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25.03.2020, 17:47 | #1 |
Er, der immer kommt, ist nicht da.
Er, der immer kommt, ist heute nicht da. Seinen Namen weiß ich nicht. Aber er kennt meinen, und wenn er mich ansieht, ist etwas in seinen Augen, das mich an Sommerträume denken lässt, an warmen Wind auf der Haut.
Manchmal kann ich mit ihm hinaus. Er sagt stets nette Sachen: „Sieh doch die Hyazinthen. Die magst Du doch. In jedem Frühjahr hast Du kaum erwarten können, dass sie blühen.“ Die Blumen haben plötzlich wieder Namen und lächeln mir zu. Er hält manchmal meine Hand, obwohl ich ihn nicht kenne, und es fühlt sich nicht verkehrt an. Aber heute ist er nicht da. Wie soll ich nach ihm fragen ohne seinen Namen zu wissen? Er ist meistens geduldig und freundlich. Nur manchmal schaut er traurig. Vor allem, wenn ich „Sie“ zu ihm sage. Nun ja, er ist mir nun einmal nicht bekannt. Aber, was macht es schon, ein „Du“ zu verschenken, wenn damit Traurigkeit vertrieben werden kann. Wenn er mir beim Essen hilft, sagt er nur wenig. Er ist ganz konzentriert und behauptet nicht beständig „das schmeckt uns heute aber bestimmt gut“. Wenn ich etwas nicht mag, weiß er es meist schon, bevor ich etwas sage. Ich muss es dann nicht essen. Aber heute ist er nicht da. Die Frau in der gelben Bluse hilft heute beim Essen. Sie hat nicht so viel Geduld. Ob ich ihn wohl verärgert habe? Ich muss etwas falsch gemacht haben. Er ist immer gekommen, und heute ist er nicht da. |
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28.03.2020, 13:42 | #2 |
Hallo AlteLyrikerin,
diese berührende Geschichte habe ich gerne gelesen. Ob es wohl so ist bei Demenz - die Betroffenen wissen zwar nicht mehr, wer derjenige aus dem früheren Leben ist (hier ist es wohl der Ehemann), wissen aber, dass es derselbe Mensch ist, der gestern auch da war? Auch die aktuelle Lage hast du gut eingefangen: wegen der Corona-Krise darf kein Besuch mehr ins Altenheim. LG DieSilbermöwe |
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28.03.2020, 13:49 | #3 |
Liebe Silbermöwe,
herzlichen Dank für Deine Rückmeldung. Die kleine Geschichte habe dich berührt, schreibst Du. Danke dafür. Du hast aber auch, zu recht, auf die Schwachstelle hingewiesen. Ist es plausibel, dass ein hochgradig dementer Mensch bemerken kann, dass da jeden Tag jemand da ist, immer derselbe? Dass da jemand ist, der gut tut, und dass der dann fehlt, dass ist, so denke ich, schon plausibel. An dieser Stelle werde ich wohl noch nach einer anderen Lösung suchen müssen. Aber dass die Besuche vermisst werden und Schmerz darüber entsteht, da bin ich mir sicher. Herzliche Grüße, AlteLyrikerin. |
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28.03.2020, 14:24 | #4 |
Forumsleitung
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Sehr schön, AlteLyrikerin! Inhaltlich überzeugend, feiner Stil und in wenigen Sätzen viel erzählt.
