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Alt 31.05.2006, 15:06   #1
cute_fighter
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 1.123


Standard Der Spiegel des Seins

Der Spiegel des Seins

Die glatte Oberfläche des Sees erstreckte sich vor den Augen der jungen Frau. Eine mysteriöse Oberfläche, mal spiegelte sie das Leben, mal konnte man in das Wasser hinabschauen. Nebelschwaden zogen sich über die glasige Oberfläche und verhüllten die kleine Insel in deren Mitte. Sie beugte ihr Gesicht langsam über das kühle Nass und erstarrte kurz über der Wasseroberfläche in ihrer Bewegung. Sie konnte die Umrisse ihres Gesichtes genau erkennen, doch gleichzeitig sah sie den dunklen, felsigen Grund des alten Sees. Ein Spiegel, der ihr zwei Dimensionen zeigen konnte. Zwei Welten, die manchmal aufeinander trafen und nur von dieser glatten Oberfläche getrennt wurden.
Eine kleine Welle verzerrte ihre Konturen und sie sah erstaunt auf. Kein einziges Tier war in der Nähe gewesen, welches das klare Wasser hätte aufwühlen können. Die Wellen kamen von einem kleinen Stein, der weite Kreise über das Wasser bis zum Ufer gezogen hatte. Es waren nur sehr kleine Wellen, doch sie verzerrten ihr die Sicht auf ihre zwei Dimensionen und verschleierten ihre Gedanken wieder, die gerade unwirklich in ihrem Kopf aufgetaucht waren.
Als ihr Augen verwundert an den Uferstreifen wanderten, konnte sie gegen die untergehende Sonne einen schwarzen Schatten entdecken. Hochgewachsen sah er von unten aus, doch die Frau erkannte ihn sofort an seiner Art. „Was machen Sie hier? Sie haben gerade den Eingang in die andere Welt zerstört.“ Der andere sah sie verständnislos an, doch dann schien er zu verstehen dass sie von den kleinen Wellen geredet hatte. „Irgendwie musste ich doch Ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich ziehen. Sie saßen erneut so reglos da und außerdem war es gar keine Absicht.“ Die Frau legte ihren Kopf leicht schief und eine blonde Strähne fiel ihr in die Stirn.
Sie hatte ihn hier schon öfters getroffen und jedes Mal hatte er auf irgendeine Weise ihre Träumereinen unterbrochen, die sie so sehr mit diesem geheimnisvollen See verbanden. Wie gerne würde sie ihn jetzt in die Arme schließen, auch wenn er ihr Traumbild erneut zerstört hatte. Seine Seele hatte etwas an sich, was ihr oft zu denken gab, sogar nachts ihre Träume aufwühlte. Aber es ging nicht, sie kannte ihn doch kaum und er würde es bestimmt nicht billigen. Sie würde ihm nie wieder in die Augen sehen können, wenn sie so plötzlich ihre Gefühle zeigen würde, bei denen sie sich noch nicht einmal sicher sein konnte.
Wenige Minuten später sah sie, wie seine Gestallt mit dem Schatten der Nacht verschmolz. Sie hatten erneut kaum ein Wort gewechselt, nur ihre Blicke hatten sich gegenseitig gefesselt und eingehüllt. Aber wie jedes Mal verschwand er wieder, verschwand mit den Zügen der Nacht.
Jedes mal stimmte sie sein Verschwinden traurig, doch gleichzeitig bildete sich immer ein wenig Wut auf ihn, weil er sie einfach alleine ließ. Doch immer, wenn sie sich wieder sahen, vergab sie ihm.
Ohne ihre Gefühle zu verstehen wanderte ihr Blick wieder auf den dunklen Spiegel des Wassers. Man konnte durch die Dunkelheit nicht mehr hinab in die andere Welt sehen, doch trotzdem zauberte das Wasser noch für sie.
Es blitzten Schatten und Schemen auf der Oberfläche auf, die sie noch nie gesehen hatte. Figuren, die ihr zeigten, wie es drüben sein musste.
Drüben – so nannte sie manchmal in ihren Gedanken die geheimnisvolle Welt zwischen ihrem Dasein und der Wasserwelt.
Sie war überzeugt, dass es sie gab. Doch jedes Mal, wenn sie kurz davor war, dort einzudringen, tauchte dieser seltsame Mann auf. Mit seiner Art hatte er sie immer wieder aufs Neue verzaubert. Gerade, als ihre Gedanken wieder zu ihm gewandert waren, tauchten seine funkelnden Augen in dem Spiegel vor ihr auf und da wusste sie es auf einmal. Es war so offensichtlich.
Er war diese Welt.
Er war die Welt, in die sie wollte.
Ihr fiel auf, dass sie erst angefangen hatte, diese Spiegelwelt zu entdecken, als sie ihn kennen gelernt hatte.
Ein zaghaftes Lächeln überzog ihre Lippen, sie würde ihn bald wiedersehen und wusste, wenn er in diese andere Welt verschwinden würde, würde er sie nicht hier vergessen.
Sie hoffte darauf.
Es tat unendlich gut, diese pulsierende, wärmende Hoffnung durch ihre Adern strömen zu lassen und zu glauben, das Rätsel ihrer Träume und der Spiegelwelt des Seins gelöst zu haben, auch wenn ihre Vermutungen vielleicht nicht stimmten.
Ihr Herz sehnte sich bereits nach dem nächsten Moment, in dem er die Oberfläche ihrer Gedanken durchstoßen würde, denn in ihr Herz hatte er sich bereits eingeschlichen, ohne dass sie es gemerkt hatte. Erst jetzt hörte sie die knarrenden Schritte seiner verhüllten Gestallt auf der Treppe ihrer Seele.
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