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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 05.02.2007, 12:54   #1
Samael
 
Dabei seit: 01/2006
Beiträge: 44

Standard Gedankenwahn

Ich bin gerade verwirrt, weil ich nicht genau weiß, wohin dieser Text passt. Sollte er also irgendwo besser hinpassen, dann bitte verschieben.


Gedankenwahn

Er liegt auf seinem Bett. Das Gesicht drückt sich mit sanfter Gewalt auf das Kissen. Es ist ein schwüler Raum, stickig und klein. Dunkelheit umhüllt sein Sein, doch Licht erweicht sein Inneres. Die Gedanken halten ihn wach. Er fühlt sich nicht wohl dabei, was er zu denken scheint. Was er zu fühlen glaubt. Was er sich einbildet, zu wissen. All diese Informationen, die er nach und nach aufgenommen hat, schwirren in seinem Kopf umherr. Und nur eine entscheidende Frage stellt er sich, deren Antwort er nicht finden kann. Es ist schon die schlimmste Ironie, wenn man auf fast alles die Antwort kennt, doch nur auf die entscheidende Frage, welche die eigene Existenz prägen wird, nichts zu sagen weiß. So bündelt sich Zweifel; Ängste werden geboren! Unwissenheit tangiert die Frage und schürrt ein unwohles Gefühl im Bauch. Dabei könnte es ein ausgewachsene Feuer sein, welches sich im Herzen entfachen lässt. Ja, "lässt". Wenn nur jemand ein Streichholz greifen und es anzünden würde.

Es ist 3:38 Uhr. Zu spät, um nochmal aufzustehen und sich die intelligenzfressenden Werbespots im Fernsehen anzuschauen. Sie sind die pure Hirnerweichung, doch schaffen durch hohle Phrasen und mangelnden visuellen Zwang einen Freiraum zum Nachdenken. Keine Zerstreuung mehr, sondern eine Möglichkeit zum definieren. Wo stehe ich? Was will ich? Wird es passieren? - Fragen, die auf diese Weise nicht beantwortet werden können.
Es ist nun 3:41 Uhr. Zu früh, um schon aufzustehen und bei einer Tasse Kaffee sich dem morgendlichen Grauen hinzugeben. Anziehen, waschen, Haare gestalten. Das Ritual des Normmenschens. Jeden Tag erblickt man die fleischliche Hülle seiner Existenz, die nicht im Ansatz das geprägte Ego repräsentieren kann. Verwesung, - die Zeit fordert ihren Tribut! Was noch vor ein paar Jahren stramm und glatt im Gesicht wahr, wuchert jetzt durch faule Hautlappen und kurze Haarspitzen. Haarspitzen, die sich auf eine Stufe stellen mit Nina Hagen und Dieter Bohlen, weil man sie absägen kann, so oft man will: Doch sie kommen zurück! - Sarkasmus der heutigen Gesellschaft. Man sägt, man schneidet und man spürt den Schmerz. Der langsame Schmerz, der entsteht, wenn man mit einer Klinge die weiche Oberfläche durchdringt und in sein eigenes Fleisch schneidet. Das Blut tropft sachte herab, fließt über das Gesicht. Reflexartig greifen wir nach einem Tuch, um die Rechtfertigung des Schmerzgefühle aus unserem Gesicht zu wischen. Würden wir eine Sekunde darüber nachdenken, was wir da tun, würden wir das Blut weiter über unser Gesicht laufen lassen. Doch stattdessen geben wir uns dem Automatismus hin, dem Ritual der Feigheit, um unsere Anpassung zu repräsentieren. Wir nehmen ein Tuch und wischen uns das Blut aus unserem Gesicht, obwohl sich Milliarden von Mikro-Bakterien auf diesem Tuch befinden. Durch die Wunde erhalten sie Einzug in unsere Blutlaufbahn und können beitragen, unserer äußeren Hülle, die mehr und mehr einem verfaulten Wurm gleicht, zum Verfall zu verhelfen. Nein. Verfall ist hier das falsche Wort, denn dafür ist die Zeit verantwortlich. Die Zeit selber lässt uns zu dem verfallen, was wir wirklich sind. Primitive Maden, die sich hinter einer Show verbergen. Schauspieler und "Lebenskünstler" in der Rolle unseres eigenen Lebens. Wir schreiben unsere eigene Biografie in einer Welt, die wir uns selber schaffen. Voll mit Wut, Hass und Leid.