Ich bin auch vom Besuchsverbot betroffen. LG Ilka |
28.03.2020, 15:00 | #5 |
Liebe Ilka-Maria,
herzlichen Dank für Deine Rückmeldung. Ja, wenn du auch betroffen bist, dann wünsche ich Dir, dass du gut über diese schwierige Zeit hinweg kommst. Liebe Grüße, AlteLyrikerin. |
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29.03.2020, 13:14 | #6 |
Hallo AlteLyrikerin,
mir gefällt die Geschichte sehr gut. Ich finde sie sehr dicht und stimmig. Die angesprochene "Schwachstelle" empfinde ich nicht als solche. Mir kam schon früh eine recht konkrete Ahnung, worum es geht und ich fand diese Ahnung bei ihrem Reifen gut getragen. Es kommt in meinen Augen auch bei der "Stimmigkeit" eines Textes nicht darauf an, ob es genau so gewesen ist, oder ob, wie in diesem Fall, der Verlauf einer Krankheit in der Regel genau so erfolgt. Wichtig ist, ob ich mir den Verlauf vorstellen kann, ob er plausibel erscheint, und das ist - was mich angeht - auf jeden Fall bei deinem Text gegeben. Wir können vermutlich alle nicht ermessen, was Demenz als selbst Betroffene bedeutet. Mir erscheint es logisch, dass jeder Verlauf einzigartig ist, also jeder auch etwas anders ausgeprägt. Warum sollte es nicht auch genau in der von dir beschriebenen Form verlaufen können? Lange Rede, kurzer Sinn: Meine Phantasie trägt die Geschichte von vorne bis hinten. Danke für diesen gelungenen Text. Freundliche Grüße von Stachel |
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29.03.2020, 15:55 | #7 |
abgemeldet
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hallo AL -
besonders feine erzählung. kann mich den anderen nur 100pro anschliesseen. Viele liebe Grüße! r |
29.03.2020, 16:46 | #8 |
Hallo Stachel,
herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Ja, es mag wohl so sein, dass etwas stimmig sein kann, ohne im Katalog einer medizinischen Beschreibung genau so vorzukommen. Lieber Ralfchen, es freut mich sehr, dass diese Momentaufnahme Dir gefallen hat. Gelegentlich denke ich darüber nach, meine jahrelangen Beobachtungen in Pflegeheimen zu einer größeren Erzählung zusammen zu fassen. Lauter Puzzlestücke, Einzelschicksale in Momentaufnahmen, die am selben Ort vereinigt sind. So etwas wie "Menschen im Hotel", nur halt im Pflegeheim. Euch beiden herzliche Grüße, AlteLyrikerin. |
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29.03.2020, 17:34 | #9 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Ich fände das wirklich klasse. Vor Jahren hatte mal ein Autor ein Buch geschrieben, der längere Zeit undercover in einem Pflegeheim arbeitete - seine Berichte waren einfach nur grauenhaft. Ich bin sicher, in den Heimen hat sich vieles zum Besseren geändert, schon deshalb wäre deine Sichtweise interessant. |
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29.03.2020, 17:48 | #10 |
Danke, Ilka-Maria,
für Deine Ermutigung. Da stehen dann aber auch intensive Recherchen an, denn wenn auch das meiste aus beobachtetem Material genommen sein wird, kommen sicherlich auch erfundene Szenarien dazu. Das Material muss dann stimmig sein. Herzliche Grüße, AlteLyrikerin. |
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29.03.2020, 18:11 | #11 |
Forumsleitung
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Da kommt kein Autor daran vorbei, egal worüber er schreibt. Ich habe mittlerweile vier Projekte fertiggstellt und möchte nicht mehr darüber nachdenken, wieviele Tage und Wochen ich allein mit Recherche verbracht habe.
Aber es gibt auch eine großartige Seite: Es ist spannend, man lernt eine Menge, und man bekommt "Aha"-Effekte. Vorsicht! Es kann zur Sucht werden. |
29.03.2020, 23:40 | #12 |
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879
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Liebe AlteLyrikerin,
bei den Lobspendern möchte ich gern dabei sein. "Schön" ist die kurze Geschichte nicht, aber sie ist gut und einfühlsam geschrieben. Liebe Grüße, Heinz |
30.03.2020, 10:23 | #13 |
Liebe Ilka-Maria,
ja, ohne Recherchen geht gar nichts. Ein großes Vorbild war mir in dieser Hinsicht Thomas Mann. Für seinen Protagonisten Adrian Leverkühn, einen Konponisten, hat er sich .monatelang mit Musiktheorie auseinandergesetzt und darüber u.a. Theodor Adorno Löcher in den Bauch gefragt. Nun ich denke, es braucht schon viel um mich süchtig zu machen. Lieber Heinz, auch Dir Danke für die freundliche Rückmeldung. Herzliche Grüße an Euch beide, AlteLyrikerin. |
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