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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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02.08.2017, 13:30 | #1 |
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Als der Strohhalm noch echt war
Häusertrümmer und Berge von Schutt,
Brücken gesprengt und Gleise kaputt, zupacken, um sich selbst zu belohnen: Wie denn sonst soll man anständig wohnen? Männer mit Beinstumpf und halbem Arm Witwen voll Tatkraft, doch ohne Charme Goldlöffel für Prinzessen und Prinzen, Sahnetörtchen statt Eintopf mit Linsen, Ausstand für zwei, drei Pfennige mehr (schließlich ist man ja längst wieder wer), erstes Auto gebraucht und auf Raten und nur Sonntags ein knuspriger Braten, Petticoat unter schwingendem Rock, Plastikteller auf eierndem Stock, Hulahoops, die nach links und rechts kreisen, Haartürme nach des Figaros Weisen, Wald-Wiesen-Kino mit Wildwasserbach, Sissy im Herzen, Curd Jürgens spielt Schach, Horst singt vom Tango um Mitternacht während Fred heiter das Wandern belacht, Elvis zur Klampfe die Sex-Hüften rockt Frankie die Jugend zur Milchbar hinlockt, die beim Saugen an echten Halmen sinnt: Cola ist spitze - das Leben beginnt! 2. August 2017 |
03.08.2017, 17:11 | #2 |
Hallo Ilka - das Thema deines Werkes kommt mir sehr bekannt vor - wie ein Bild aus meiner Jugend. Ich entnehme daraus, dass du weiter westlich aufgewachsen bist als ich, wir hatten im Osten die gleichen Träume und Probleme wie ihr, auch wenn die Partei anderer Meinung war. Elvis war mein Idol, später die Beatles, auch wenn wir kein Westfernsehen gucken durften. Wir taten es trotzdem - wer es nicht tat - selber schuld.
Eine sehr schöne Rückblende in die Jugendzeit LG. RoHe |
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03.08.2017, 17:57 | #3 |
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In den Augen der Jugend war es eine schöne Zeit, nicht nur die 50er, auch die 60er Jahre. Aber insgesamt gesehen gab es auch viele Schattenseiten. Vor allem war die Gesellschaft sehr prüde und verklemmt, die Erziehung war streng, und im Beruf wie auch in der Schule wurde einem viel abverlang. Am Schlimmsten jedoch war das Totschweigen, der Verzicht auf Gedenktafeln, das Nichtnennen von Namen usw. - selbst dann noch, als Eichmanns Prozess täglich im Fernsehen verfolgt wurde. Als erstmals Filme ins Fernsehen kamen, die zeigten, wie man mit Baggern die Berge verhungerter Leichen aus den KZs schaffte, war das Entsetzen groß, vor allem bei uns Jugendlichen, die sich so etwas nicht vorstellen konnten. Niemand brauchte sich zu wundern, dass die nachfolgenden Generationen schließlich auf die Barrikaden gingen und die Aufarbeitung der Nazi-Zeit vorantrieben.
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03.08.2017, 19:08 | #4 |
Hallo Leute! Nachdem ich hier seit Jahren nicht mehr aktiv war, versuche ich es mal wieder.