Ich drehe mich um. Der Blick auf die Uhr weckt in mir nur Erwartung. Erwartung, dass es bald eine Zahl zeigt, die mir sagt, dass ich mich meiner entsetzlichen Krankheit hingeben kann, um den Gedankenkreis für ein paar Stunden anhalten zu können. Es ist primitiv, wie man sich verstecken kann. Noch primitiver ist es, dass man es auch wirklich in Erwägung zieht. Das eigene Fleisch, verpackt in einem Business-Dress, verschnürt in einer Krawatte. Das Highlight sind die Schuhe. Glänzend präsentieren sie ein gepflegtes Äußeres, obwohl das Innenleben schon lange abgestorben ist. Gespieltes Selbstbewusstsein gepaart mit purer Arroganz präsentieren die Resignation der Ewigkeit. Es ist hier. Es ist heute. Doch wir sehen es nur Morgen, weil wir zu erbärmlich sind, um uns umgehend mit der Wahrheit zu befassen. Deswegen verstecken wir uns in Designer-Anzügen, in unseren Lackschuhen, glänzend vor Reinlichkeit, um als Heuchler unserer Generation zu dienen. Abschaffung des Ritus? Beweisführung einer veralteten Generation, die sich selber verloren hat? So wollten wir es besser machen, doch integrierten uns in die unendliche Irreführung des Kapitalistentums. Wir integrierten uns, um unsere eigene Persönlichkeit zu verkaufen. Von mir aus könnte man auch "verleugnen" sagen, denn es läuft beides auf das Selbe hinaus. Wir wollten eine Revolution und verschlechterten die Diktatur des Repräsentantentums. Erbärmlich verstecken wir uns nun und wimmern um Erbarmung, wenn wir mit einem Gefühl konfrontiert werden, welches unser Inneres nach Außen drängt. Wenn Gefühle zu einem Problem werden und wir nicht wissen, ob wir uns diesen hingeben sollen. Der Teufel ist die Verführung, weil er uns diese Zweifel brachte? Nein. Wir bringen sie uns selber, durch unentschlossenes Verhalten und durch ein permanentes Aufschieben der Lösung.

Noch immer bin ich wach. Ich stehe auf und schleppe meine lapprige Hülle ins Wohnzimmer. Wohnzimmer? Ich wohne hier nicht. Ich bin nur hier, um zu vergessen, dass mein Leben schon seinen Höhepunkt überschritten hat. Die dreckige Couch, welche einen Geruch von Moder in sich birgt, vereint den Eindruck. Fliegen umgarnen mein Gesicht, doch stören sich mich nicht. Es sind auch nur erbärmliche Wesen, welche zudem noch unfähig sind, zu kapieren, dass sie schon tot sind.
Meine Hand greift nach einer Zigarette. Ich tausche den Glanz meiner äußeren Hülle gegen einen Moment von Beruhigung. Der erste Zug ist reine Show. Ich stecke mir die Kippe in mein orales Aufnahmzentrum und betätige das Rad an meinem Feuerzeug. Eine Flamme kommt zum Vorschein, welche die Zigarette zum lodern bringt. Ich ziehe am dreckigen Filter, auf dem sich bestimmt weitere Bakterien angesammelt haben und blase den blauen Dunst in das heruntergekommene Zimmer. Ist der Dunst deutlich sichtbar, so befindet sich die Zigarette im Kreislauf des Lebens. Sie wird als Mittel zum Zweck mißbraucht. Wir können deutlich sehen, wie sie ihre Potential verliert. Der dritte Zug ist der Höhepunkt; der letzte Zug nur obligatorische Freundlichkeit, um nicht Tabak zu verschwenden.

Das zentrale Nervensystem wird betäubt. Die Entspannung durchschreitet unsere Glieder und wir können die Gedanken fassen, die uns eine schlaflose Nacht beschert haben. Wir haben zwar keine Antwort auf die Frage erhalten, die uns über Wochen, nein, Monate, beschäftigt hat, doch wir erfreuen uns an einem Aufschub. An einem Aufschub, der weitere Zweifel schürrt und uns beweist, dass wir einfach zu schwach sind, um das Unvermeindliche anzunehmen. Entscheidungsfreiheit? Unsere Freiheit ist geprägt von Lethargie. Entscheiden wir uns nicht sofort und richten unser Handeln danach aus, so entscheiden wir uns nie. Das, was dann kommt, ist der konsequente Schmerz, den wir verdient haben. Es gibt immer nur zwei Möglichkeiten: Ja oder nein! - Entscheiden wir uns nicht, so haben wir es verdient, dass unser erbärmliches Sein mit Kummer abgestraft wird. Mildernde Umstände gibt es nicht.
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