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01.04.2015, 17:32 | #1 |
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Auf dem See
Nachdem man die endlosen drei Kilometer Feldweg überstanden hat, befindet man sich urplötzlich auf der kleinen Lichtung vor dem Bootsteg des Balksees (Wingst/Niedersachsen). Rundherum ist alles Naturschutzgebiet. Angeln darf man nicht vom Ufer, nur auf dem See, vom Boot aus, mit Privatlizenz.
Das letzte grüne Ruderboot rechts am hölzernen Steg, mit der Aufschrift "WuJ", liegt, angekettet an den Halteringen,. leicht schaukelnd im Wasser. Ich bin zu früh. Kein Stern am Himmel, man ahnt nur die tiefschwarzen Wolken, der Wind ist frisch und warm, im Dunkel hört man nur das Plätschern des Wassers ans Ufer. Missmutig über mein schlechtes Timing verstaue ich im Licht der Taschenlampe meine Ausrüstung im Boot. Der Aal wartet, der Zander, der Hecht.. Nach zwanzig Minuten habe ich die kleine Bucht erreicht, arretiere mit langen Holzstangen das Boot, werfe mit einem Tauwurm eine Grundangel in die Dämmerung, und blinkere stehend mit einer zweiten Angel. Bis um zehn Uhr fange ich zwei Aale und zwei Zander. Ich bin etwas müde und werfe jetzt zwei Grundangeln aus, damit ich ein wenig sitzen kann. Das Boot schaukelt mich etwas in den Schlaf hinein. Dann beginnt es zu regnen. Nur Minuten, dann ist der Blaumann durchnässt, etwas später die Regenjacke, der Regen tropft in den Becher der Thermoskanne, Wassertropfen tanzen auf dem See. Ich könnte jetzt abbrechen und zurückrudern, aber wozu? Und wohin? Meine Welt ist so klein geworden.. Es regnet Stunde um Stunde. Kein anderes Boot auf dem großen See. Mit einer Dose schöpfe ich das Wasser aus dem Boot. Der Tabak ist nass, die Hände, schmutzig und feucht, lassen sich nirgends trocken wischen. Stur kauere ich auf dem schmalen Sitz, fast apathisch, und wehrlos den unvermeidlichen Gedanken ausgeliefert. Eine Angelpose wandert hüpfend übers Wasser, taucht kurz ein, wandert dann weiter. Auch das noch, eine Scherenkrabbe! Ich blicke zum Himmel hinauf, das Wasser rinnt mir von der Hutkrempe in den Nacken. Das Ufer kann man durch die Regenwand nicht sehen. Ich weiß nicht, wann es das letzte Mal derart anhaltend stark geregnet hat. Die Mittagszeit ist schon vorbei, der Himmel so schwarz und dunkel, als wüchse die Nacht heran. Der Wind wird jetzt stürmisch, bedrohend. Die Brotdose schwimmt im Wasser. Die Taue zerren an den Haltepfählen, die sich krumm legen, der Seegang wird stärker. Das Boot hüpft auf und ab, sträubt sich mit Macht gegen die Arretierung, die ich nicht mehr halten kann. Jetzt kann ich nicht mehr gewinnen, gegen wen auch immer. Ich weiß es, aber so leicht bin ich nicht zu haben. Ich bringe die Ruder in Position, löse das Seil, gebe eine Haltestange verloren und stemme mich mit den Füßen gegen den Boden. So beginne ich gegen den Sturm zu rudern, so lächerlich hilflos gegen die Gewalt. Mal zieht es mich hinunter, als wollte mich ein Strudel verschlingen, um mich gleich darauf emporzuheben, dass sich mein Hintern vom Sitz löst, und das Halten der Ruder mich fast in die Waagerechte bringt. Die Arme zittern von der Kraftanstrengung. Wenn ich nicht rudere, dreht sich das Boot im Kreis und treibt zurück. Nach fünzig Minuten verlassen mich die Kräfte. Ich steche den letzten Haltepfahl in den Schlick, befestige das Tau, um nicht abzutreiben und mich kurz auszuruhen. Der Sturm heult böse, der Wellengang hebt und senkt das Boot gefährlich, auf dem Boden schwimmen die Utensilien. Ich halte mich mit den Händen am Pfahl fest. Durch den Regen sehe ich auf das fern bewaldete Ufer, eine Baumwurzel liegt im Wasser. Davor erscheint mir in Gedanken das Boot meines toten Bruders an einem Frühlingsmorgen. Ich höre sein Lachen, sehe sein Hantieren mit der Angelschnur. Ich spüre seine Fröhlichkeit so sehr, dass ich weinen muss. Jetzt wäre es mir recht. Ein Herzanfall, aus dem Boot fallen, versinken. Einmal bleiben, wo man nicht wieder weg muss. Ich erschrecke fast über meine Gleichgültigkeit. Eine Bö reißt mir den Hut vom Kopf. Ich mag nicht mehr. Der Sturm reißt und zerrt, ich habe keine Kraft mehr, ich will mich nicht mehr aufbäumen. Ich lasse die Halteleine los und rutsche vom Sitz auf meine nassen Klamotten, lege mir irgendwas unter dem Kopf, die Beine ausgestreckt und schaue in den schwarzen Himmel. Das Boot treibt davon, kreisend und auf dem Wasser hüpfend, wie einer Walzermelodie folgend. Und ich