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Alt 04.01.2024, 13:14   #1
männlich Pe-Be
 
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Beiträge: 31

Standard Land der Freien

Land der Freien

Schauen wir um die Lebensmitte vom Turm unserer Jahre nach dem Horizont, so hat der an Weite schon viel eingebüßt. In entsprechender Stimmung könnte es scheinen, als sei das Leben eine Zeitlupenvariante von Edgar Allan Poes ‚Die Schlangengrube und das Pendel’. Die alptraumhafte Parabel erzählt von einem Verlies dessen Wände langsam zusammenrücken, während von oben ein Pendel mit einer scharfen Sichel herabsinkt und als vermeintliche Rettung nurmehr der Sprung in eine Grube voller giftiger Schlangen bleibt. Um die Herrschaft düsterer Bilder zu begrenzen, gelten als bewährte Mittel Weite, Licht und viel Bewegung. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag hatte ich mir für dreihundert Dollar das Recht erworben, vier fast noch winterliche Wochen lang in den USA und Kanada herumzufliegen, egal wohin, egal wie weit.
Der Blick aus dem Flugzeugfenster verliert sich seit Stunden in blauem Nichts. Die meisten Mitreisenden scheinen irgendetwas Wichtiges vorzuhaben. Hochzeiten, Beerdigungen, Besuche, und natürlich Geschäfte. ‚Einfach so’ in einem Flugzeug den Atlantik zu überqueren, ist eine für das Selbstgefühl riskante Außenseiterposition. Ich hatte das vorausgesehen und gedanklich vorgesorgt.
Archäologen ist aufgefallen, dass unsere Vorfahren vor ungefähr zwanzigtausend Jahren deutlich geräumigere Schädel hatten als wir Heutigen. Ihr Gehirn brauchte mehr Platz, weil es mehr leisten musste. Die Herausforderungen ihrer Lebensumstände verlangten Jägern und Sammlern höhere individuelle Intelligenz ab als uns, die wir verwöhnt und entsprechend zurückgeblieben sind. Das schmerzt, leuchtet aber ein.
Noch aufregender, weil von bestimmendem Einfluss auf unser Urteil über aktuelle gesellschaftliche Tugenden, ist ein anschließender Befund: Die Wissenschaftler haben rekonstruiert, dass diese hellwachen Steinzeitleute für ihren Lebensunterhalt durchschnittlich nur drei Stunden täglich jagen und sammeln mussten. Demnach waren nicht Mühe und Notwendigkeit die wahren Herausforderungen für deren Intelligenz, sondern der Zeitvertreib, die Spielwiese!
Indem ich mich auf dieses Erbteil berief, war es mir gelungen, der Möglichkeit abschätziger Kritik an meiner nutzlosen Herumtreiberei furchtloser entgegenzutreten.
Mein Sitznachbar, ein frommer Holländer und Mann der Wirtschaft, musste Verdacht geschöpft haben. Er bemühte sogar seinen Gott, die ihm verächtliche Nichtsnutzigkeit anzuschwärzen und schwärmte mir von seiner ‚Festen Burg’. Ich ließ ihn gewähren und behielt für mich, dass mir Burgen nur als Ruinen gefallen.
Die Maschine landet in Halifax, Nova Scotia.
Ich bin eine ganze Stunde zu früh gelandet – wegen Rückenwind. Entsprechend länger warte ich auf den Bus nach Norden. Ich werde Freunde besuchen.
Die Straßen sind geräumt, daher die hohen Schneewälle zu beiden Seiten. Der Asphalt ist vom Winter übel zugerichtet, gerissen und verbeult.
Die Gegend ist ohne Höhepunkte. Unendlich viele mickrige Bäume, grüner Filz statt Wald. Offenbar hat sich die Erde verzweifelt zugedeckt, mit irgendetwas, Hauptsache so schnell wie möglich, nachdem Scharen weißer Raubmenschen sich über die Küstenwälder hergemacht hatten.
Freunde in der Fremde.
Umarmungen, Kaffee, Kuchen.
Der Schnee ist leicht und die trockene Kälte bei Sonnenschein angenehm. Mit einem Schneepflug und mit Schaufeln befreien wir ein paar Bewohner abgelegener Häuser. Genau genommen sind hier fast alle Häuser abgelegen.
Eigentlich wollten wir nur einkaufen. Ist man mit dem Auto im kanadischen Winter unterwegs und wird von einem Schneesturm überrascht, wird das Auto erst langsamer, dann bleibt es stehen, dann geht der Motor aus, dann schneit es ein. Die Fahrer mächtiger Schneepflüge haben es eilig und sehen im Gestöber nicht viel. Es ist eigentlich nur Glückssache, wenn sie unterscheiden können, ob unter Schneewehen ein Auto steckt oder nicht.
Glück gehabt.
Noch ein paar Tage tiefer schneebedeckter Stille, Ofenwärme und Menschennähe: Abschiedsschmerz ist der beste Schmerz, den ich kenne.

