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02.05.2018, 16:14 | #1 |
Forumsleitung
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Die alte Fabrik. Teil 1: Ingo
Ingo hatte ein Gespür für die Botschaft des Windes, seit ihm vor einem Jahr fast der linke Fuß erfroren wäre. Die eisigen Böen, die ihm von Osten entgegenwehten, verhießen für die Nacht nichts Gutes, deshalb erhob er sich von seiner Parkbank, stopfte seine Habe in zwei Plastiktüten und machte sich auf den Weg zum Obdachlosenheim, um die Nacht dort zu verbringen.
Er hatte diese Einrichtung gemieden, seit ihm bei seinem ersten Besuch, als er tief schlief, das zusammengebettelte Geld gestohlen wurde. Aber heute hatte er keine Wahl, die Temperatur war bereits unter dem Gefrierpunkt und fiel spürbar weiter. Der Kies eines Nebenweges knirschte unter schweren Schritten. „He, Alter, wohin so eilig?“ Ingo hielt den Kopf gesenkt und trottete weiter. Anpöbeleien war er gewohnt. „Hast wohl deinen stolzen Tag heute, du Penner?“ Jetzt blieb Ingo stehen und blickte auf. Drei junge Männer versperrten ihm den Weg. Er hielt es für klug, freundlich zu antworten, um eine Provokation zu vermeiden. „Ich heiße Ingo, und ich bin zweiundvierzig.“ Einer der Männer trat dicht an ihn heran. Er wirkte jünger als die anderen beiden, schien aber genügend Autorität zu genießen, um sich in der Rolle des Anführers zu sehen. „Wirklich interessant.“ Sein Ton wurde ironisch: „In-goo. Klingt der Name nicht ein bisschen zu hübsch für ein faules Schwein, das sich mit steuerfreiem Geld durchs Leben drückt?“ Bei den letzten Worten faustete er Ingo mehrmals auf die Brust. Ingo taumelte zurück, stürzte aber nicht. Weil er nicht wusste, ob die Männer ihn nur einschüchtern wollten oder ob sie das Vorspiel zu einer geplanten Gewalttätigkeit inszenierten, ließ er seine Plastiktüten fallen und rannte los. Er lief in die falsche Richtung. Als er ausgepumpt neben einem Baustellenzaun anhielt, war er vom Obdachlosenheim weit weg. Mit einem Blick zurück vergewisserte er sich, dass ihm die Männer nicht gefolgt waren. Auch sonst war weit und breit niemand zu sehen. Er lehnte sich mit der Schulter gegen eines der Zaungitter, bis er wieder ruhig atmen konnte. Aber frei von Sorge war er nicht. Die Lümmel konnten es sich anders überlegt haben und jederzeit aus der Dämmerung auftauchen, um ihn zu demütigen, zu beleidigen, zu schlagen und zu treten. Er musste ein sicheres Versteck zum Schlafen finden. Die Zaungitter umschlossen das Gelände einer verlassenen Fabrik. Ingo hob eines der Gitter hoch, dessen Rahmenfuß in einem Betonklotz steckte, hakte es los und drückte es weit genug nach innen, dass er durch die Öffnung schlüpfen konnte. Dann hakte er das Gitter wieder ein. Die Eingangshalle des alten Gebäudes verriet Ingo nichts mehr von dem, was sich einst an geschäftigem Leben hier abgespielt haben mochte. Da sie völlig ausgeräumt war, bot sie ihm kein geeignetes Versteck. Ohne lange zu überlegen, suchte er in den Nebengängen die Treppe zum Keller und stieg hinab. Er inspizierte die Räume, so gut es in der Dunkelheit ging. Zufrieden stellte er fest, dass sie trocken waren und weder nach Moder noch nach Schimmel rochen. In einem Raum standen ein Heizkessel und eine Reihe leerer Kanister, in einem anderen waren Kisten gestapelt, die sich beim Dranklopfen hohl anhörten, in einem weiteren Raum befanden sich ausrangierte