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Alt 21.01.2006, 19:38   #1
Silberwölfin
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 59


Standard Wortreich

Mal sehen, wie weit ich damit komme. Vielleicht bieten mir ein paar Kommentare und Kritiken von euch ja einen Ansporn.

Kapitel 1

Aramis knipste das Licht aus. „Gute Nacht!“, hauchte er in die Dunkelheit, bevor er die schmale Treppe in seine Wohnung hinaufstieg. Wie immer kam es ihm so vor, als würde im Dunkeln des Antiquariats ein Wispern und Tuscheln erklingen, kaum dass seine Stimme verhallte. Es war Einbildung, nur ein Traum, eine Personifizierung der Bücher, das wusste er. Immerhin war es jedoch eine schöne Vorstellung.
Aramis war Antiquar. Der letzte seiner Art, wie er gerne sagte. Tatsächlich gab es in der ganzen Stadt kein einziges anderes Antiquariat mehr, wahrscheinlich nicht einmal mehr im ganzen Land. Es war auch nicht mehr nötig. DVDs und Hörbücher hatten die papiernen Geheimnisträger längst ersetzt. Zunächst waren es nur ein paar, man sah sich Filme an oder kaufte sich eine CD, auf der der Autor selbst sein Werk vorlas, so wie er es sich vorstellte. Dann wurden die Filme und Hörbucher und eBooks immer mehr, bis sie schließlich das Taschenbuch und das gebundene Buch verdrängt hatten.
All die anderen Dinge waren viel neuer, aktueller und sie brauchten längst nicht so viel Platz. Das Beste war aber: man musste sie nicht einmal mehr lesen. Allmählich begannen die Menschen, das Lesen zu verlernen. Die Kinder lernten es in der Schule, damit sie wenigstens in der Lage waren, die Zeichen auf dem Bildschirm zu verstehen, aber es galt als antiquiert, als tot. Wie man einst aus Gründen des Gebildet-seins die Sprache der alten Römer erlernte, so lernte man nun das Lesen. Aber in dem Maße, in dem die Menschen das Lesen verlernten, verlernten sie auch das Träumen. Alle Träume wurden ihnen bereits vorgefertigt präsentiert, es gab keine Notwendigkeit mehr, sich etwas selbst vorzustellen. Die wenigen die noch träumen konnten wurden hochbezahlte Geschichtenerfinder. Sie dachten sich die Handlungen der Filme und Hörbücher aus. Man hielt sie für Genies und Künstler, aber in Wirklichkeit mischten sie nur noch das neu, was bereits in den alten Zeiten von Autoren geschrieben worden war.
Nur noch Altertumsforscher und andere Verrückte benötigten Bücher. Wer ein Buch brauchte, der ging zu Aramis. Nur Aramis kannte die einsamen Verstecke, in denen die letzten vergessenen Bücher ihr trostloses Dasein fristeten. Er hegte und pflegte sie und wenn jemand kam, den er für würdig hielt, das Buch zu besitzen, dass er verlangte, dann verkaufte er es ihm. Sie nannten Aramis den Hüter der Bücher, aber er lachte nur darüber.
Wer nun denkt, dass Aramis alt wäre, weise und ergraut, der täuscht sich gewaltig. Er war jung, sehr jung sogar. Seit gerade zwei Jahren machte er seinen Job, den er von seinem Großvater geerbt hatte. Der Alte Salomo war genau so gewesen, wie man sich einen Antiquar vorstellte. Zusätzlich war er noch ein wenig verbittert, weil niemand sich für seine Arbeit interessierte. Niemand als sein Enkel Aramis, der nur auf diesen Namen hörte, weil Salomo seine Tochter dazu gebracht hatte, ihn so zu nennen.
Er hatte sie erpresst. Sie war abhängig von seinem Geld, verlassen vom Vater ihres Kindes und bereits in jungen Jahren todkrank. Salomo hatte ihr nun auch noch ihren Sohn genommen, hatte sich um Aramis gekümmert, hatte ihm das wahre Lesen beigebracht und hatte die teuren Behandlungen seiner Tochter bezahlt.
Eines Tages, seine Mutter war schon lange in einem Krankenhaus, dass weiß und kalt war, sodass sich Aramis davor fürchtete, sie zu besuchen, hatte der Großvater Aramis erklärt, dass sie nicht mehr kommen würde. Sie war in dem bedrohlichen Bett gestorben. Aramis war nicht sehr beeindruckt von dem, was ihm Salomo behutsam beizubringen versuchte. Er hatte seine Mutter kaum gekannt, sie war nicht mehr für ihn, als eine Verwandte seines Großvaters. Er war nur froh, dass er nun bei Salomo bleiben konnte und nie mehr in das weiße Haus des Todes zurückkehren musste.
Bei Großvater Salomo ging es ihm gut. Sie hatten nicht viel Geld, alles was sie entbehren konnten war in die Medikamente der Mutter geflossen, aber sie waren glücklich.
Doch auch Salomo wurde alt und starb und Aramis stand alleine da. Ohne darüber nachzudenken führte er die Arbeit seines Großvaters fort. Was hätte er auch sonst tun sollen? Er begrub ihn neben seiner Tochter und ab und an besuchte er sein Grab und erzählte ihm, wem er welches Buch verkauft hatte. Allzu viele verkaufte er ja nicht. Dann hatte er immer das Gefühl, dass der alte Salomo ihm von irgendwoher zustimmte. Das beruhigte ihn.
Aramis Leben war nicht besonders abwechslungsreich, aber das brauchte es auch gar nicht zu sein. Er hatte ja seine Bücher. Millionen geheimnisvoller Welten standen ihm offen, wann immer er es wollte. Aramis durchwanderte sie wie ein König sein Reich durchreist. Er kannte sie alle und lernte doch immer neue Seiten von ihnen kennen. So blieb es, bis zu dem Tag, an dem ein Gewitter über der Stadt niederging.
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Alt 21.01.2006, 19:39   #2
Silberwölfin
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 59