Vor dem Busfenster ziehen wieder Stunde um Stunde die verelendeten Nachfahren starker und gesunder Bäume vorüber. Waren sie schlank und gerade gewachsen, taugten sie zu Masten für Schiffe. Die segelten mit Sklaven beladen über den Atlantik in die ‚Neue Welt’. Wirklich ‚neu’ war für die Europäer eigentlich nur die Unermesslichkeit ihrer Beute und neu für die Ureinwohner waren die Krankheiten, die Pferde und die Feuerwaffen der Eroberer. Sklaverei gab es schon in der Antike, Landraub und Krieg mussten auch nicht erst erfunden werden.

Der Busfahrer ist schwarz.
Was alles hat geschehen müssen, damit wir beide hier und jetzt im selben Bus nach Halifax fahren?
Jeder von uns hat seine eigene Unendlichkeit vergangener Augenblicke. Was für eine ungeheure Reise bis zu diesem - bis zu jedem – Augenblick.

Der Motor des Busses verändert den Ton. Es geht ein bisschen bergauf. Der Klang dieser großen amerikanischen Dieselmotoren ist ein Genuss. Ihr kerniges Knurren klingt lässig, wohlig, mühelos. Das können die nicht, die Europäer. So wie sie mit dem Telefon kein Rufzeichen hinkriegen, das ähnlich melodisch wäre wie das amerikanische.
Wohin ich heute fliegen werde, weiß ich noch nicht. Die Offenheit der unmittelbaren Zukunft schmeckt nach Freiheit und Abenteuer.
In North-Carolina nahe bei Raleigh, wohnt eine Freundin aus Studentenzeiten.
Vielleicht laufen wir ein bisschen in den Blue-Ridge Mountains herum? Das könnte ein Fiasko werden, sie war mal Meisterin im ‚speed walking’.
Oder wir freuen uns einfach, dass wir immer noch Freunde sind, oder falls wir keine Freunde mehr sind, dass ich flugs wieder verschwinden kann.
Um zu den großen Fliegern zu kommen, muss ich in kleine Flieger steigen.

