aber ich bin meinen Eltern unendlich dankbar, das sie meinem Aufbegehren stattgaben und mir den Kinderhort, den ich eine Zeitlang nach der Schule besuchen musste, erließen. Ich war zehn Jahre alt, bekam einen Schlüssel um den Hals und hatte meine Freiheit! Und meine Eltern sparten das Geld für den Hort. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Deshalb kann ich keine Stellung beziehen, wie die 60er aus heutiger Sicht wahrgenommen werden. Man hat ja alles, wirklich alles, und fühlt sich heute eher von diesem "alles" beherrscht und heimgesucht. Wer kein Smartphone und keine fahrbaren Unterbau hat, ist kein Mensch. Wir besuchten damals einander und gingen lange Strecken zu Fuß. Wer zu Besuch kam, war halt da; und wer ein Ziel hatte, kam irgendwann an. Urlaub? Das hieß, morgens um drei Uhr an der Bahn zu sein, um sieben Uhr auf den Bus umzusteigen und um acht Uhr in einem bayerischen Kaff anzukommen. Wenn einem auf der Reise schlecht wurde, konnte er noch auf die Außenplattform des Waggons treten, dort, wo so ein Waggon angekuppelt war. Das war noch richtig abenteuerlich. Heute kann man nicht einmal mehr die Fenster runterlassen, wenn man frische Luft braucht. Jeder muss selber beurteilen, wie er die Zeitenwenden beurteilt. Mir ging es früher gut, und es geht mir heute gut, aber anders gut als damals. Ich habe gestern eine Doku gesehen zum Thema: "War früher alles besser?" Dabei kam heraus: Njein. Vieles wird falsch wahrgenommen und war nicht beser, nur anders. Besser war jedoch der Zusammenhalt der Menschen, sowohl in Ost- wie in Westdeutschland. Zum Beispiel ging einem Ort in Schleswig-Holstein die Manpower für die freiwillige Feuerwehr aus, so dass man Anwohner zwangsverpflichten musste. Dabei war es früher ein ungeschriebenes Gesetz gewesen, dass sich bei einem Brand das ganze Dorf unaufgefordert auf die Beine machte! Doch, einige Dinge waren früher besser. |
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05.04.2022, 06:38 | #8 | |
Zitat:
Nein, von meinen Eltern habe ich das niemals gehört. |
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05.04.2022, 07:33 | #9 |
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Kommt darauf an, wo man aufwuchs und welchen Leuten man zuhörte. Das waren nicht nur die Eltern. Bei mir waren es die 50er Jahre, da saß der Schock des Krieges noch tief, überall waren Trümmer, und ich spielte mit den Kindern im Flüchtlingslager der Stadt, das in direkter Nähe unserer Wohnung lag. Als Kriegsverlierer und Flüchtling sprache niemand freundlich über die Menschen anderer Nationen. Meine 93jährige Mutter würde sich nie von einer Polin pflegen lassen, weil polnische Soldaten ihre Tante mutwillig töteten, und die Mutter meines Lebensgefährten, die mit der Familie durch die Wälder nach Westen floh und überall die gehenkten deutschen Zivilisten sah, hasste die Tschechen bis zu ihrem Tod. So sieht das aus, was ein Krieg anrichtet. Deshalb wird die Wunde, die Putin jetzt völlig unnötig schlägt, in hundert Generationen nicht heilen. Aber ihm sind die Menschen ja ohnehin völlig egal.
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