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22.03.2014, 12:32 | #1 |
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Annette (Nettie) und die Angst
Nettie war ein lebensbejahender Mensch. Sie lebte im Hier und Heute, die Vergangenheit war ihr egal und die Zukunft wurst. Wenn sie ausnahmsweise mal nicht gut drauf war, warnte sie ihr Umfeld, indem sie sagte: „Ich bin heute nicht gut drauf, blast mich einfach nicht an.“ Einen Tag später war sie wieder die Alte.
Alle erlebten Nettie als einen harmonischen Menschen, fast immer gut gelaunt, tatkräftig, hilfsbereit und für die Sorgen ihrer Mitmenschen rund um die Uhr offen. Dann kam der Tag, an dem sie zusammenbrach. Sie begann Blut und Wasser zu schwitzen und konnte ihren Körper nicht mehr beherrschen. Nachdem sie mich angerufen hatte – ich stand gerade mit gewaschenen Haaren im Badezimmer -, band ich mir ein Handtuch um den Kopf und eilte zu ihr. Ich hätte zu Fuß vier Minuten gebraucht, nahm aber das Auto, das waren zwei Minuten weniger. Nachdem sie mir aufgemacht hatte, musste sie sich hinlegen. Sie zitterte am ganzen Leib und versuchte, mir zu erklären, was in ihr vorging. Es gelang ihr nicht. Die Angst, die von ihr Besitz ergriffen hatte, vermittelte sich mir nicht. Wie sollte sie mir auch verständlich machen, was sie selbst nicht begriff? Die Hilferufe kamen regelmäßig. Ich saß bei Nettie und wusste nicht, wie ich ihr hätte helfen können, denn ihre Angst hatte sich dermaßen gesteigert, dass sie auch außerhalb der Attacken Angst hatte, nämlich die Angst vor der Angst. Ihr Hausarzt überwies sie an einen Therapeuten. Nachdem dieser von ihr gefordert hatte, sich bis zur Nacktheit auszuziehen, verließ sie die Sprechstunde und ging nicht wieder hin. Stattdessen rief sie weiterhin mich an, wenn es ihr schlecht ging, oder ihren Mann, der dann nach Hause eilte und nahe daran war, deswegen seinen Job zu verlieren. Zwei Jahre hielt das Drama an, bis Nettie beschloss, ihr Leben zu ändern. Sie zog mit ihrer Familie weg, nahm Kontakt zu einem Künstlerkreis auf und begann zu malen. Wenn die Angst nicht überwunden werden kann, kann man nur versuchen, sie hinter sich zu lassen. Sie starb mit dreiundfünfzig Jahren an Lungenkrebs, was nicht verwundert, denn mit dem Rauchen hatte sie bereits als Teenager im ganz unteren Segment begonnen. Vor dem Sterben hatte sie aber – und das ist kurios – nicht eine Sekunde lang Angst. 22. März 2014 © Ilka-Maria |
22.03.2014, 13:08 | #2 |
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22.03.2014, 13:36 | #3 |
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Das stimmt nicht. Sie hatte keine Angst vor dem Leben. Das Gegenteil ist der Fall. Sie war tatkräftig, sozial kompetent, packte überall an und hatte, obwohl sie den Kampf gegen den Krebs zu verlieren wusste, noch kurz vor ihrem Tod die Hochzeit ihres jüngeren Sohnes organisiert.
Sie fand nie heraus, woher die Angst kam und wovor genau sie Angst hatte. Es war einfach eine unbestimmte Panik, die von ihr in Intervallen Besitz ergriff. Unrational und unbeeinflussbar. |
22.03.2014, 14:24 | #4 | |
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Zitat:
wenn man angst hat, hat man vor allem angst, ja, das ist völlig irrational, und irgendwann hat man nur mehr angst, vor der angst selbst. eine art flucht, vor dem was hinter der angst steckt, DAMIT es eben nicht mehr mit dem verstand erfassbar ist? die ärzte haben bestimmt eine rationale erklärung dafür: sie findes vielleicht etwas im köper oder gehirn, was durcheinander geraten ist. aber was hat die "unordnung" verursacht? den krebs? wirklich das rauchen? warum musste sie sich selbstzerstörerisch an den glimmstengeln festhalten? und warum hatte sie keine angst vor dem tod? letztlich ist es immer eine angst vor dem leben. vor was sollte man sich sonst fürchten? selbst wenn man sich "nur" vor dem tod fürchtet, ist es eine solche angst, denn der tod ist teil des leben!? die angst vor den "kleinen toden", die das leben zwangsläufig mit sich bringt, ist die kleine schwester der angst vor der endgültigen auslöschung. diese schwestern können manchmal aber auch die rollen tauschen. so jetzt reichts, genug sinneirt über unsere unauslotbaren abgründe. ich geh raus in die heilende natur! schönen tag noch! shoshin |
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22.03.2014, 14:34 | #5 |
Forumsleitung
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Nein, sie hatte keine Angst vor dem Tod, mit dem Tod wäre sie ja all ihre Sorgen los gewesen. Sie fand vielmehr dieses Gefühl der überwältigenden Angst nicht ertragbar, weil es sie völlig funktionsuntüchtig machte. Es war der totale Kontrollverlust, aber im Gegensatz zu einem Suchtkranken, der sich im Rausch befindet, war sie sich ihres Zustandes voll bewusst. Es ist eine hellwach empfundene Ohnmacht, die wehrlos und verletzbar macht. Eine Verbindung ist nicht herleitbar, es hat weder mit der Einstellung zum Leben noch mit der Einstellung zum Tod zu tun.
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22.03.2014, 14:46 | #6 |
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23.03.2014, 01:28 | #7 |
Hallo Ilka-Maria,
mich hat Dein Text erstmal eine Weile sprachlos zurückgelassen. Dein Schreibstil ist schön, Du malst Bilder, lässt den Leser mitfühlen. Viel bedeutender finde ich allerdings dem Inhalt. Die Protagonistin hatte unkontrollierbare und unüberschaubare Angst, und nicht mal ein Therapeut half ihr. Nur die Kunst war eine Art Therapie für sie. Als der Tod sie holte, hatte sie allerdings keine Angst. Vielleicht, weil sie wusste, dass die Angst vor der Angst nicht mehr da wäre? Traurig, aber vielleicht, wenn man gläubig ist, eine Art Erlösung. Beeindruckt, Jana |
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23.03.2014, 06:59 | #8 |
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Es war viel einfacher: Für Annette war nur das Heute und Jetzt wichtig. Was für die kommenden Tage geplant war, sah sie nicht als Realität an, denn sie lebte mit all ihren Sinnen ausschließlich in der Gegenwart. Ihrem Mann zufolge hat sie in ihrer Todesstunde nicht gelitten, sondern ist in friedlichem Schlaf gestorben.
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