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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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21.02.2011, 20:50 | #34 |
Forumsleitung
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Kann man das verallgemeinern? Ich fand Klassik klasse, verleidet wurde mir aber die Theorie, vor allem war mir das Lernen von Notenlesen und -schreiben zuwider.
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22.02.2011, 00:48 | #35 |
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879
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Bildungssystem
Ich will mal ein bisschen von meiner Erfahrung gucken lassen. Ich war längere Zeit beauftragt, aus hundert oder mehr Bewerbungen etwa zehn heraus zu filtern, deren SchreiberInnen dann zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurden (5 Lehrstellen galt es zu besetzen). Die Bewerbungen strotzten von Fehlern, auf telefonische Erkundigungen hin erfuhr ich von etwa 15%, dass die BewerberInnen gar nicht wussten, dass sie sich bei gerade dieser Firma beworben haben. In der Ausschreibung stand, dass besonderer Wert auf Mathematik, Physik und räumliches Vorstellungsvermögen gelegt wurde. Bei etwa 30% der Bewerbungen wraen die Mathematik- und Physiknoten bei ausreichend und schlechter.
Zweites Beispiel: Eine Firma in einer Kreisstadt wollte einen Schwerbehinderten einstellen. Dafür gab es zwei Gründe: Die Firma wäre durch Minimierung der Abgaben und durch Zuschüsse beinahe kostenlos an eine Arbeitskraft gekommen, zum anderen war ich mit dem Geschäftsführer befreundet und konnte ihn zu einer sozialen/humanen Tat anstiften. Resultat: Trotz Einschaltung des Behindertenverbandes, der Caritas und der Diakonie - kein einziger Schwerbehinderter wollte die Stelle antreten. Drittes Beispiel: In meiner unmittelbaren Nähe gibt es eine junge Dame, ca. siebzehneinhalb. Bisherige Tätigkeit - nichts. Anzahl der bewerbungen: 0. Rettung versprach das Jugendamt in Zusammenarbeit mit der Arbeitsagentur. Die Wartezeit (bis eine Stelle frei wird) verbringt die junge Dame täglich dfamit, sich im Internet über die Anforderungen des ausgewählten Berufsfeldes zu unterrichten, äh, Entschuldigung, jetzt habe ich gelogen. Die junge Dame sitzt zwar vor dem PC, aber da spielt sie irgendwelche Daddelspiele. Der Tagesablauf, und das glaube ich den Eltern: Schlafen bis 14.30 Uhr, aufstehen und Standortwechsel Richtung WohnzimCDPouch, Fernsehen an bis alle Unterschichtserien gelaufen sind. Flucht von der Glotze vor den Monitor des PC, Anschließend TV bis ein-zwei Uhr. Dann erschöpft ins Bett. Hilfe im Haushalt: Fehlanzeige. Gang an die frische Luft: dto. Belauschte Unterhaltung mit einer gleichaltrigen nachbarin: Scheißleben, der Staat tut keinen Handschlag für mich. Ein Einzelfall, gewiss. Die oben geschilderten Bewerbungs- und Bildungskatastrophen entsprechen der Realität. Positive Beispiele: Ich kenne zwei Dutzend junge Künstlerinnen (Gesang, Klavier, Geige, Viola, Cello, Klarinette, klassische Gitarre), die meisten davon aus Kirgistan, Korea, Japan, Russland, Armenien, Ukraine. Beworben haben sie sich an der Hochschule für Theater und Musik in Rostock. Tägliches (!) Übungspensum neben dem Studium ca. 4 - 6 Stunden inkl. Samstag und Sonntag. Deutschkurse zusätzlich (mit dem Ergebnis, dass sie alle nach einem halben Jahr keine Verständnisschwierigkeiten, nach einem Jahr so gut wie perfekt unsere Sprache beherrschen. Derartige positive Beispiele gibt es auch bei unseren deutschen Kindern (aber die hört man auch nicht jammern, dafür haben die nämlich gar keine Zeit). Heinz |
22.02.2011, 11:10 | #36 |
abgemeldet
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Ohne meinen Deutschunterricht in Mittel- und Oberstufe und ohne den Musik- und Kunstunterricht wäre ich heute nicht der kunst-, musik- und literatur-interessierte (um nicht zu sagen: -besessene!) Mensch, der ich geworden bin. Ich verdanke diesem Unterricht nicht nur meine Liebe zu meinem Beruf, sondern in gewisser Weise damit auch meine Frau und den grössten Teil meiner Freunde, die ähnliche "Besessenheiten" pflegen.
P. |
22.02.2011, 11:40 | #37 |
R.I.P.
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Heinz und PeterB:
Mir aus dem Herzen geschrieben. Welch armselige Kreatur wäre ich ohne eine gewisse Bildung geblieben! |
22.02.2011, 11:55 | #38 |
Forumsleitung
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Das geht mir zwar genauso, allerdings habe ich "goldene" Zeiten erlebt, was Schul- und Berufsausbildung angeht - aber wie lange ist das schon her!
