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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 15.06.2007, 19:24   #1
JohnDT
 
Dabei seit: 06/2007
Beiträge: 6

Standard Der Mann im Spiegel Teil I

An diesem Morgen wachte er kurz bevor das Licht unaufhaltsam in den Raum triefen würde auf und bemerkte, das er im Schlaf geweint haben musste, seine Wangen waren ganz klebrig. Er tastete im fahlen Licht der Morgendämmerung nach der Flasche Wein die vom Vortag übrig war und nahm einen tiefen Schluck, es schmeckte fahl. Er schloss die Augen und lauschte.
Alles war still.
Das schwerste an jedem Morgen war der Gang ins Badezimmer und der untrennbar mit diesem Vorgang verbundene Blick in den Spiegel. Er hatte ein Tuch vor den Spiegel gehängt, um die Sache so lange wie möglich hinauszögern zu können, um sich das Gesicht zum Beispiel bei vorgehangenem Tuch zu waschen, er konnte es ja ertasten, er konnte es spüren, seine Haut wie sie sein Gesicht bedeckte. Auch alle anderen Verrichtungen, die nicht zwingend den Blick in den Spiegel erforderten, konnte er mittlerweile mit vorgehangenem Tuch ausführen. Das Zähneputzen zum Beispiel war, wenn er es gründlich machen wollte, mit vorgehangenem Tuch sehr schwer aber er arbeitete daran. Es war ja noch nicht lange her, seit er ihn das erste Mal gesehen hatte.
Wenn er es am Abend schaffte, sich in den Schlaf zu trinken, und es zudem regnete, denn er konnte nur schlafen wenn es regnete, dann war das Aufwachen die erschreckende Bestätigung seiner Existenz, er wusste das er da war, immer wenn er in den Spiegel sah. Er blinzelte und lachte. Er gab ihm Zeichen, die er nicht deuten konnte.
Wenn er schlief trieb es ihn weit weg.
An diesem Morgen also wachte er auf bevor das Licht unaufhaltsam kommen würde, verrichtete die nötigen Handlungen und trat zunächst auf den Hausflur hinaus. In den gleissend hellen Neonröhren an der Decke hatten sich wieder neue Motten verfangen, sie tanzten ihren letzten Tanz.
Der Boden war blau und hatte eine Schraffur die ihn an die Linien auf den Innenseiten seiner Hände erinnerte. Er lief an den leuchtend weissen Türen der anderen Bewohner vorbei und trat ins Freie.
Das Licht war noch nicht da.
Es regnetete nicht mehr. Deswegen war er aufgewacht.
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