Die Reise nach Tokyo
Regina war der Stolz unserer Schule, denn sie hatte bei einem Preisausschreiben den ersten Preis, eine Reise nach Tokyo, gewonnen.
Das Preisausschreiben wurde alljährlich eigens für die Klassen aller hessischen Realschulen entwickelt und bestand aus einem Fragebogen, der das Wissen der Schüler über Themen aus dem Sozialkundeunterricht abklopfte. Für Regina war das eine Kleinigkeit, hatte sie doch schon jetzt, gerade erst in der achten Realschulklasse, den Nimbus einer brillanten Schülerin.
Wir waren in der siebten Klasse und hatten auch ein Genie vorzuweisen: Ursula. Sie war in allen Fächern sehr gut bis gut, nie mittelmäßig. Ihre Aufsätze stachen die literarischen Bemühungen von uns allen aus, und wenn der Lehrer mal etwas an ihrer Schreibkunst zu bemäkeln hatte, rief dies bei uns Empörung hervor. So zum Beispiel, als sie den Alltag ihrer Schildkröte beschrieb, der ganz gemächlich verlief, dann aber in dem Aufschrei endete: „Und da geschah es!“ Nun, da hatte die Schildkröte bei dem Versuch, an der Wand ihres Gefängnisses hochzuklettern, das Gleichgewicht verloren und war auf den Buckel gefallen. Das fand der Lehrer in diesem Aufsatz zu dramatisch dargestellt. Wir waren anderer Meinung, denn bei diesem spektakulären und kritisierten Satz waren wir alle hellwach geworden. Außerdem fanden wir es wirklich dramatisch, uns eine Schildkröte auf dem Rücken liegend und hilflos mit den Beinen strampelnd vorzustellen. Der Lehrer hingegen fand es zu reißerisch.
Kritik an Ursulas Leistungen kam jedoch selten vor. Sie war die Ms. Einstein unserer Klasse. Das relativierte sich, als eine Schülerin unserer Schule namens Regina eine Reise in die Hauptstadt eines für unsere damaligen Begriffe exotischen Landes gewann.
Ursula bekam in den nächsten Wochen viele Fragen gestellt, die mit unserem Unterricht und ihren Leistungen nichts zu tun hatten. Sie blieb reserviert und antwortete nur einsilbig. Die Fragen waren ihr unangenehm, und sie schien sich schmäler machen zu wollen, obwohl sie bereits überschlank und knochig war.
Ihre Leistungen blieben bis zur Entlassung aus der Schule auf hohem Niveau. Aber der Nimbus war verloren, und die Messlatte lag um einiges höher, nachdem alle an der Schule erfahren hatten: „Die Ursel, das ist doch die kleine Schwester von der Regina, die in Tokyo war …“
20.11.2015
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