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Alt 20.05.2006, 13:30   #1
cute_fighter
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 1.123


Standard Das Wiedersehen

Das Wiedersehen

Das unregelmäßige Surren einer nahenden U-Bahn drang in Xenias Ohren. Die U-Bahnstation war wie ausgestorben zu dieser nächtlichen Stunde. Die Hände des Mädchens ruhten zitternd gefaltet auf ihren Knien. Sie wartete angespannt auf die Circle Line, sie musste hier endlich weg. Die U-Bahn die jedoch gerade langsam ihren Kopf an ihr vorbeirattern ließ war die falsche Linie. Zum hundersten Mal wanderten ihre rot angelaufenen Augen zu der kleinen Anzeige über den nahen Bänken. Noch zehn Minuten. Warum musste ihre Bahn auch gerade an diesem Abend verspätet eintreffen? Schon wieder drangen diese Gefühle in sie ein, Gefühle des beobachtet Werdens und der spürbaren Gefahr. Normalerweise verließ sie sich nicht auf ihre Wahrnehmung, denn allein auf einem Bahnsteig spielten die Gedanken einem gerne einmal Streiche, doch heute war es anders. Heute schien alles anders zu sein.

Das Metall der U-Bahn glänzte nass, Xenia bemerkte, dass es draußen regnen musste, wie so oft zu dieser Jahreszeit. Ein lautes Donnern ließ die 16-Jährige erschrocken zusammenfahren. Ihr Herz pochte wild und stürmisch in ihrer Brust. Nur ein Gewitter, nichts weiter, versuchte sie sich einzureden. Die U-Bahn setzte gerade wieder dazu an, weiter zu fahren, als sich ein junger Mann aus einer der gerade schließenden Türen schlängelte. Seine Gesichtszüge kamen ihr irgendwie bekannt vor, doch vielleicht war es nur eines der vielen Gesichter denen sie tagtäglich auf der Straße begegnete. Sie versuchte nicht zu verkrampft auszusehen, obwohl ihr die Anwesenheit des Mannes noch weniger behagte als ihr eingebildeter Verfolgungswahn.

