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11.04.2015, 10:08 | #1 |
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Trügerischer Himmel
Benedikt Cranz hat kaum den Hörer aufgelegt und sich wieder der Tabellenkalkulation auf seinem Computerbildschirm zugewendet, als abermals das Telefon läutet. Knurrend nimmt er den Hörer ab. „Wenn das so weitergeht“, denkt er, „platzt meine Deadline.“ Ein Blick auf die Uhr: nur noch zwei Stunden. Er ist auf Abwehr gebürstet.
Auf dem Display erscheint das Gesicht seines Bosses, und augenblicklich entspannt sich Benedikt. Mit Alexander versteht er sich gut, und er kann jede Wette eingehen, dass ihm kein zusätzlicher Stress bevorsteht. „Alex?“ „Ben, kannst du mir aus der Patsche helfen und am Montag zu unseren Kollegen nach New York fliegen? Sie sollen einen Deal finanzieren, in den amerikanische, deutsche und französische Investoren eingebunden sind. Einen Kollegen in Paris haben wir schon dingfest gemacht, er arbeitet sich in das Projekt ein und wird ebenfalls am Montag anreisen. Die deutsche Seite sollte ich vertreten, aber mir ist ein Termin mit einem unserer Großkunden aufgedrückt worden, und deshalb dachte ich, ob du mich im Big Apple vertreten könntest.“ Pause. In Benedikts Schläfen beginnt es zu hämmern: Was für eine Chance! Er ist erst siebenundzwanzig, ein Greenhorn in diesem harten Geschäft, und soll für seinen Boss in einer großen Transaktion in der aufregendsten Stadt der westlichen Welt auftreten. Er kann sein Glück kaum fassen. Seine Stimme ist gepaart von Zustimmung und Skepsis: „Wenn du mir das zutraust … ja, warum nicht. Aber ich brauche Informationen.“ „Die bekommst Du, Ben, wir treffen uns um vier bei mir im Büro. Bis dahin hat Katrin alle Unterlagen parat. Du musst am Wochenende nur wenige Stunden opfern, um dich in die Grundlagen einzulesen, den Großteil kannst du im Flugzeug durcharbeiten. Den Rest besprichst du am Nachmittag mit den Kollegen im New York Office. Reisebuchung, Unterkunft, das alles wird von Katrin erledigt. Du brauchst nur deinen Koffer zu packen und daran zu denken, die Krawatte und die Zahnbürste nicht zu vergessen.“ „Ich bin sicher, dass ich das schaffe.“ Nach Feierabend kauft sich Benedikt eine Flasche Champagner, stößt vor dem Badezimmerspiegel mit sich selbst an und malt mit dem zurückgelassenen Lippenstift seiner letzten Flamme den Satz „Ben, du bist ein Goldkind“ über sein Spiegelbild. Dann taucht er in die Unterlagen ab, die ihm Katrin kurz vor Feierabend in die Hände gedrückt hat. Im Flugzeug geht er die Dokumentation minutiös durch, bis er das Projekt von A bis Z kennt und von den verschiedenen Verhandlungsseiten ein klares Bild hat. Er landet ohne Verspätung und findet sich zum vereinbarten Termin bei den Kollegen in einem Bürogebäude am Südrand des Central Park ein. Der nächste Morgen ist ein strahlender Septembertag, überdacht von einem makellos blauen Himmel. In der Liberty Street angekommen, bezahlt Benedikt den Taxifahrer, nimmt seine Aktentasche, klemmt sich die New York Times unter den Arm und macht sich auf den Weg zur World Trade Center Plaza. Er hat noch eine Stunde Zeit bis zum Meeting, kann also noch bequem frühstücken und die Zeitung lesen. Es ist 8.30 Uhr, als er die Halle des Nordturms betritt und zu den Aufzügen geht, um sich nach oben ins Restaurant „Windows on the World“ bringen zu lassen. Die Aussicht sei atemberaubend, hat ihm der Taxifahrer gesagt, und zu seinem Treffpunkt brauche er nur einige Etagen nach unten zu fahren, komfortabler gehe es nicht. Frankfurt, 15 Uhr. Alexander Westphal sitzt schweißnass im großen Konferenzsaal, umringt von seinen Mitarbeitern, die ungläubig auf den Monitor des Fernsehgeräts starren. Zum wiederholten Male tippt er Benedikts Kurzwahl in sein Handy ein. „Komm, mein Junge, melde dich endlich ...!