sehe durch den schwarzen Himmel hindurch in einen Sommertag, in dem ich mit Menschen scherzte, die mir nahe standen. Keine Traurigkeit ist in mir, keine Wehmut, fast bin ich ein wenig glücklich. Und der schwarze Himmel dreht sich wirbelnd im Kreis, Wolken stürzen auf mich herab, das Boot springt im irren Tempo umher, aber es kentert nicht. Dann ein Ruck, eine Art Knarren folgt ihm, der Himmel steht still, ein heftiges Glucksen ist zu hören. Ich richte mich verwundert auf und erkenne, dass ich auf der einzigen kleinen Insel im See gestrandet bin, dort, wo mein Bruder und ich die Nächte beim Nachtangeln verbracht haben. Ich befestige das Boot an einer Baumwurzel und schaffe meine nassen Sachen auf den schwankenden Untergrund. Nach ein paar Stunden, es ist längst Abend, lassen Regen und Sturm nach, der Wind trocknet meine Kleidung, und ganz ruhig und ohne Anstrengung rudere ich den weiten Weg zur Anlegestelle zurück. Jeronimo |
01.04.2015, 18:13 | #2 |
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herrliche short prose....
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01.04.2015, 19:01 | #3 |
R.I.P.
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Lieber Jeronimo,
deine Geschichte wird viele Leser nachdenklich machen und jeder wird sich sein eigenes Urteil bilden zu deiner Rettung: Schicksal, Zufall, die Mahnung, nie aufzugeben. Ich kann mich mit diesen Überlegungen nicht identifizieren, ich habe eine, vielleicht zu einfache Erklärung für deine Rettung. Dein Bruder hat dich auf dieser kleinen Insel stranden lassen, die ihr möglicherweise zu seinen Lebzeiten nie entdeckt habt. Er wollte nicht, dass du zu ihm kommst, er wollte, dass du mit ihm weiter lachst, weiter die Fröhlichkeit eurer brüderlichen Kameradschaft teilst. Er wollte, dass du ihm deinen gelungenen Fang zeigst - er wollte in dir und mit dir weiter leben. Die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen hört nie ganz auf, findet wohl nie ein sinnvolles Ende, aber manchmal, liebe Jeronimo, können wir uns mit der Trauer anfreunden, dann, wenn wir auf eine kleinen Insel gestrandet sind, auf die uns eine schützende Hand gezogen hat. Merith |
01.04.2015, 22:55 | #4 |
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Liebes Ralfchen,
ich danke dir sehr für dein Lob! Liebe Merith, du hast eine sehr liebevolle und tröstliche Erklärung gefunden. Manchmal geschehen die Dinge einfach und man wird nie wissen warum, und warum man sich so und nicht anders verhalten hat. Ich habe nie nach dem Warum gefragt, aber deine Antwort hätte mir sehr gefallen. Ich danke dir von ganzem Herzen dafür! Jeronimo |
01.04.2015, 23:41 | #5 |
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jeronimo,
mach mich nicht immer so nass, wenn ich deine geschichten lese, ehrlich: das eine mal hab ichs grad noch in die toilette geschafft (zur toilette mein ich) und jetzt: da steh ich voll im regen, mann und rudern musste ich auch noch - mit den armen, weil ich absolut nicht zuschauen wollte wie du da so nonverbal ersäufst, schöne, aber nasse bilder, aber noch viele andere bilder hinter den bildern, die mir noch viel besser gefallen, der bruder, der so sanft erwähnte verlust, der kampf gegen die wellen, die gedankliche verknüpfung von brüderlichem schicksal und die erinnerung, so schön, so voller wehmut und so sanft dann die landung auf einer kleinen insel, die man nicht mal ansatzweise erahnen konnte, so stark war alles zugespitzt auf diesen moment und so kräftig wollte ich mich als dein treuer leser gegen diesen untergang stemmen und so erleichtert sehe ich dich zurückschwimmen, ähm: rundern mein ich ... mein lieber jeronimo, deine wortakrobatik kenne ich ja schon ein bisserl, aber ich merke auch wie du dich weiter und weiter entwickelst und es macht spaß dich dabei zu beobachten, ehrlich alles liebe (von-dem-der-sich-jetzt-irgendwie-abtrocknen-sollte) |
02.04.2015, 00:40 | #6 |
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Lieber Lichtsohn,
du schreibst immer wunderbare Kommentare, freundlich und positiv und vor allem vermeidest du das Lapidare, das uns anderen oft zu eigen ist. Dafür danke ich dir sehr. Was die Entwicklung betrifft, so entwickelt man sich immer weiter und weiter (hoffentlich), aber du beobachtest nur ein paar Facetten von mir hier bei Poetry, ehrlich.. Ich danke dir. Jeronimo |
04.04.2015, 15:35 | #7 |
Dabei seit: 11/2014
Ort: Das Meer ist mein Garten aus Kristallen und Träumen ...
