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Alt Heute, 10:03   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Konzise Betrachtung über das autobiografische Schreiben

Keines Menschen Leben ist so ereignis- und spannungslos, dass es sich nicht lohnte, seine Geschichte aufzuschreiben und seine Mitmenschen daran teilhaben zu lassen. Davon bin ich überzeugt. Kein Leben verläuft in gleichförmiger Harmonie, sondern steht in Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld und den Wandlungen seiner Zeit, erfährt Brüche, wiederkehrende Krisen und die permanente Herausforderung, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Ruhephasen folgen Kraftanstrengungen, zuweilen bis zur Erschöpfung, aus der jedoch oft neue Chancen erwachsen. Jedes Leben ist eine eigene, unverwechselbare Geschichte.

Denkt ein Mensch über sein Leben nach, erscheinen ihm seine Erinnerungen zuweilen als ein Labyrinth, von dem er nicht weiß, wie er hineingekommen ist, auch nicht, ob und wie er wieder hinauskommen kann. Und wenn er hinauskäme, was gäbe es hinter dem Ausgang? Wie ginge es dort weiter?

Dann ist für diesen Menschen die Zeit gekommen, Ordnung in seinen Lebenslauf zu bringen, Ereignisse und Daten zu sortieren und darüber nachzudenken, wer er ist und was ihn dazu gemacht hat. Er nimmt Papier und Füllhalter oder setzt sich an seinen Computer und beginnt mit dem Schreiben seiner Autobiografie.

Dabei stößt er unerwartet auf zwei Schwierigkeiten: Stimmen seine Erinnerungen oder kann er sie, wo er unsicher ist, zuverlässig recherchieren? Und wie sind die schmerzlichen, die unangenehmen, die peinlichen Momente seines Lebens auszuhalten?

Vor allem die zweite Frage ist nicht trivial. Zwar kann der Mensch bei den Daten und Ereignissen im Zweifelsfall zwischen Wahrheit und Dichtung chargieren und auch die missliebigen Erfahrungen aussparen oder zumindest beschönigen, stößt bei diesen Überlegungen aber trotzdem schnell an seine Grenzen. Denn bevor er sich entscheidet, ob er die dunklen Momente seines Lebens preisgibt oder sie besser ignoriert, muss er sich gedanklich damit auseinandersetzen. Daran kommt er nicht vorbei, und das ist die Hürde, die den Autobiografen ins Stolpern bringt.

Erinnerungen bestehen zum größten Teil aus Emotionen, denn jeder Mensch behält am besten jene Erfahrungen im Gedächtnis, die mit starken Gefühlen einhergingen. Nicht alle waren mit Glück oder Freude verbunden, sondern viele tun weh, und ihr Wachrütteln versetzt den Autobiografen zurück in den Zustand jenes Schmerzes, den er überwunden geglaubt hat. Entsetzt wird ihm klar, dass er schlafende Hunde geweckt hat, die nicht nur bellen, sondern die Zähne fletschen und zu beißen drohen.

An diesem Punkt muss der Autobiograf entscheiden, ob er sich gegen das Straucheln wehren will oder nicht. Auf den Füßen bleiben, den Schmerz noch einmal durchleben, durchhalten, weiterschreiben? Nochmal versuchen, die Hürde zu nehmen und auch die nachfolgenden, die unweigerlich kommen werden, akzeptieren? Oder doch lieber den Schmerz vermeiden, sich mit dem Verbleib seiner gedanklichen Unordnung abfinden und das Schreiben aufgeben?

Manche professionellen Autoren empfehlen Erstschreibern, mit ihrer Biografie zu beginnen, was sie damit begründen, dass es einfacher sei, über das zu schreiben, was man kennt, und dass man nicht so leicht Gefahr laufe, von der Perspektive des Ichs abzuweichen. Ich halte das für einen Irrtum. Ein versehentlicher Wechsel der Perspektive mag bei der Ich-Form eines Textes zwar gut vermeidbar sein, aber sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen ist ein nicht zu unterschätzender Kraftakt der Psyche, der einen Menschen in eine tiefe Krise stürzen kann.

Darüber sollte sich jeder klar sein, der sich entschließt, sein Leben aufzuschreiben. Er muss nicht darauf verzichten, falls ihm seine Autobiografie eine Herzensangelegenheit ist. Auch das Aufgeben eines Projektes kann eine Krise auslösen, wenn man sich hernach als Versager fühlt. Einen zuverlässigen, aufrichtigen Freund einzuweihen, bevor man mit dem Schreiben beginnt, der den Schreibprozess begleitet und mit dem sich der Autor aussprechen kann, könnte eine adäquate Lösung für dieses Problem sein, das niemand unterschätzen sollte.

18.06.2024
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Workshop "Kreatives Schreiben":
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Alt Heute, 21:40   #2
weiblich Lee Berta
 
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Ort: Gehirn!
Beiträge: 534

Hallo Ilka-Maria,
ich habe auch mal über eine Autobiografie nachgedacht, aber ich habe leider eine sehr gute Erinnerung, so dass es etwa 13 Bände mit je 600 Seiten wären. Hältst du es für möglich, dass sich ein Verleger findet?
Natürlich nicht, also:
Wie trennt man am besten irrelevante Seitenstränge ab, wenn die ja doch irgendwie der Haupthandlung zuarbeiten? Wie wird man sein eigener Lektor?
Wie gewinnt man überhaupt einen professionellen Abstand zu sich selbst? Schließlich sind es die Verletzungen, die einen Menschen prägen und das sind genau die Themen, die einen potentiellen Leser nicht unterhalten würden. Wie findet man da die Balance zwischen therapeutischem und professionellem Schreiben?
Die Frage, wie viel man preis gibt, entscheidet letztlich über die Authentizität, aber will man das überhaupt? Will man herumgereicht werden?
Wenn nicht, wie will man was verkaufen? Man braucht ja schon eine krasse Lebensgeschichte, um einen Hund hinter dem Ofen vorzulocken. "Nicht ohne meine Tochter!"
Wer über sich schreibt, muss sich selbst verkaufen können. Vorher muss er sich überlegen, ob er sich überhaupt verkaufen will. Selbst, wenn er will, kann er vielleicht nicht.
Also, wozu eine Autobiografie schreiben? Wer soll das lesen?

Bin gespannt auf deine Meinung,
LG, lee
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