“ Katrin versucht ihn zu beruhigen. „Sein Termin wäre erst um 9.30 Uhr gewesen, er wird gar nicht mehr bis Down Town durchgekommen sein.“ Ihre Worte dringen nicht zu ihm. Er weiß es längst besser: kein Freizeichen, kein Anrufbeantworter, nichts. Trotzdem tippt er weiter, tippt daneben, flucht und hämmert nochmals die Kurzwahl ein. „Verdammt, antworte mir!“ Die Leitung bleibt erbarmungslos stumm. 11. April 2015 © Ilka-Maria Die Geschichte ist Lara und ihrem Gedicht gewidmet. Sie gilt aber auch dem Andenken an den jungen Sebastian Como, Angestellter einer großen Bank in Frankfurt, der am 11.09.2001 für einen verhinderten Kollegen einen Termin im WTC wahrnahm, von dem er nicht mehr zurückkehrte. Der SPIEGEL hatte über ihn berichtet, ich las die Todesanzeige in der FAZ. Geändert von Ilka-Maria (11.04.2015 um 14:14 Uhr) |
11.04.2015, 11:35 | #2 |
R.I.P.
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Liebe Ilka-Maria -
Sehr bedrückend.
Dieses eine (wahre) Schicksal als beinahe pars pro toto zum Inhalt einer Kurzgeschichte zu machen, macht betroffener als es eine Gesamtschau (mit Zahlen) vermocht hätte. Alles ist noch so frisch im Gedächtnis. Wie immer: Aufbau, Diktion und Unaufgeregtheit vom Besten! Lieben Gruß von Thing |
11.04.2015, 13:45 | #3 |
Dabei seit: 11/2005
Ort: Nördliche Hemisphäre
Alter: 55
Beiträge: 438
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Hallo Ilka-Maria,
die Geschichte führt den Leser langsam an das bittere Ende heran. Diese "Innensicht" eines der Opfer bringt diese Katastrophe noch viel näher an zum Leser, als es bereits die Fernsehbilder taten. Es ist immer wieder unfassbar, zu was Menschen fähig sind. Danke fürs Einstellen. Gruß, Sylvester |
11.04.2015, 14:09 | #4 |
Forumsleitung
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Ja, Sylvester. Und trotzdem zeigen gerade solche Katastrophen auch die wunderbaren Seiten des Menschen auf.
Da gibt es z.B. die Situation, dass ein Geschäftsmann sich nicht auf die Durchsagen verließ, ruhig zu bleiben, denn es handele sich nur um einen Unfall, sondern den Gang durch das Treppenhaus nach unten antrat, ganz seinem Baugefühl folgend. Aber nicht in Windeseile, sondern ganz normal. Er wusste ja nicht, was wirklich passiert war. Wie er später berichtete, brauchte er bis auf die Straße etwa 40 Minuten. Kurz nachdem er draußen war, brach der Turm zusammen. Dann gab es noch die Frau im Rollstuhl, die von einigen Männern getragen wurde, wobei sie mehrmals das Treppenhaus wechseln mussten, je nach Rauchentwicklung. Sie hätten sich selbst schneller retten können, aber sie schleppten die Frau samt Rollstuhl nach unten und schafften es rechtzeitig. Tatsache ist, dass die vielen tausend Menschen an diesem Morgen nicht allein wegen der Flugzeugeinschläge ums Leben kamen, sondern wegen der besonderen - und eigentlich genialen - Architektur der Zwillingstürme. Aber das führt zu sehr ins Detail. Wer sich sich dafür interessiert, findet genügend Stoff im Internet. LG Ilka |
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