Kapitel 2

Man hörte das Donnern im Innern des Antiquariats kaum und auch die Blitze nahm man nicht wahr. Das Antiquariat hatte kein Fenster. Salomo hatte Aramis oft Geschichten darüber erzählt, hatte ihm erklärt, dass in seinem Antiquariat das Licht immer gedämpft sein müsse, damit die Bücher nicht scheu würden. Nur so lange sie im Halbdunkel sein konnten, wären die Bücher glücklich. Also hatte das Antiquariat kein Fenster und eine schwere Tür aus dunklem Holz, damit kein Kunde die Türe so weit öffnen würde, dass zu viel Licht hineinfallen könnte.
Aramis saß, wie meistens, im Lichtkreis seiner Leselampe. Er las jedoch nicht, das ferne Donnern hatte ihn aus seiner Traumwelt gerissen und es ihm unmöglich gemacht, wieder zurück zu finden. Er hatte das Buch weggelegt, in dem er gerade las, da er wusste, dass es sinnlos war, jetzt weiterzulesen. Gedankenverloren starrte er ins Leere.
Plötzlich öffnete sich die schwere Tür einen Spalt weit, man hörte das Prasseln des Regens und einen lauten Donnerschlag, dann fiel sie wieder ins Schloss. Aramis erhob sich, um sich die Sache einmal anzusehen. Wenn die Tür von alleine aufgegangen war, musste er Sorge tragen, dass sie repariert werden würde, bevor der Herbst kam und mit ihm beißende Windhauche und feuchtkalter Nebel.
Als er die Tür öffnete sah ein kleines Mädchen von etwa neun Jahren ängstlich zu ihm hoch. Sie war pudelnass, ihre hüftlangen braunen Haare trieften geradezu und sie trug nur ein leichtes Baumwollkleid, dass ihr an der Haut klebte. Auf ihrem Rücken hing ein Rucksack, der viel zu groß für sie zu sein schien. Aramis unterdrückte seine erste Verwunderung und bat sie herein. Zögernd, aber glücklich, folgte sie ihm ins Antiquariat. Kaum dass sie aus dem Gewitterregen heraus war und Aramis die Tür hinter ihr geschlossen hatte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
„Möchtest du deinen Rucksack nicht abziehen? Ich hole dir ein Handtuch.“, sprach Aramis seine junge Besucherin freundlich an. Sie antwortete nicht. Leicht verwirrt ging Aramis in die Wohnung. Als er mit einem großen Handtuch zurückkam, stand das Mädchen immer noch am selben Fleck. Den Rucksack hatte sie nicht abgestellt.
Sie sah verstört aus. Flackernd und zuckend wie kleine Flammen im Wind flogen ihre Augen über die Regale voller Bücher. Aramis lächelte sie beruhigend an. „Du wirst dich erkälten.“ Behutsam zog er sie an die Heizung. Langsam, wie im Schlaf nahm das Mädchen den Rucksack ab. Aramis hielt ihr das Handtuch hin. Scheu sah sie ihn an.
„Sind das alles deine?“ Ihre Stimme klang hell und klar, wie reines stilles Wasser. Ihre Augen schossen nicht mehr wild umher, sondern blickten ihn starr und fast beschwörend an. Sie waren dunkelbraun, undurchdringlich und groß. Der Blick machte Aramis unwillkürlich etwas nervös. „Sie ist doch nur ein Mädchen!“, schalt er sich in Gedanken. „Diese Bücher.“, wiederholte das Mädchen. „Gehören sie alle dir?“ Aramis sammelte sich. „Ja, sie gehören mir.“