Der Flughafen in Moncton ist noch öder als die Stadt. Bevor die Engländer ihre dämliche ‚time is money-Philosophie’ mit Gewalt durchsetzten, war Moncton eine ‚Cajun-city’. ‚Cajun’ ist die amerikanisch zerkaute Bezeichnung für ‚Arkadien’ – als eine solche Stätte der Seligkeit hatten sich ausgewanderte Franzosen ihre ‚Neue Welt’ gewünscht, und verwirklichen wollten sie die in der Nordwestecke von Nova Scotia. Der Verfolgung durch die prosaischen Engländer entgingen die Romantiker nur, indem sie der amerikanischen Küste nach Süden folgten und sich, zusammen mit entflohenen Sklaven, in den Sümpfen Louisianas versteckten. Dort erfanden die Flüchtlinge miteinander die ‚swamp-music’ und ihr berühmtes ‚Nationalgericht’: Jambalaia.
In der linken Ecke elektrischer Unterhaltungsterror ohne Publikum. Piep piep, tock tock. Ein Laufband rotiert ohne Gepäck.
Das Flugzeug ist winzig – und anscheinend etwas empfindlich gegen ungleiche Beladung. Der Copilot setzt zwei schimpfende Typen nach vorne, weil hinten, im Laderaum, zu viel Gepäck ist. Die beiden wollen nicht nach vorne, wegen des Lärms. Sie kannten sich aus, wie sich nach dem Start herausstellt. Ich sitze auf Höhe der röhrenden Motoren, weil ich den Piloten zugucken wollte.
Diese Atmosphäre kenne ich noch nicht.
Die Piloten kaspern herum. (All passengers are friendly requested to push the airplane – oder: by the way, does anybody have a driving licence? Oder: just ignore the red lights on the dashboard und so weiter.) Danach: Männerlachen, fein abgeschmeckt mit etwas Beklemmung, Die leichte Maschine tanzt auf unsichtbaren Wogen.
Unten Schnee, Bäume, aufgeteilt in Rechtecke– von wegen ‚unberührt’.
Das Meer sieht aus, wie Brühe mit Schaum.
Fähren fahren Spuren ins Eis.
Alleine reisen.
Niemand sieht mit mir aus dem Fenster, sieht, wie sich der dunkelrote Flugzeugrumpf in den verchromten Motoren spiegelt. Keiner teilt das Unbehagen bei dieser Schaukelei. Unter uns, nichts als reichlich Platz zum Stürzen. Zum Crew-Wechsel machen wir einen Umweg über Charlottetown auf ‚Prince Edward Island’. Begrüßung durch die neue Crew: ‚How are You doing, folks?’ Herzlich und familiär geht es hier zu.
Während die Motoren loslärmen, werden die Sicherheitsratschläge leise geplappert, dabei verlieren wir ohnehin schon den Boden unter den Füßen. Kein Mensch interessiert sich für die Schwimmwesten. Schwimmwesten im Treibeis, bei minus 15 Grad? Und wenn ich nun zu schwer bin, für dieses Flugzeug? Und wenn sich daraus ein nicht endender Absturz entwickelt? Grässlich, wie in Friedrich Dürrenmatts ‚Tunnel’? (Dürrenmatt war allerdings deutlich dicker als ich – wie er sagte, ‚um sich die Welt vom Leibe zu halten’)

Ich packe den Kaugummi gegen aufsteigende Übelkeit aus.
Eingehüllt in den Motorenlärm wird es in mir still. Und wenn ich jetzt einfach verloren gehe? Diese Vorstellung macht mir keine Angst, ich glaube sie gefällt mir sogar.
Während wir über Bostons Goldflitterlichtern kreisen, stellt sich uns ein Schneesturm in den Weg. Der Pilot kündigt an, dass wir über Detroit ausweichen werden, zunächst aber durch diesen Sturm hindurch müssen.
Zwei Frauen reden über ihre Krankheiten. Immer wenn die Maschine durchsackt, stocken die Gespräche. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft.
Gedränge in der Luft über Detroit. Im Kreise rasend, verbrauchen wir Zeit und Benzin.

Die Dame am North-West-Airlines-Schalter hat Zeit. Fast überall an der Ostküste seien die Flughäfen gesperrt. Raleigh sei auch dicht. Sie traut der Macht ihrer Worte nicht und zeigt Schnee ungefähr einen Meter vom Boden.
Ich muss mich anstrengen, ihr das zu glauben. Die Stadt kenne ich nur als Backofen, als glühendes Höllenloch.
New York ginge. „Das ist keine Stadt“, lehne ich ab, „das ist ein Ameisenhaufen – was ist mit San Francisco?“
Nein, längst weg, und die nächste Maschine ist bereits überbucht. Wie es mit San Diego wäre, da sei noch Platz – allerdings erst morgen früh. Sie zwinkert mir zu und reicht mir einen Gutschein für ‚destressed passengers’, der ist gut für ein Taxi und eine Nacht im Hotel.
Hungrig steige ich am nächsten Morgen ins Flugzeug, denn auf Fernflügen gibt es etwas zu essen.
An Bord erfahre ich, dass diese Maschine nur bis Minneapolis fliegt, dort müsse ich umsteigen. Kein Fernflug also und das Frühstück im Hotel habe ich stehen lassen. In meinen Rucksack finde ich noch ein Paar gesalzene Mandeln.
Vor mir steigt ein Mann mit dicken geflochtenen Hosenträgern ein. Er guckt im Flugzeug auf und ab wie ein Feldherr. Zum Zeichen seines hohen Standes bewegt er einen Zahnstocher von einem Mundwinkel zum anderen.
Diese Flieger sind so alltäglich wie irgendeine Vorortbahn. Das ist langweilige Verschwendung. Richtiger Verschwendung haftet noch der Exzess an, das Fest.
À propos Fest: Es gibt Kaffee und ein ‚Mohnmuffin’
Klingt schlimm, ist es aber nicht – sagt der Hunger.
Buntes Volk will nach San Diego. Schräg gekleidet, lustig drauf, bis hin zu ‚lustig zum Fürchten’.
Gurte klicken. Die ‚security instructions’ will niemand hören. Draußen sausen Schneehaufen vorbei.