Ob man sich gerne bilden läßt oder wie ich sich weiterhin ein Leben lang autodidaktisch weiterbildet, ist eine Sache; es ist aber eine andere Sache und leider eine Tatsache, daß unser Bildungssystem seit über 30 Jahren den Bach runtergeht und die Ausbildung- und Berufsperspektiven für die jungen Leute sich drastisch verschlechtert haben. Es ist den Verantwortlichen in der Wirtschaft nicht zu verdenken, daß sie nur noch Zeitarbeitsverträge abschließen, da diese vom Staat bezuschußt werden. Folgerichtig werden diese Verträge nicht verlängert, sondern durch Neueinstellungen auf Zeit wird weiterhin der Staat abkassiert. Dasselbe will man jetzt mit Lehrstellen machen: Der Staat übernimmt 50 Prozent der Kosten für eine Lehrstelle. Fazit: Der Ausgelernte wird später nicht übernommen, sondern der nächste bezuschußte Lehrling eingestellt, der Ausgelernte bleibt im schlimmsten Falle arbeitslos. Es geht längst nicht mehr um gute Ausbildung und das Heranziehen einer kompetenten "Workforce", sondern um billige Arbeitskräfte und Profitmaximierung. Wer nähme nicht solche Geschenke an in einer Zeit des steigenden Konkurrenzdrucks? |
22.02.2011, 12:52 | #39 | |
abgemeldet
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Zitat:
P. |
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22.02.2011, 14:01 | #40 |
abgemeldet
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11.03.2011, 22:22 | #41 | ||
Zitat:
Da fühle ich mich mit meinem etwas schrägen (?) Lebenslauf nicht so allein: bei mir auch (Fach)abitur erst später nachgeholt (zuerst nicht geschafft wegen psychischer Krankheit), danach lange studiert, trotzdem abgebrochen (fehlende Gesundheit, Finanzen, Motivation etc.) und gleich zwangsweise ins Hartz4 reingerutscht mitsamt 1-Euro-Job und zweijähriger Umschulung, weil ich meinen ertragsarmen Nachhilfejob nicht aufgeben wollte. Diese 3 Jahre waren bei mir entgegen so manchen Klischees die aktivste Zeit (Schreiben als Hobby, Lernen für abschlussprüfungen etc. neben dem normalen Aufstehen in der Früh und Vollzeittag) und sonst in vielen Belangen die "fetteste" Zeit, auch finanziell (aber natürlich nicht durch die genannten privatvergnüglichen Aktivitäten, und freilich relativ, verglichen v.a. mit Studentenzeit...) Jetzt wo ausgelernt und den lange vor sich hingeschobenen Berufseinstieg vor Augen, kann man wieder anfangen, sich langsam ans Hungern zu gewöhnen... Aber Abwandern ist m.E. nicht immer das Tolle. Habe das in einer anderen Form alles hinter mir: nach 18 Jahren in Dtld immer noch nicht hier "angekommen" und die alte Heimat ist auch schon lange keine Heimat in dem Sinne mehr. Am Anfang ist man vom Freiheitsgedanken erfüllt, überall auf der Welt zu Hause zu sein. Das Tückische ist, dass der Spieß sich erst Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte später, umdrehen kann: Dann fühlt man sich nämlich überall auf der Welt als Fremder. Würde ein Königreich dafür geben, um die zwei Pferde, die einen innerlich in entgegengesetzte Richtungen zerreißen, loszuwerden. Zitat:
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12.03.2011, 16:05 | #42 |
Das Problem ist, dass sich hier zwei Faktoren treffen.
Zum Einen ist die neoliberale Arbeitsmarktgestaltung bestens dazu angetan, auch bestens qualifizierte Kräfte in einer Art Schuldsklaverei gefangenzuhalten (den Begriff halte ich nicht für übertrieben), andererseits betrifft dieser Zustand eine Generation, die beste Aussichten, endlose Möglichkeiten und blühende Landschaften versprochen bekam. Der Dicke, die Angie, die Globalisierung und die absichtlich in den Dreck gefahrenen Karren Arbeitsmarkt und Wiedervereinigung treffen eine Gesellschaft an einem schwachen Punkt. Die orientierungslosen luxusgewöhnten Selbstverwirklicher sind in einer Schockstarre gefangen, während außen herum alles anders zu sein scheint: Verzicht gewohnte, disziplinierte, knallhart arbeitende und hochmotivierte Osteuropäer strömen hinein, Hochqualifizierte strömen hinaus, dazwischen das unflexible Mittelmaß, das sich in seiner Schockstarre nicht wegbewegen will: Arbeitgeber müssen lernen, dass sie in Zukunft wieder nach Mitarbeitern suchen und sich um sie bewerben müssen, Arbeitnehmer und Staat müssen endlich lernen, Qualifikation und Kompetenz als strikt zu trennende Begriffe zu begreifen. Und was schiefe Biografien angeht oder die Frage, wozu man sich im Bildungsbereich anstrengen soll: Nach diversen Studiengängen in Sprach- und Literaturwissenschaften, Geschichte und Politologie bin ich hinter der Bar gelandet und bereue weder Studium noch gastronomische Selbstständigkeit. Eine wirre Zeit birgt stets die größten Chancen für jene, deren Status- und Sicherheitsdenken schwächer ausgeprägt ist als Mut und Lebensfreude. Und gerade in Umständen, in denen institutionalisierte Bildung eine Frage des Geldes ist, ist es nur einer Frage der Zeit, bis Kompetenz höher geschätzt wird als Qualifikation. Und damit ist die selbstständige Bildungsaneignung außerhalb der Lehranstalten die beste Investition ins kommende Leben. Nebst einem gewissen Schuss Gleichgültigkeit hinsichtlich sozialer Hierarchien. |
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12.03.2011, 17:09 | #43 |
Auch wenn es keiner weiteren Antwort mehr bedarf, möchte ich dennoch auf eine gewisse Genialität hinweisen.
Dankeschön für diese Zeitgeist-Zeilen! Als Zeitarbeiter, der auch mal auf dem Gymnasium war, weiß ich genau wovon Du "sprichst". Viele Grüße, Gram! |
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