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25.10.2014, 22:21 | #1 |
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Easy Rider
Sonntag. Wir waren auf dem Weg zum Stadion.
Aus einer Seitenstraße, deren Ende wir gerade überquert hatten, ratterte uns ein Motorrad entgegen. Kein gewöhnliches Motorrad, sondern so ein insektenhaftes Easy-Rider-Modell. Der Fahrer war vorbildlich ausstaffiert – Helm, Brille, soweit in Ordnung – und trug als Jacke eine Camouflage. Er kam aus der falschen Richtung, entgegen der Einbahnstraße, bog dann in flottem Bogen nach rechts in die Straße ein, die wir entlang gingen. Dabei hatte er weder nach links noch nach rechts geschaut. Er fuhr flott weiter in der 30-Tempo-Zone und auf die nächste Kreuzung zu, und ich sagte zu meinem Freund: „Guck doch mal, was der macht!“ Der erwiderte nichts, sondern trottete einfach weiter. Einen Moment lang dachte ich, der Easy Rider hätte die Situation erfasst und das Tempo gedrosselt, um die Vorfahrtsregel zu beachten. Sicht auf die Kreuzung hatte ich nicht, weil links und rechts der Straße Autos parkten, die den Blick versperrten. Dann hörte ich den Schlag. Kein Bremsen, kein Quietschen – nur den Schlag. „Jetzt hat’s ihn erwischt!“ sagte ich, und: „Du, das will ich nicht sehen …“ Mein Freund trottete weiter. Ich sprach einen Mann an, den ich für den Unfallbeteiligten hielt, ob er einen Zeugen brauche, aber er war nur ein Zuschauer. Inzwischen kümmerten sich etliche Menschen um den verletzten Easy Rider. Über Handys waren bereits die Sanitäter und die Polizei informiert, die innerhalb von fünf Minuten eintrafen. Der Verletzte war bei Bewusstsein. Und er konnte „Scheiße“ sagen, was mir einen ganzen Steinbruch vom Herzen löste. Dabei war mir klar, dass ein Unfallopfer zunächst nicht weiß, wie schwer es verletzt ist und was ihm später erst alles weh tun wird, wenn der Schock allmählich weicht. In der Lokalzeitung wurde der Unfall nicht erwähnt. Auch nicht in den Polizeiberichten der darauffolgenden Tage. Ich weiß also nicht, ob „Scheiße“ ein erleichtertes, ein bedauerndes oder ein letztes Wort war. 24.10.2014 by Ilka-Maria |