Kurz bevor es abhebt, macht dieses Flugzeug seltsam schabende Geräusche. Mein Nachbar und ich tun so, als fänden wir das lustig.
Detroit besteht aus unzähligen Quadraten. Weiter draußen werden die Flächen unregelmäßiger und größer. Da mäandert auch ein Fluss. Schön, dass der das noch darf. Über den Wolken meldet sich der Hunger zurück.
Ein kleines Mädchen, Elizabeth, ‚first grade’, langweilt sich. Sie kickt ihre Schuhe durch den Mittelgang und ich sammle sie wieder ein. Zum Dank liest sie mir ihr Katzenbuch vor. Dafür, dass sie nicht lesen kann, macht sie das sehr gut. Durch den Gang stöckelt die erste richtig ‚schöne’ Stewardess. Sie ist allerdings auch die Einzige. Nicht allzu viele wollen nach San Diego, da braucht man nur eine. Als ich mich bei meiner Vorleserin mit einem Papierflieger revanchiere, legt sie ihre Stirn in Falten und schüttelt den Kopf. Wir fliegen über Nebraska.
Auf der Erde sind Kreise mit einem ‚Zeiger’. Mein Nachbar klärt mich auf; rotierende Bewässerungsanlagen.
Später bedienen wir einander mit Lebensgeschichten. Er hat in Wiesbaden mit seinen Militäreltern gelebt und ich bin in dieser Stadt als Student Taxi gefahren. Den Amerikanern verdankten die Wiesbadener, dass ihr Leitungswasser nach Chlor schmeckte und ich verdankte den Amerikanern einen relativ einträglichen Job. Viele meiner Fahrgäste waren in meinem Alter oder jünger. Sie waren in Vietnam nicht schwer genug verletzt worden, um nicht im ‚Amelia-Earhart-Hospital’ wieder schießtauglich gepflegt zu werden.