Maschinen, deren Zweck Ingo nicht klar war. Als er einen Hinterausgang fand, von dem eine Treppe auf das Hofgelände führte, konnte er sein Glück kaum fassen: Er hatte für alle Fälle einen Fluchtweg! Für sein Nachtdomizil wählte Ingo eine Kammer direkt beim Hinterausgang, in der sich nichts weiter als Planen befanden, die an der hinteren Wand wie achtlos hingeworfen übereinanderlagen. Da seine Plastiktüten mit den wenigen Schätzen, die er besessen hatte, verloren waren, kamen ihm die Planen recht. Er nahm sich eine und faltete sie zu einem Kissen zusammen, auf das er seinen Kopf betten konnte. Eine weitere Plane diente ihm als Unterlage, eine dritte zog er über seinen Mantel, um sich gegen die Kälte zu schützen. Da er in der Dunkelheit nichts anderes mehr tun konnte, schloss er die Augen und schlief ein. Der Mond war noch in der Phase des Verblassens, als Ingo vom Knurren seines Magens erwachte. Er war es nicht gewohnt, lange zu schlafen, und nachdem er sich daran erinnert hatte, wie er in diese Kellerkammer gekommen war, schlug er die Plane zurück, mit der er sich zugedeckt hatte, und setzte sich auf. Er fühlte nach dem Kleingeld in seiner Manteltasche, klaubte es heraus und zählte die Münzen. Viel war am Vortag nicht zusammengekommen, aber für ein zünftiges Frühstück und einen Kaffee im Pappbecher würde es reichen. Am einfallenden Licht schätzte er, dass er noch drei Stunden totzuschlagen hatte, ehe der erste Laden öffnete. Er stand auf und begann, seine Planen aufzunehmen und zusammenzulegen. Ordnung lag ihm im Blut. Und Sauberkeit. Er hatte nie verstanden, dass viele der Obdachlosen, deren Bekanntschaft er umständehalber machen musste, sich in Dreck und Speck verkommen ließen. Er hatte Zeit, also nahm er sich den Haufen an der Wand ebenfalls vor und faltete Plane für Plane zu ordentlichen, mehrlagigen Vierecken, die er in einer Ecke stapelte. Als er fast fertig war, kam am Rand des restlichen Haufens eine Reihe schmaler Knochen zum Vorschein. Ingo hielt inne. Die Knochen kamen ihm vor wie von einer menschlichen Hand oder einem Fuß, und am liebsten hätte er sie einfach zugedeckt und ignoriert. Doch der Drang nach Gewissheit war stärker, und so hob er die letzten beiden Planen weit genug vom Boden, um sehen zu können, was sich darunter befand. Im nächsten Moment ließ er entsetzt die Planen fallen und verwünschte seine Neugier. Dies alles ging ihn nichts an. Zeit, zu verschwinden. Er nahm den Hinterausgang und ging vorsichtig die Treppe hinauf. Als er sicher sein konnte, immer noch allein auf dem Gelände zu sein, atmete er tief die frische Morgenluft ein. Vor ihm lag ein neuer Tag. (Fortsetzung folgt.) |
02.05.2018, 17:32 | #2 | |
Ich habe schon einen Kommentar dazu in der Interessengemeinschaft geschrieben, jetzt noch etwas anderes:
Zitat:
Das ist die einzige Option in der Situation und ich kann mir nicht vorstellen, dass Ingo das nicht wüsste. |
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02.05.2018, 17:53 | #3 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Wie hättest du den Dialog geschrieben? |
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03.05.2018, 06:41 | #4 |
Ich hätte ihn antworten lassen: "Ich hab's eilig", einen Überraschungsmoment nutzen und dann durch eine Lücke zwischen den Männern hindurch schlüpfen lassen. Sowas in der Richtung.Oder gar nicht antworten lassen (aber es soll ja ein Dialog sein).