Krampfhaft versuchte Xenia nicht zu offensichtlich auf den anderen zu starren und bemerkte nur aus den Augenwinkeln, dass er sich ihr näherte. Fieberhaft suchte sie erneut mir den Augen die Anzeige, doch diese zeigte ihr auch nichts Neues. In acht Minuten könnte sie endlich von hier verschwinden. Nach Kings Cross und von dort dann richtung Flughaften. Sie hatte lange genug in diesen armen Vierteln gejobbt, es war Zeit, ein neues Leben anzufangen. „Wissen Sie, wo ich diese Adresse finde?“ Xenia zuckte erneut erschrocken zusammen. Sie hatte den Mann ganz vergessen. Zögernd und vorsichtig blickte sie auf und las den kleinen, verschmierten Zettel, auf dem sich eine Londoner Adresse wiederfand. Xenia nickte und fragte trocken: „Was wollen Sie dort?“, sie hatte die Adresse sofort erkannt und Verwunderung machte sich in ihr breit. Ihre alte Neugier klopfte wieder an und sie sah nun aufmerksam an dem jungen Mann empor. Als er sich überlegend zu ihr hinunterbeugte, rutschte ein kleiner Anhänger unter seinem Poloshirt hervor. Xenia sog aufgeregt die stickige Luft des Bahnsteigs ein. „Jemanden besuchen...“, deutete der andere wage an, doch Xenia brauchte keine weiteren Erklärungen. Ohne etwas zu antworten griff sie schweigend nach seinem Anhänger. Er wollte zurück weichen, doch dann ließ er sie doch gewähren. Xenia musste innerlich lächeln, denn jeder, der London gut genug kannte, wusste, dass man Fremden nicht vertrauen konnte, doch der Mann wusste es offensichtlich nicht.
Die schlanken Finger der jungen Frau glitten fasziniert über das halbe Silberherz, bevor sie dem anderen schließlich fest in die Augen sah. Ein glückliches Lächeln erwärmte ihr Gesicht, doch ihre noch nicht verstehen wollenden Gedanken wurden von einem lauten Rattern unterbrochen. Eine U-Bahn fuhr auf den nahen Bahnsteig. An der Seite konnte Xenia den bekannten Schriftzug der Circle Line erkennen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie musste weg von hier, denn auf diesem Bahnsteig war sie nicht mehr länger sicher, doch sie konnte den Mann ihr gegenüber nicht hier stehen lassen. Ohne Vorwarnung richtete sich Xenia auf und fasste den erstaunten Mann bei der Hand. „Kommen Sie mit, ich werde sie dorthin bringen.“ Erstaunt wollte er sich wehren, doch ihre schmalen Hände waren stärker, als er geglaubt hatte und schon wenige Minuten später sah er sich in einem leeren U-Bahn Abteil wieder. Er war sich ganz sicher gewesen, dass er richtig gewesen war und fragte sich langsam wer diese Fremde war.
Xenia beantwortete ihm diese Frage ohne Vorwarnung. Sie zog unter ihrem tiefausgeschnittenen T-Shirt ebenfalls eine Kette hervor. Sie war ein fast perfektes Ebenbild der anderen, wenn das Herz nicht die andere Seite zeigen würde. „Hier ist die Person, die du suchst, Dan.“ Dan sah sie ungläubig an und nahm ihren schäbigen Anhänger so in die Hand, wie sie es kurz zuvor mit seinem gepflegten Gegenstück getan hatte. „Du... bist meine Schwester?“ Dan musterte sie ungläubig. Er hatte sie das letzte Mal gesehen, als sie gerade 3 Jahre alt gewesen war. Seit dem waren sie getrennt aufgewachsen, doch er war sofort nach seinem Abitur nach London gereist, um sie zu finden. Er hatte ihre Adresse kurz vor ihrer Trennung zugesteckt bekommen und sonst hatte er nur die Kette als Erinnerung an Xenia. Ein glückliches, warmes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Wie Xenia dieses Lächeln doch vermisst hatte. Sie umarmten sich schweigend und vergaßen ihre schäbige Umgebung des ratternden U-Bahn Abteils. Die Welt um sie herum schien sich zu drehen in einem Strudel aus Glück und Harmonie. „Wir müssen hier weg.“, flüsterte Xenia ihrem Bruder zu. Dieser nickte nur, er hatte schon genug von London in den letzten Tagen gesehen. Es war eine prächtige Stadt, doch dies hatte ihn nicht blenden können, denn er hatte immer nur noch seiner Schwester gesucht. Als er sie so allein auf dem Bahnsteig gesehen hatte, hätte er sie niemals erkannt, doch wenn er nun in ihre Augen sah, fanden sich Bilder der Vergangenheit in seinen Gedanken wieder. Die starke Liebe der beiden durchströmte das wankende Fahrzeug und Xenia kamen die Schatten der U-Bahn Tunnel nicht mehr ganz so düster vor wie all die Jahre zuvor. Es war, als hätte jemand ein Licht angezündet, tief in ihrem Herzen, welches nun sogar ihre alltägliche U-Bahn Fahrt erhellte. Doch heute würde sie an einen anderen Ort fahren, zusammen mit ihrem Bruder.
Wenige Minuten später blendeten die hellen Lichter von Kings Cross die beiden Fahrgäste. Sie mischten sich unter den Strom der Leute, der selbst zu dieser Uhrzeit in Kings Cross unterwegs war und ließen sich lächelnd treiben in richtung eines neuen Lebens.




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war eigentlich für einen Wettbewerb, ist aber zu kurz geraten...freu mich über meinungen und kommentare, wie immer )
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