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Alt 30.12.2005, 21:41   #1
Silberwölfin
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 59


Standard Löwenzahnsommer

Das Problem war die Grenze. Sie hatte diese Grenze nie überwinden können, obwohl sie nicht hätte dort sein dürfen. Damals hatte sie nicht einmal gewusst, woraus diese Grenze bestand, aber jetzt wusste sie es. Sie bestand aus Angst. Aus der Angst, sich zu sehr treiben zu lassen. Aus der Was-würden-meine-Eltern-dazu-sagen-Angst. Aus der Angst, dass es vorbei sein könnte, und danach käme nichts mehr. Die Angst war immer da gewesen. Sie hatte es vermasselt, wie sie alles vermasselte.
„Man muss nur wollen, dann kann man alles.“, hatte er gesagt. Immer wieder hatte er es gesagt. Immer wenn die Angst in ihren Augen schimmerte. Er hatte ihr Mut machen können, mehr als jeder andere Mensch, dem sie jemals zuvor begegnet war. Er hatte ihr so vieles beigebracht. Das Mut-haben, das Einfach-tun-wozu-man-Lust hat, das Über-die-Erwartungen-der-anderen-lachen. Er hatte ihr beigebracht, wie das ist, auf einer Löwenzahnwiese zu liegen und sich einfach nur anzusehen. Sie hatte ihn vergöttert.
Dann kam der Tag, an dem ihre Eltern es erfuhren. Sie wusste nicht, wie und woher, plötzlich wussten sie über alles Bescheid. Keine Wut, kein Streit. Nur traurige Augen. „Er ist zehn Jahre älter als du.“ Sonst nichts. Keine Mahnung, kein Verbot. Keine Regung. Dabei hätte es alles soviel einfacher gemacht, wenn sie „Nein!“ gesagt hätten.„Du wirst ihn nie wieder sehen!“ Das hatte sie erwartet. Es kam nicht. Es schien ihnen so egal. Ohne das sie es wollte tat ihr das weh.
Dann kam es doch, zeitverzögert. Sie hatten Zeit gebraucht, um zu begreifen. Es half nichts, ihnen zu erklären, dass nie mehr war, als ein Kuss auf der Löwenzahnwiese. „Du bist 15, er ist 25.“ Basta. Das genügte schon, um zu sagen, dass es falsch war.
Sie traf ihn heimlich. Nicht auf der Löwenzahnwiese, hinter den Mülltonnen. Kein Sommertraum, kein Kuss. Sie erzählte ihm alles und er schwieg. „Sag was!“, bettelte sie, „Sag doch was!“ Sie hatte gehofft, er würde die Antwort wissen. Er schwieg.
Der Traum zerbrach, bröckelte einfach in der Wirklichkeit. Heimliche Treffen, die die Zärtlichkeit nie zurückbrachten. Der Traum dauerte ein halbes Jahr, das Erwachen acht Monate. Nach acht Monaten war er fort. Sie fragte nach ihm, in der Universität. „Keine Auskünfte.“ Lapidar. Sie fuhr dorthin, eine Fahrkarte für 34 Mark. Sie bat und bettelte. „Er ist nicht mehr hier.“ Genauso lapidar. Viel schrecklicher. Keiner konnte ihr sagen, wo er war, warum er ging, ohne es ihr zu sagen. Sie wusste es trotzdem.
Jetzt wusste sie, dass sie die Grenze hätte viel früher überwinden müssen. Nun wäre sie in der Lage dazu. Aber es war, wie er es prophezeit hatte: Die Gesellschaft hatte eine Möglichkeit bekommen und sie hatte es zerstört. Es war vorbei.

Es ist drei Jahre her. Ich habe nie erfahren, wo du bist. Ich hoffe, es geht dir gut. Ich danke dir, für die schöne Zeit. Für unseren Löwenzahnsommer.
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Alt 30.12.2005, 22:23   #2
Ra-Jah
gesperrt
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 481


Die von dir geschilderte, ursächliche Angst, tragische Komponente der (autobiographischen?) Geschichte , woher gründete sie?

Die spannende Frage: ist die Ich-Erzählerin der aus der eigenen Intuition geborenen Angst vielleicht deshalb nicht tiefer auf den Grund gegangen, um die positiven Erinnerungen nicht zu trüben?

Und relativiert sie aus jenem Grunde mit den angeführten, oberflächlichen Grenzen?

Worin gründet sich der kollektive Nachklang, das Gedächtnis - die Erkenntnis! - von Generationen,
dass ein solcher Altersunterschied nicht sein soll, sein darf?

Jener Nachklang, der der Ich-Erzählerin letzlich, intuitiv, als Auslöser ihrer Entscheidung es zu beenden (bevor sie später daran wieder zu zweifeln beginnt) gilt?

Ich glaube es liegt darin, dass, jenseits

der Tatsache, dass in früheren Zeiten oft Unglück in (Zwangs-)Ehen zwischen älteren Männern und jüngeren Frauen herrschte, der sich dann in einem sozialen Erinnerungsprozess manifestierte (gleichsam dem Imunsystem der Gesellschaft),

die tiefere Ursächlichkeit in der Psyche so extrem unterschiedlich älterer Menschen und deren Zusammenwirken zu suchen ist.

Denn diese kann unter bestimmten Vorraussetzungen, (die in früheren Lebensabschnitten der jeweiligen Personen gründen) ein böses Omen auf das Ganze legen.

Und mit 25 hat man einen ganz anderen Erfahrungshorizont, aber auch vielmehr Neurotisches mitbekommen.
Die Naivität des Kindertraumes Pubertät ist dann zwecks späterer Aufarbeitung zumeist schon zynisch reflektiert worden (Ein Merkmal des Erwachsenwerdens) und das wiederrum problematisiert die Authenzität der Interaktion mit der jüngeren Person.

Denn diese kann u.U. nicht ebenbürtig erkennen.
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