Alter: 66
Beiträge: 2.583
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Lieber Jeronimo,
Deine Geschichte ist mir direkt unter die Haut gegangen; Du hast mich so dicht in das Geschehen gelockt, mich involviert für den Protagonisten mit zu denken, die Nässe zu spüren, die Anstrengung, die Verzweiflung, die Hoffnung; den Moment des Aufgebens mitzuempfinden und die Freude, dass der "Himmel" es gut meinte, als der Kampf gekämpft, verloren, aber das Leben dennoch erneut geschenkt …. Deine Geschichte ist so spannend, lieber Jeronimo, mich machte sie wirklich atemlos beim Lesen! Herzliche Grüße aus dem Norden Zaubersee |
04.04.2015, 18:00 | #8 |
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Liebe Zaubersee,
ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat, und dass du so einen wunderbaren Kommentar geschrieben hast. Herzlichen Dank dafür! Jeronimo |
29.05.2015, 17:21 | #9 |
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Mir brauchst du für nichts zu danken, aber ich als alter Seemann hätte mir bei solch gefährlichen Manövern 10 mal in die Hose geschissen. Und dann noch der Gefühlsdruck. Dafür haben die Fische zu Recht gewartet. weil ichja im März geboren bin.
MFG |
30.05.2015, 09:06 | #10 |
Lieber Jeronimo,
wunderbar geschrieben! Liebe Grüße Gylon |
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30.05.2015, 20:26 | #11 |
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Hallo Poesieger,
dankeschön für deinen Kommentar und für das lustige Wortspiel! Liebe Gylon, auch Dir meinen Dank für dein herzliches Lob! Jeronimo |
31.05.2015, 11:43 | #12 |
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Das hast du mit deiner perfekten Art mehr verdient als ich es je würdig bin. Aber eigentlich dachte ich es wäre zu verletzend und du würdest dann nur nett sein, damit ich dich in Ruhe lasse. Was ich viel mehr verdient hätte als ein Lob aus so berufenem Munde! Gerade auch bei einem so emotionalen Text dass allein aus Tränen schon dieser See sein könnte worin das Bad sich augenspiegelt.
MFG |
05.06.2015, 00:09 | #13 |
Dabei seit: 05/2015
Ort: all alone in space and time
Alter: 25
Beiträge: 218
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Lieber Jeronimo,
tolle Geschichte, sehr metaphorisch und schön! War überaus angenehm zu lesen. LG muux |
27.06.2015, 10:32 | #14 |
Dabei seit: 06/2015
Ort: Wiesbaden
Alter: 52
Beiträge: 1
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Das ist eine sehr schöne Geschichte, die ich als erste hier gelesen habe. Das ist einen guten Anfang für mich als Leserin und ich bedanke mich dafür.
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27.06.2015, 12:13 | #15 |
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Hallo muux,
sorry bitte, ich habe deinen Kommentar übersehen. Ich danke Dir herzlich für dein Lob! Hallo Tasch, auch dir danke ich für dein Lob und für das Lesen! Das ist ein guter Einstand, wenn man sich erst in einem Forum etwas einliest und schaut, was die anderen so schreiben. Das machen die meisten nicht, sie schreiben gleich drauf los und sind dann sehr verwundert, wenn es Kritik gibt. Ich heiße dich daher willkommen hier und wünsche dir viel Erfolg und viele positive Kommentare für deine Werke! Jeronimo |
27.06.2015, 14:14 | #16 |
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So nett würde ich auch gerne mal sein können. Dann bräuchte ich nicht immer die Wahrheit sagen.
MFG |
27.06.2015, 15:59 | #17 |
R.I.P.
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Dann bemüh dich mal !" Nett-Sein " kann man nicht lernen, da muss das Herz mitsprechen
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28.06.2015, 12:17 | #18 |
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Ich hätte Friseur werden sollen. Und dann immer schön nach Komplimenten fischen.
MFG |
29.07.2015, 07:27 | #19 |
Auch wenn es schon einige geschrieben haben: Eine wunderschöne Geschichte! So richtig in ihren Bann gezogen hat sie mich ab der Zeile "so laecherlich hilflos gegen die Gewalt". Mir gefiel, dass du trotzdem nicht kampflos aufgeben wolltest.
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29.07.2015, 18:15 | #20 |
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Liebe Silbermöwe,
es freut mich sehr, dass du die Geschichte gelesen hast und vor allem, dass sie dir gefallen hat. Ich danke dir herzlich! Jeronimo |