Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 07.01.2006, 17:10   #1
Pykniker
 
Dabei seit: 01/2006
Beiträge: 11


Standard Der Schwarzfahrer

Es war eine von diesen neuen S-Bahnen - die noch Grimmiger, als es sowieso jedes Gefährt tut, wenn es aus einem Tunnel kommt, schaut - in die Franz an jenem Tag, nach dem Schulunterricht einstieg, um nach Hause aufs Land, wo er bei seinen Eltern und seinen beiden Schwestern wohnte, zu fahren.
Schreitend durch den Gang um einen Sitzplatz zu bekommen, denn stehen kam für ihn nicht in frage, schließlich hatte er noch einige Zeit zu fahren und die Kosten für die Fahrt, die ohnehin viel zu hoch seien, wie er dachte, rechtfertigten auf jeden Fall einen Sitzplatz in angenehmer Gesellschaft. Also nicht neben einer dieser älteren Herrschaften, die ihn schon beim Vorüberschreiten, mit ihren Blicken aufmerksam musterten und sich insgeheim darüber echauffierten, wie man sich nur so in der Öffentlichkeit zeigen könne, mit diesen schlecht geschnittenen Haaren, dem zu großen Pullover, den Franz von seinem Vater bekommen hatte, weil er ihm nicht mehr passte und den abgetretenen Schuhen, die er seit einigen Jahren zu tragen pflegte. Nicht das Franz und seine Familie nicht in der Lage wären ihm dem Vermögensstand nach, welcher einem guten Mittelstand entsprach, ordnungsgemäß zu kleiden. Franz legte darauf nun mal keinen besonderen Wert.
So schritt Franz weiter, bis er den für ihn richtigen Platz neben einem, wie ihm schien, über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten, recht anzüglichem jungen Fräulein fand und sich neben sie, ohne große Aufmerksamkeit zu erregen, setzte. Das Fräulein war eifrig damit beschäftigt etwas ununterbrochen und mit einem klarem Ziel in ein kleines schwarzes Buch zu schreiben, welches keine linierten Seiten enthielt, deshalb legte das Fräulein hinter die zu beschreibende Seite ein liniertes Papier, um das Schriftbild welches Franz sehr gut gefiel, da die Buchstaben stets leicht nach rechts gekippt waren, was wiederum auf einen starken Charakter der Person hindeutete, wie Franz letztens in einem Zeitungsartikel gelesen hatte, in Zaum zu halten. Franz hatte dabei den Eindruck als ob das Fräulein das Geschehen in der Bahn zu Dokumentieren versuchte, indem sie, nachdem sie ihren Blick durch das Abteil schweifen lies, alles was gesagt und getan wurde, in ihr kleines schwarzes Buch schrieb. Um sich seiner Vermutung sicher zu sein, versuchte Franz dem Blick des Fräuleins zu folgen, um zu sehen was sie sieht, und um im nachhinein ein bis zwei Sätze des Geschriebenen zu erhaschen und somit zu prüfen ob er tatsächlich richtig lag.
Als er nun dem Blick des Fräuleins zu folgen versuchte, kreuzte er den Blick eines jungen Mannes, der schräg rechts, auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, im nächsten Viererblock, Franz gegenüber saß und unentwegt in dessen Richtung starrte. Ob das etwas mit dem Fräulein neben ihm zu tun hatte oder ob er selbst der Grund für die Aufmerksamkeit des Fremden war, beunruhigte ihn zunächst, woraufhin er keinen weiteren Blick mehr in Richtung des Fremden zu werfen vermochte und er deshalb versuchte – ob es nun aus tatsächlicher Neugierde oder aus der Notgedrungenheit der Situation, nicht weiter in Versuchung zu geraten dem Fremden anzusehen, bleibt ungewiss – wenigstes Gewissheit über die Vermutung, die er über das junge Fräulein anstellte, zu bekommen. Doch dafür schien es nun zu spät zu sein, da das Fräulein ihre Aufzeichnungen abrupt abbrach und das kleine schwarze Buch in ihrer braunen Ledertasche, welche Franz relativ neu erschien, verschwinden ließ, aufstand und sich in Richtung Ausstieg bewegte.
„Ist sie aufgrund meiner aufdringlichen Blicke auf ihre Aufzeichnungen so abrupt von meiner Seite gewichen“, dachte Franz, „und sucht sich nun einen neuen Platz, an dem sie ungestörter ohne die Unannehmlichkeit der plumpen versuche meinerseits, etwas über ihre Schriftzüge in Erfahrung zu bringen, oder war der Grund ihres Verschwindens die bevorstehende Haltestelle?“ Zudem hatte er das Gefühl, dass auch die anderen Passagiere in seiner unmittelbaren Umgebung, vom raschen Verschwinden des Fräuleins überrascht waren und ihn dafür verantwortlich machen würden.