Zum Gedicht: Vordergründig scheint mir hier eine Idylle beschrieben worden zu sein, aber die Überschrift und der Schluss des Gedichts lassen auf eine Enttäuschung schließen. Einen Strohhalm wird einem nur gereicht, wenn man in Not ist. Zuerst scheint mir damit das Elend des Krieges gemeint zu sein. Daraus erwächst dann ein gewisser Wohlstand, einhergehend mit relativer, allgemeiner Zufriedenheit. Dieses: Friede-Freude-Eierkuchen-Gefühl währt aber nicht ewig. Was währt schon ewig? Dazu passt, dass diese Idylle aus der Rückschau betrachtet wird. Man ist älter geworden, die Jugend ist vorbei und es beginnt eine andere Art von Not: die des Alters. Einen Unterschied gibt es aber: Für diese Alters-Not gibt es keinen Strohhalm. Kann es auch nicht geben, da wir alle sterben müssen. Schön aber, wenn man eine erfüllte Jugend hatte. So könnte man die Haltung des Gedichts als zwiespältig bezeichnen: einerseits Glück und anderseits: Wehmut. Ich selbst empfinde das Alter nicht als tragisch. Es gehört zum Leben: Man wird geboren, man wird älter, man stirbt. Das ergeht jedem so. Wichtig aber ist, was jeder daraus macht. Wenn man am Ende auf ein erfülltes Leben zurückschauen kann, hat man wenigstens nicht umsonst gelebt. Das ist eine Lebensleistung, die man nicht unterschätzen darf. Bis dann! Wolfgang |
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03.08.2017, 20:46 | #5 |
Ich habe es so verstanden: Als der Trinkhalm noch aus Stroh war.
Gern gelesen, liebe Ilka. LG g |
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03.08.2017, 20:51 | #6 |
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Richtig erkannt, gummibaum. Fast genauso lautete meine erste Version der Überschrift.
@Wolfgang Schön, dass du wieder hereingeschaut hast. 2005 war ich noch nicht bei Poetry, wir treffen also zum ersten Mal aufeinander. Danke für die ausführliche Interpretation, ich selbst dachte beim Schreiben gar nicht an so viel Tiefgründiges. VG Ilka |
03.08.2017, 22:13 | #7 |
abgemeldet
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Strohalm hin, Strohhalm her. Für mich liest sich das Gedicht wie eine Zeitreise. Ein Filmchen über Jahrzehnte hat sich bei mir abgespielt.
Sehr gelungen, Ilka. LG Letreo |
05.08.2017, 11:03 | #8 |
Ja, gelungene...teils originelle Bilder, Ilka-Maria. Was die/deine Sprache als solche betrifft...da bin ich weniger überzeugt - liegt auf der einen Seite an der recht eigenwilligen Semantik (Witwen voll Tatkraft,....usw)...auf der anderen Seite am Paarreim und so mancher Inversion (letzte Strophe). Nichts gegen den Paareim als solchen, aber in dieser Kombination ist der Text dann doch eher für die Rubrik Humor geeignet.
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05.08.2017, 13:12 | #9 |
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Originell finde ich an meinen Versen nichts, eher skurril, wie eben manches in dieser Zeit war. Damals war es eine Unsitte , in normalen Kleidern zu putzen oder zu kochen, "frau" trug bei der Hausarbeit einen Kittel. Gebügelt wurden sogar Unterhosen und Frottee-Handtücher - das kann man heute gar nicht mehr glauben. Und von wegen Humor: Lustig war allenfalls eine Übertragung des Ohnsorg-Theaters im Fernsehen - der Alltag gewiss nicht.
Qualitativ hat mein Gedicht nicht viel zu bieten, das sehe ich genauso wie du. Darauf kam es mir in diesem Fall nicht an, es sollte wirklich nur eine Zeitreise sein, die obendrein oberflächlich ausgefallen ist. Ein Essay wäre wahrscheinlich besser geeignet gewesen, aber Prosa über die 50er Jahre ist bereits reichlich auf dem Markt. Allen Kommentatoren Dank für Eure Aufmerksamkeit. |
05.08.2017, 13:39 | #10 |
R.I.P.
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Wahrlich ein geglückter Streifzug durch die damalige Zeit - inclusive Elvis, the Pelvis.
Aber ich war Anfang der Fünfziger im Café, da wurde CocaCola (eisgekühlt) mit Kunststoffhalmen kredenzt. Halme aus richtigem Stroh sind mir nicht untergekommen. LG von Thing |
29.09.2017, 15:56 | #11 |
Liebe Ilka-Maria:
Wow, dass nenne ich mal eine gestochen scharfe Abhandlung der Nachkriegszeit bis hin zum Wirtschaftswunder. Wie schnell sie doch vergessen, die Menschen. Tolles Gedicht. Gruß Schreibfan |
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