Der Missouri ist sogar aus dieser Höhe schön. Blaugrün. Nur noch Reste von Schnee bedecken die Berge. Die sehen aus wie von feinen Wurzeln durchzogen, dann verdecken Wolken die Sicht. Unter uns reißt ein Flugzeug die Wolkendecke auf wie mit einem Reißverschluss. Der Schnee ist verschwunden, dieser Teil der Rocky Mountains ist bereits in Kalifornien. Es wird voll hier oben. Auf gleicher Höhe sehen die Kondensstreifen anderer Flugzeuge aus wie Auspuffqualm.
Der Captain sagt, dass es ihm Vergnügen bereitet habe, uns zu fliegen. Er verändert das Tragflächenprofil, das Flugzeug antwortet mit Rubbeln. Der Müll wird eingesammelt. Vor der Landung erscheinen Felder voller lila Blüten.
San Diego.
Ich halte ein Taxi an.
Die mexikanische Fahrerin hat rot gefärbte Haare. Kaum habe ich die Tür zugeschlagen, fährt sie los. Sie ist routiniert unterwegs und stellt mir Fragen. Sie laufen alle darauf hinaus, gewöhnlich verborgene Wünsche zu erforschen.
Mädchen? Schwul? Sophisticated oder rough? Oder wie oder was?
Dabei fährt sie ständig weiter und ehe ich mich versehe, haben wir eine kleine Stadtrundfahrt gemacht.
Als ich endlich das Meer sehen kann, setzt sie mich vor einem einstöckigen, Haus ab und verlangt 25 Dollar. Indem sie das Geld einsteckt versichert sie mir, dass ich mich glücklich schätzen dürfte, ausgerechnet an sie geraten zu sein, wer weiß, was andere mit einem wie mir angestellt hätten. Das Haus gehöre Verwandten.
Ich bekomme eine kleine Wohnung für 40 Dollar am Tag. Frau Taxi war tatsächlich in Ordnung – doch, irgendwie schon.
Zwischen meiner Wohnung und dem Pazifik-Strand ist eine vielleicht fünfzig Meter breite Promenade. Hier wird geskatet, gejoggt, Rad gefahren, Kopf gestanden, zum Walkman Gymnastik gemacht oder hinter schwarzen Brillen ins Nichts geblickt.
Gegen Abend geht es in den Kneipen zu, wie im Mainzer Hochkarneval. Alles säuft, schmeißt mit Dollars um sich, kauft ‚Jager-shots’ für alle Welt, für mich auch, und so trinke ich tatsächlich in überschaubarer Zeit einige echte, deutsche Jägermeisterfläschchen leer. Kein Wunder also, dass ich bald mitlache und kichere und umarme und quatsche, obwohl ich dachte, dass das meine Art nicht sei. Viel ‚Gay’ hier. Nachdem ich mich als Deutscher geoutet hatte, hielt mir jemand die mangelnde Sauberkeit der Kölner Bahnhofstoilette vor. Ansonsten aber liebe er Deutschland sehr.
Ich für meinen Teil konzentrierte mich auf das Treiben junger Schönheiten, die das Wenige was sie anhatten auf der Strandpromenade zeigten.
Wenn sich zu amüsieren zur allgemeinen Pflicht wird, etwa wie Fleiß und Strebsamkeit in einer Arbeitskultur, dann muss sich, wer angenehm auffallen will, eben auffälliger amüsieren.
Leicht angetrunken ziehe ich los und kaufe eine Badehose. ‚XL’ – weil sie nur 10 Dollar gekostet hatte und weil der Verkäufer gesagt hat, dass sie sowieso einläuft.
Morgen früh probier ich sie aus. Im Pazifik!
Angetan mit meiner neuen Hose betrachte ich frierend den bewölkten Nachmittagshimmel. Kein Mensch badet. Ich auch nicht.
In der irischen Kneipe, in der gestern der Abend in Jägermeister ertränkt wurde, trinke ich mir mit heißem Kaffee Mut an.
Trotz Windstille rollen große, lange, weiche Wellen. Ich finde, sie kippen leiser als ihre atlantischen Schwestern. Wunderbar, das Gewoge - nach einigen Minuten der Gewöhnung. Die Wellen und ich, nur wir beide! Mir ist zum Schreien wohl.
Das nahe Café ist fast leer. Man hat mich beobachtet und als Beleg angeführt, dass in Deutschland Eskimos wohnen. Eskimos gelten als hungrig. Es gibt Buchweizenpfannkuchen mit Blaubeeren, Sauerkirschen obendrauf, auch Apfelsinenstückchen und irgendein heißer Sirup. Aber mein Nachbar erst: Berge von Eiern, Toasts und Fleisch. Jeder normale Mensch würde an einem Drittel ersticken. Tatsächlich bleibt auch fast alles liegen. So sind sie, die Amis, und ich habe meinen Pfannkuchen auch nicht aufgekriegt.
Ein schwarzer Riese tritt ein und begrüßt mich wie einen alten Bekannten. Er hat nicht nur Lebenskraft für Dreie, sondern auch eine dazu passende Ideologie. Nach Gerechtigkeit greinen nur die Verlierer, hat er mich gelehrt - und die Dummköpfe. Gerade wenn es dir schlecht geht, gibt es nur einen, der das Beste für dich tun kann, und dieser Eine bist immer nur du selber und nie die Typen, die dir was schenken wollen.
Später erholte ich mich bei sanfteren Denkern. Auf der Speisekarte eines kleinen Vegetarierrestaurants fand ich ‚Random thoughts’.
Zum Beispiel:
A man once renamed his alarm clock ‚Peace and Joy – clock’
Now he wakes up peaceful and joyful, instead of alarmed.
Amerikanisch zu denken ist nicht schwierig, eher etwas ungewohnt: Wenn der Schein besser ist als das Sein, warum sich dann mit dem Schlechteren begnügen?

