Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Literatur und sonstige Themen > Literatur und Autoren

Literatur und Autoren Literatur allgemein sowie Rezensionen von Büchern, Stücken und Autoren.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt Heute, 10:03   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.275

Standard Konzise Betrachtung über das autobiografische Schreiben

Keines Menschen Leben ist so ereignis- und spannungslos, dass es sich nicht lohnte, seine Geschichte aufzuschreiben und seine Mitmenschen daran teilhaben zu lassen. Davon bin ich überzeugt. Kein Leben verläuft in gleichförmiger Harmonie, sondern steht in Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld und den Wandlungen seiner Zeit, erfährt Brüche, wiederkehrende Krisen und die permanente Herausforderung, sich neuen Gegebenheiten anzupassen. Ruhephasen folgen Kraftanstrengungen, zuweilen bis zur Erschöpfung, aus der jedoch oft neue Chancen erwachsen. Jedes Leben ist eine eigene, unverwechselbare Geschichte.

Denkt ein Mensch über sein Leben nach, erscheinen ihm seine Erinnerungen zuweilen als ein Labyrinth, von dem er nicht weiß, wie er hineingekommen ist, auch nicht, ob und wie er wieder hinauskommen kann. Und wenn er hinauskäme, was gäbe es hinter dem Ausgang? Wie ginge es dort weiter?

Dann ist für diesen Menschen die Zeit gekommen, Ordnung in seinen Lebenslauf zu bringen, Ereignisse und Daten zu sortieren und darüber nachzudenken, wer er ist und was ihn dazu gemacht hat. Er nimmt Papier und Füllhalter oder setzt sich an seinen Computer und beginnt mit dem Schreiben seiner Autobiografie.

Dabei stößt er unerwartet auf zwei Schwierigkeiten: Stimmen seine Erinnerungen oder kann er sie, wo er unsicher ist, zuverlässig recherchieren? Und wie sind die schmerzlichen, die unangenehmen, die peinlichen Momente seines Lebens auszuhalten?

Vor allem die zweite Frage ist nicht trivial. Zwar kann der Mensch bei den Daten und Ereignissen im Zweifelsfall zwischen Wahrheit und Dichtung chargieren und auch die missliebigen Erfahrungen aussparen oder zumindest beschönigen, stößt bei diesen Überlegungen aber trotzdem schnell an seine Grenzen. Denn bevor er sich entscheidet, ob er die dunklen Momente seines Lebens preisgibt oder sie besser ignoriert, muss er sich gedanklich damit auseinandersetzen. Daran kommt er nicht vorbei, und das ist die Hürde, die den Autobiografen ins Stolpern bringt.

Erinnerungen bestehen zum größten Teil aus Emotionen, denn jeder Mensch behält am besten jene Erfahrungen im Gedächtnis, die mit starken Gefühlen einhergingen. Nicht alle waren mit Glück oder Freude verbunden, sondern viele tun weh, und ihr Wachrütteln versetzt den Autobiografen zurück in den Zustand jenes Schmerzes, den er überwunden geglaubt hat. Entsetzt wird ihm klar, dass er schlafende Hunde geweckt hat, die nicht nur bellen, sondern die Zähne fletschen und zu beißen drohen.

An diesem Punkt muss der Autobiograf entscheiden, ob er sich gegen das Straucheln wehren will oder nicht. Auf den Füßen bleiben, den Schmerz noch einmal durchleben, durchhalten, weiterschreiben? Nochmal versuchen, die Hürde zu nehmen und auch die nachfolgenden, die unweigerlich kommen werden, akzeptieren? Oder doch lieber den Schmerz vermeiden, sich mit dem Verbleib seiner gedanklichen Unordnung abfinden und das Schreiben aufgeben?

Manche professionellen Autoren empfehlen Erstschreibern, mit ihrer Biografie zu beginnen, was sie damit begründen, dass es einfacher sei, über das zu schreiben, was man kennt, und dass man nicht so leicht Gefahr laufe, von der Perspektive des Ichs abzuweichen. Ich halte das für einen Irrtum. Ein versehentlicher Wechsel der Perspektive mag bei der Ich-Form eines Textes zwar gut vermeidbar sein, aber sich mit seiner eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen ist ein nicht zu unterschätzender Kraftakt der Psyche, der einen Menschen in eine tiefe Krise stürzen kann.

Darüber sollte sich jeder klar sein, der sich entschließt, sein Leben aufzuschreiben. Er muss nicht darauf verzichten, falls ihm seine Autobiografie eine Herzensangelegenheit ist. Auch das Aufgeben eines Projektes kann eine Krise auslösen, wenn man sich hernach als Versager fühlt. Einen zuverlässigen, aufrichtigen Freund einzuweihen, bevor man mit dem Schreiben beginnt, der den Schreibprozess begleitet und mit dem sich der Autor aussprechen kann, könnte eine adäquate Lösung für dieses Problem sein, das niemand unterschätzen sollte.

18.06.2024
__________________

Workshop "Kreatives Schreiben":
http://www.poetry.de/group.php?groupid=24
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Konzise Betrachtung über das autobiografische Schreiben




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.