Neun Uhr Nullneun

[Aporie]

Ich schlucke drei Kreislaufpillen und gehe ins Badzimmer, und als ich nach der morgendlichen Waschung auch das Haar herrichte, weil ich nachher aus dem Haus gehen will, um meine Mutter im Altersheim zu besuchen, entdecke ich auffällig viel Haare zwischen den Borsten meiner Haarbürste. Ich neige mich vor dem Spiegel über dem Lavabo nach unten und schaue nach oben, was sich auf meinem Haarboden tut. Beim sorgfältigen Durchwühlen mache ich gleich zwei Entdeckungen, eine bedrohliche und eine verblüffende. Meine rosige Kopfhaut greift um sich, wo vor ein paar Wochen dichtes Haar spross, scheinen mir kleine rosafarbene Lichtungen entstanden zu sein. Gleichzeitig nimmt, was unbeirrt nachwächst, einen anderen Farbton an, wie ich es bisher nur an Frauen ab etwa vierzig, die ihre ergrauenden Haare schon seit einiger Zeit nicht mehr nachgefärbt haben, sehen konnte. Aber umgekehrt: Bei mir sieht es aus, als hätte ich das ergraute Haar nur knapp über den Wurzeln eingefärbt, als wollte ich damit andeuten, dass die ursprüngliche Farbe wieder nachwächst, genauer gesagt, jene etwa um die vierzig, bereits im Stadium des ersten Grauens begriffen, schwarzgräulich also. Wie kommt es, dass mir trotz altersbedingtem oder sonst wie krankhaftem Haarausfall ein neuer Frühling vorgegaukelt wird oder zumindest eine Regression des Ergrauens? Ich wähle die Nummer meiner Dermatologin, und auf die Dringlichkeit meines Anliegens pochend, erhalte ich eine Sprechstunde im Bereich eines Notfalltermis, schon am nächsten Tag um elf Uhr fünfundvierzig. Ich lege den Hörer auf und blicke in die blühende Natur in Form meiner Terrassenpflanzen. Dann setze ich die zweite Tasse Nespresso auf, und während das aus dem Tiefkühler geholte Croissant im Backofen knusprig wird, zünde ich mir die erste Zigarette an und erstelle in Gedanken eine Liste aller Zeichen, mit denen mein Körper mich in letzter Zeit gewarnt hat, Der Schmerz im rechten Knie, der jederzeit zuschlagen kann, wenn ich zu Fuß eine Treppe hinunter gehe, gehört auch zu den Warnzeichen, nicht zu reden vom Hustenanfall, den ich kriege, als ich den letzten Zug aus meiner Zigarette tief in die Lunge einatme, bevor ich das knusprige Croissant aus dem Backofen nehme