Vor der Tür donnern, ich meine das wörtlich: DONNERN drei Motorradfreaks ihre Harleys warm. Ein Mann geht vorbei, die Finger in den Ohren, die Backen aufgeblasen, die Augen geschlossen.
Ehe ich als Angehöriger einer Nation, die sich unter anderem damit hervorgetan hat, Massenmord mit der Effizienz von Schlachthöfen zu betreiben, kulturelle Dünkel zulasse, danke ich Janis Joplin für ‚Freedom is just another word for nothing left to loose’.
In Raleigh ist der Schneesturm fast schon wieder vergessen. Mach’s gut San Diego! Beladen mit meinem Reiserucksack gehe ich zu Fuß zum Bus.
Im Bus fahren unglaublich abgewirtschaftete Figuren. Menschen die vor lauter Ungewaschenheit eine richtige Aura von Dreck um sich haben. In den Gesichtern Falten bis auf die Knochen, wilde Bärte, wüste, meist graue Haare, einige nicht ganz nüchtern. Manche sehen aus, als seien sie vor enttäuschter Hoffnung wahnsinnig geworden. Sie wissen es, weil sie es erlebt haben: Im Land der Starken und Frommen, verlieren nur die, die es nicht anders verdient haben.
Mich verfolgt indessen unverdientes Glück. Der letzte Platz im Flugzeug ist für mich. Leider ist es kein Fensterplatz.
Indem ich mir statt Luft und Wolken meine Nachbarn ansehe, verdichtet sich eine Erkenntnis: Ich fühle mich den ausgebrannten Menschen, neben denen ich vor ein paar Stunden im Bus saß, erheblich näher. Mir ist, als empfände ich besonderen Respekt vor diesen Leben, wo doch das Meine so bequem ist und mein Schicksal so klein.
Wir haben die Staaten Arizona, Utah, Colorado und New Mexico überflogen. Unter uns ist Kansas-City. Der Captain sagt, dass sich die Leute da unten ‚enjoyen’. Woher weiß der das? Kann man ihm trauen?
Amerika färbt ab: Es ist unvernünftig demjenigen nicht zu trauen, der das Flugzeug steuert, in dem man gerade sitzt.
Folglich haben die Menschen in Kansas-City gerade jede Menge Spaß!
In mir ist noch San Diego. Nicht der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes, sondern der Abschied.
Meine Nachbarin mag keine Erbsen. Fein säuberlich hat sie alle aussortiert. Ihr Mann hat alles aufgegessen. Meinen Nachtisch esse ich nur, wenn ich einen Kaffee dazu kriege.
Wir fliegen mehr als neunhundert Kilometer in der Stunde, ungefähr dreißigtausend Fuß unter uns ist Kansas. Die Stewardess bringt mir einen Kaffee. ohne dass ich sie darum gebeten habe.
In Detroit ist die Maschine nach Raleigh ausgebucht, aber ich kann nach Richmond fliegen. Die beiden Hauptstädte sind nur fünf oder sechs Busstunden voneinander entfernt.
Das Flugzeug ist abgenutzt und klapperig. Mein Sitznachbar heißt Paul und sieht ein bisschen aus wie Robin Williams. Paul ist Republikaner, er sagt, er sei kein Fanatiker. Eigennutz und Gier, sagt Paul, seien nun mal die wahren Triebkräfte des Lebens, Solidarität und Fürsorglichkeit laufen der Schöpfung zuwider. ‚Homo homini lupus est’, sagt er, und ich erwidere, dass der Wolf nicht einmal des Wolfes Wolf ist. Darin waren wir uns immerhin einig: Wenn genügend Menschen reinen Unfug glauben, wird bald reiner Unfug herrschen.
Jemand sagt, wir sollen uns anschnallen.
Paul war ein guter Republikaner. Er hat mich mit seinem Mietwagen zum Terminal der Continental-Trailways-Busse gefahren.

Die Bedienung in der Cafeteria des Bus–Terminals mag keine Kunden. Wenn man sich den Mangel an Höflichkeit schön reden will, könnte man sagen, dass die Gefühle, welche Menschen für einander hegen, in Busterminals deutlicher zum Ausdruck kommen als auf Flugplätzen. Wann aber und bei welchen Gelegenheiten will man denn wissen, was irgendwer fühlt?
In diesem Busbahnhof sind fast ausschließlich Schwarze. Wer mit dem Bus fährt, hat kein Auto, oder keinen Führerschein oder kein Geld.
Mein Bus fährt morgen um 6Uhr40. Jetzt ist es zehn vor halb zwölf. (local time) Zuhause ist es jetzt 10 vor halb sechs. Wäre ich noch da, wo ich heute Morgen war, wäre es kurz vor halb zwei.
‚Does anybody really know what time it is?’
Busse fahren ab, Busse kommen an, stille Menschen warten mit mir und solche, die reden wollen. Ein großer schwarzer Mann mit großen Lippen, großen Zähnen und großen Augen. ‚Good talking’ sagte er, als wir uns zum Abschied die Hand gaben.
Wie sähe dieses Land aus, ohne die Sklaverei?
Kein Blues, kein Jazz, kein Rock’n Roll, und außerdem hätten die Geschichtsschreiber sich für den Bürgerkrieg einen anderen Grund ausdenken müssen. In Wahrheit ging es um die unterschiedlichen Gierkonzepte des landwirtschaftlich dominierten Südens und des industriell geprägten Nordens. Dort finanzierte man armen Teufeln aus Europa die Überfahrt und ließ sie dafür jahrelang am Rande des Verhungerns schuften, wogegen die im Süden Menschen kauften, um deren Arbeit dann gar nicht mehr bezahlen zu müssen.