„Ich habe noch nie so viele Bücher an einem Ort gesehen.“Staunend sah sich das Mädchen um, diesmal ohne das nervöse Zucken in ihren Augen. Ruhig und hellwach strich ihr Blick über die langen Regalreihen, um schließlich wieder zu Aramis zurückzukehren. „Bist du ein Zauberer?“
Aramis konnte sich ein leises Auflachen nicht verkneifen. „Nein, Kleine, ein Zauberer bin ich nicht. Ich bin Antiquar. Ich verkaufe Bücher. Manchmal kaufe ich auch welche, aber nur sehr selten, denn eigentlich gehören die meisten Bücher, die es noch gibt, mir.“
„Also bist du doch so etwas wie ein Zauberer. Zauberer sammeln seltsame Bücher in fremden Sprachen, die in Schriftzeichen geschrieben sind, die nur Zauberer lesen können.“ Das Mädchen nahm ein Buch aus dem Regal, dass in kyrillischen Zeichen gedruckt war und schlug es auf.
„Das ist kein Zauberbuch. Es ist ein Gedichtband.“ Aramis legte ihr das Handtuch um die Schultern.
Das Mädchen stellte das Buch wieder ins Regal und begann, sich die Haare abzutrocknen. „Mein Großvater hat auch ein Buch. Nur eines. Er sagt, es sei das Buch der Bücher. Es heißt „Die Bibel“ und ist sehr alt und sehr wertvoll. Aber er liest nie darin. Er hat es hinter eine Glasscheibe gelegt, damit niemand es anfassen kann.“
Aramis lächelte. „Meine Bücher sind frei. Ich habe auch eine Bibel, wenn du möchtest kannst du darin lesen.“ Das kleine Mädchen wurde plötzlich sehr verlegen.
„Ich...“, sie sprach jetzt sehr leise. „Ich kann nicht besonders gut lesen. Eigentlich fast gar nicht. Ich kann auch nicht gut schreiben. Meine Mutter sagt, ich habe eine Krankheit, die Lese-Rechtschreib-Schwäche heißt. Sie sagt auch, das sei nicht schlimm. Viele in meiner Schule haben diese Krankheit.“
Plötzlich tat das Mädchen Aramis leid. „Dabei mag ich Geschichten. Ich habe so viele Geschichten im Kopf, aber ich kann sie nicht aufschreiben. Wenn ich von ihnen erzähle lachen die Erwachsenen nur darüber. Ich möchte Geschichtenerfinderin werden, aber wie soll ich das machen, wenn ich nicht lesen und schreiben kann.“ In ihre Augen traten Tränen.
„Vielleicht liegt es daran, dass du die Seele der Worte nicht mehr fühlen kannst. In der Schule, da lernt ihr das wahre Lesen nicht mehr. Das wahre Lesen lernt man nur aus Büchern. Natürlich nur, wenn sie nicht hinter einer Glasscheibe versteckt werden.“
„Meinst du denn, ich könnte das wahre Lesen lernen?“
„Wenn du es wirklich möchtest.“
Das Mädchen sah die Bücher an, die in einem Regal neben ihr standen. „Das wäre schön.“, murmelte sie. Da fasste Aramis einen Beschluss.
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