Auch der Fremde hatte es plötzlich eilig seinen Sitzplatz aufzugeben und geradewegs mit fliegendem Schritt, zu verschwinden, ohne Franz nochmals einen letzten Blick zu würdigen. „War auch er, der selbst die Ungeniertheit besaß hie und da zu starren, meinetwegen gegangen,“ dachte Franz, „oder war er selbst darüber beschämt, dass er für das verschwinden des Fräuleins verantwortlich sei und daraus die Konsequenz zog, sich in andere Gesellschaft zu begeben?“ Im Augenblick dieser Überlegung hörte Franz im Hintergrund die Worte, „die Fahrkarten bitte“, welche zweifellos von einem Kontrolleur stammten. Es war Glück, das Franz hatte, dass er nicht tiefer in seine Überlegungen versunken war und deshalb das Herahnschreiten der Kontrolleure bemerkte. Nicht das Franz kein Ticket besaß, es war vielmehr, nämlich eine Kopie des Originals, die er mit viel mühe, durch die Hilfe der technischen Mittel die es heutzutage gibt, für sich hergestellt hatte. Es bestand also kein Anlass nervös zu werden oder gar die Nerven zu verlieren. „Trotzdem muss man das Schicksal nicht herausfordern“, dachte Franz, und entschloss sich nun selbst seinen Sitzplatz aufzugeben und entfernte sich in Fahrtrichtung von den Kontrolleuren um den Zeitpunkt der Prüfung seiner Papiere, die einer solch harmlosen Untersuchung, dieser niederen Angestellten, natürlich standhalten würden, hinauszuzögern.
Unerwarteter weise traf er, als er am Ende des Zuges ankam, auf den Fremden, der keineswegs überrascht war Franz wieder zu sehen und entgegnete ihm sogar mit einem verschmitzen Grinsen im Gesicht und den plumpen Worten: „Hast wohl auch keine?“
„Die Frechheit des Fremden scheint grenzenlos zu sein“, dachte Franz: „Erst zwingt er durch sein unentwegtes Starren, das junge Fräulein zu gehen, und nun scheint er sich sicher zu sein, dass auch ich von der selbigen Befangenheit behaftet bin, keine Fahrkarte zu besitzen, und wir sozusagen eine Gemeinsamkeit haben.“ Sollte Franz dem Fremden widersprechen, oder ihn in dem Glauben lassen, dass sie im selben Boot sitzen?
An der nächsten Haltestelle muss Franz aussteigen und auch die Kontrolleure sind nicht mehr weit entfernt, was Franz zur Überlegung zwingt, ob er, wenn er dazu aufgefordert wird seine Fahrkarte vorzuzeigen zu sagen, dass er nicht im besitz einer solchen ist. Doch was würden dann die anderen Fahrgäste von ihm halten, die er zweifellos wieder sehen würde. Oder sollte er seinen Ausweis der Prüfung ausliefern und somit den Fremden im stich lassen, der ja zweifellos im Glauben ist, in Franz einen Gefährten zu haben, der in der selbigen Situation steckt.
Die Bahn fährt ein, und die Kontrolleure sind nur noch ein paar Schritte von Franz und dem Fremden entfernt, es handelt sich nur noch um Augenblicke bis die Frage nach den Fahrkarten auch sie treffen würde.
Pykniker ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 07.01.2006, 18:10   #2
Ra-Jah
gesperrt
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 481


Du hast die Absurdität alltäglicher Situationen feinsinnig herausgearbeitet.
Ich finde mich z.T. in der Geschichte wieder. Leider endet sie zu abrupt.
Mach doch 'n Roman draus.

Ich würd ihn lesen
Ra-Jah ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 08.01.2006, 02:15   #3
MutedStoryteller
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 307


Angenehm zu lesen.. Aber auch ich finde das Abrchen etwas aprupt. Auch wenn es hier aufhören soll. Hättes du die letzten Momente ruhig noch herauszögern können
Aber ich finde sie sonst gut geschrieben und auch die idee gut...
Das klima dort ist wirklich gut beschrieben.
MutedStoryteller ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.01.2006, 16:40   #4
Askeron
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 59


Hat mir gut gefallen. Das Ende ist wunderbar offen und wir werden wohl nur vermuten können, wie sich Franz letzten Endes entscheiden wird. Die Idee ist auf jedenfall mal was anderes. Bin schon gespannt welche Alltagsituation du dir als nächstes vornimmst.
Askeron ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der Schwarzfahrer




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.