Mich störte aber nicht so sehr der Dialog, sondern dass Ingo falsch gezeichnet rüber kommt. Wie hättest du eine Charakter-Karteikarte von Ingo entworfen? Lebt auf der Straße und glaubt tatsächlich, mit Freundlichkeit und "Offenbarungen" ("ich heiße..., ich bin..") weiter zu kommen? (Wonach ihn außerdem keiner gefragt hat). Aus seiner Erfahrung heraus würde ich das verneinen. Er reagiert in deinem Dialog eher naiv und so, als hätte er keine jahrelange Erfahrung auf der Straße. Edit: Dass er so antwortet, damit die Poebler wissen, dass er kein Penner ist, ist mir erst jetzt aufgegangen. Ich glaube nicht, dass es einem Obdachlosen in der Situation darauf ankaeme, seinen "Status" (er ist kein Penner, ist kein "Alter") zu klären. Hauptsache, er kommt heil aus der Sache heraus. |
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06.05.2018, 23:43 | #5 | ||
Zitat:
Einer der Männer trat dicht..." Den nächsten Satz hätte ich demnach anders gestaltet/angepasst. Hierfür leider kein Beispiel. Zitat:
Beim Lesen des ersten Abschnittes kann ich mir leider auch nicht vorstellen, dass der Anführer Ingo auf die Brust schlägt, während er ihm eine Frage stellt (?). Der Folgesatz klingt deshalb unpassend. Insgesamt konnte ich mich nicht wirklich in die Situation hineinversetzen. Vielleicht solltest du deinen Charakteren Jobs/Rollen geben, mit denen du dich im echten Leben auskennst, damit du dich besser in sie hinein versetzen kannst und sie deine Geschichten realistischer erscheinen lassen. (: |
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07.05.2018, 19:51 | #6 |
Dabei seit: 01/2018
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Beiträge: 194
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Ich habe die Geschichte bei "fausten" aufgehört zu lesen. Habe sie aber nach den Kommentaren doch zuende gelesen.
Die Argumentation dass es unrealistisch sei finde ich nicht richtig. Wer will schon einen 0-8-15 stereotyp als Protagonisten? Den verbitterten, ungeordneten obdachlosen kennen wir doch alle. Ich bin mir sicher dass Ingo sicher noch eine Entwicklung durchmacht. Ja und Ingo wirkt auf einen jungen Menschen nicht als schöner Name. Aber ich schätze der junge spricht da mit bitterem Sarkasmus einfach irgendwas um Ingo zu bedrohen und nicht um ihn eine ehrliche Meinung zu seinem Namen zu geben. Das Ende ist sehr spannend und ich freue mich auf den nächsten teil. Edit: Habs nochmal gelesen und es ist sogar geschrieben dass das mit dem Namen ironisch gemeint ist. |
08.05.2018, 06:43 | #7 | |
Hallo San Fabiano,
Zitat:
Ich bleibe dabei, dass Ingo nicht wie jemand, der schon jahrelang auf der Straße lebt, auftritt. Und wenn du schon fragst: "Wer will schon...", ja, ich. Ich hätte Ingo gerne anders dargestellt. Die nächsten zwei Teile hat Ilka übrigens schon länger eingestellt. LG DieSilbermöwe |
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08.05.2018, 07:16 | #8 |
Forumsleitung
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Die Diskussion zeigt, wie unterschiedlich die Erwartungen der Leser sein können. Das hängt wohl von den Vorstellungen ab, die wir von bestimmten Dingen haben.
Ist jeder Obdachlose ein "Penner"? Verhalten sich und sprechen alle Obdachlosen bzw. Penner gleich? Passt sich jeder Obdachlose an das Leben auf der Straße an, oder versuchen manche, sich so weit wie möglichlich ihre Würde zu bewahren? Ich habe in Frankfurt einige Erfahrung mit solchen Leuten gemacht, und da zeigte sich eine breite Palette, von verwahrlosten Trunkenbolden bis hin zu ärmlich, aber adrett gekleideten Leuten. Auch im Sprachgebrauch gab es erhebliche Unterschiede. Eine andere Frage ist: Soll ein Protagonist der Realität entsprechen, und die Realität welchen Lesers soll das sein? Oder bevorzugt der Leser keinen realistischen, sondern einen ungewöhnlichen Protagonisten, weil man im eigenen Alltag genug Realität hat und gerade darüber nicht auch noch eine Geschichte lesen will? Wäre für die Abbildung der Realität nicht eine Dokumentation die bessere Wahl? |
08.05.2018, 12:31 | #9 | |
Zitat:
Dann lese ich lieber, was der Autor vorgibt und mache mir darüber Gedanken. |
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08.05.2018, 13:05 | #10 |
Forumsleitung
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Das finde ich auch doof. Dadurch wird der Leser unerwartet in die Rolle des Erzählers gedrückt. Die Spannung wird plattgemacht, weil der Leser vorher eine Vorstellung hatte, wie die Geschichte für den Protagonisten ausgehen könnte, und nun wird er um die erwartete (oder überraschend andere) Lösung betrogen.
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