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Alt 03.08.2005, 15:30   #1
Löwenzahn
 
Dabei seit: 07/2005
Beiträge: 15


Standard Nachtschwärmer

Die an den Körper gezogenen Knie durch beide Arme umschlungen, sitze ich am nächtlichen Fenster und lasse durch die Doppelverglasung meinen Blick wie einen Radar über die benachbarten Dächer gleiten, sauge die Dunkelheit in mir auf, gleich einem nach ihr dürstenden Schwamm. Das Mondlicht flackert in einem stummen Spiel durch das Geäst der Bäume direkt in meine Seele, in die es silbernschwarze Bilder malt.

Mein Blick streift weiter durch Dächer aus Laub oder Ziegelgestein, die verschleiert durch die schützende Dunkelheit fast regungslos schlafen. Und mit dem Blick schweifen die Gedanken, entschlüpfen unbemerkt der Kontrolle der Instanz Vernunft. Sie entweichen wie losgelassene Wildtiere in die Nacht, tragen meine Seele in fremdvertraute Traumgefilde.

Ich springe katzengleich in gewaltigen Sätzen über die Dächer des verschlafenen Vorortes, schnelle in der Deckung der Dunkelheit von Giebelspitze zu Giebelspitze, das Funkeln der Sterne im Rücken. Der Geschmack des vergangenen Regens liegt in der Luft und schürt meinen Hunger nach mehr. Bin ich auf der Jagd? Nein. Die Nacht ist meine Spielwiese, auf der ich mich austobe, die Welt mein Klettergerüst, auf dem ich hangele. Allem überlegen, die Welt von oben betrachtet, entfesselt und ohne die entfernteste Erinnerung an die Zwangsjacken des Alltags, erklimme ich Dach um Dach, husche mühelos über schwarze, rote, braune Ziegel, die in der Dunkelheit doch alle keine Farbe haben.

Auf dem höchsten Dach, das ich finde, lege ich kurz Mitternachtspause ein, lasse mich im Schneidersitz nieder und meine Vampirzähne graben sich bald genüsslich in ein Tiefkühlsandwich der Geschmacksrichtung AB. Die Vorortdächer liegen mir zu Füßen und glitzern noch regennass bescheiden im Mondschein zu mir herauf. Ich lächele süffisant und genieße den Duft des Regens und den leichten Nachgeschmacks des Sandwichs nach weißen Blutkörperchen und Plastikverpackung.

Plötzlich jedoch schlagen sich von hinten die Krallen einer kalten Hand in meine Schulter. Sie ergreift mich, zerrt mich gewaltsam auf die Beine. Ich taumele erschrocken zu meinem Greifer herum und blinzele geradewegs in das von Zorn verzerrte und von Vorwürfen gezeichnete Antlitz meiner eigenen Vernunft. Sie schüttelt verständnislos den Kopf.

Ich finde mich auf meinem Fensterbrett wieder, hinter der Doppelverglasung. Die Nacht liegt dahinter, unbeteiligt und unscheinbar wie eh und je, während die ehemals entfleuchten Gedanken jetzt Hausarrest haben. Mit einem leichten Seufzer erhebe ich mich und schlendere an den Schreibtisch. Ich muss noch Mathe machen.
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