Immer wieder haben wir über den ‚Lord’ geredet. Zumindest als Thema ist der tatsächlich allgegenwärtig. Dabei ist es jedes Mal ein etwas anderer Lord. Mir scheint, dass jeder Gläubige seinem Gott im Wesen ähnlich ist.
Obwohl ich mir Mühe gebe, farbenblind zu sein, habe ich ein Schwarz-Weiß-Problem. Dem entgeht man nicht, wenn Rassismus gewissermaßen in der Luft liegt. Die Schwarzen fühlen sich irgendwie erhoben, wenn ich Weißer ihnen selbstverständliche Aufmerksamkeit entgegenbringe, und ich versuche krampfhaft, alles zu vermeiden, was als Herablassung deutbar wäre.
Ein Beispiel:
Der Warteraum der Continental-Trailways ist klimatisiert. Um das Binnen-vom Außenklima zu trennen, gibt es eine gläserne Schwingtür. Die Busse transportieren nicht nur Menschen, sondern auch Pakete.
Zwei schwarze Arbeiter streben, mit sperrigen Kartons auf den Schultern, auf diese Schwingtür zu, um ihre Lasten in einen wartenden Bus zu laden. Der erste bleibt mit seinem Karton in der Schwingtür stecken. Der Mann kämpft mit Karton und Tür, indem er, ohne den Karton von den Schultern zu nehmen, immer wieder an der sich automatisch schließenden Tür scheitert. Niemand hilft ihm. Auch sein Kollege nicht, der, mit seinem Paket auf der Schulter, gelangweilt zuschaut. Nachdem der erste es schließlich doch geschafft hat, seinen Karton durch die Tür zu kanten, teilt ihm draußen ein Kollege mit, dass der Bus inzwischen weggefahren ist. Daraufhin kehrt der Mann um und bleibt, mit dem Karton auf der Schulter, wiederum stecken. Erneut geht der Mann sein Problem an, indem er sich und das Paket solange an der sich automatisch schließenden Tür vorbei zu drängeln versucht, bis schließlich der Zufall sich seiner erbarmt. Der gleichgültige Kollege hingegen hilft ihm wieder nicht, sondern verschwindet mit seinem Karton in einem Lagerraum.
Die ganze Vorstellung hat etwas von einem Slapstick. Der Hauptdarsteller erinnert an einen Brummer, der sich in ein Zimmer verirrt hat und chancenlos wieder und wieder gegen dessen Fenster prallt. Die Idee, ein Problem einfach hartnäckig zu ignorieren statt es zu lösen, hat etwas Anarchisches. Ich finde das lustig - aber ich lache nicht.
Vielmehr warte ich, wie und ob mein schwarzer Nachbar auf der Wartebank sich verhält. Als sich unsere Blicke treffen, fängt er an zu lachen, da lache ich mit, aber ganz vorsichtig – denn ich lache nicht über ein komisches Missgeschick, sondern über einen schon ziemlich alten, schwarzen Mann, der vermutlich einen lausig bezahlten Job hat und aussieht, als ob er die paar Dollars dringend braucht.
Wenn man so ein Leben hat wie ich, lacht man einen armen Teufel nicht aus, egal warum er arm ist.

Mein Nachbar sieht auf meinen Notizblock.
Er fragt nicht, was ich da dauernd schreibe, aber ich denke, er will es wissen.
‚Ich denke nach’, sage ich ihm, ‚und damit mir die Gedanken nicht ständig weglaufen, schreibe ich sie auf.’
Worüber ich nachdenke?
Zum Beispiel darüber, wie man unterscheiden kann, ob jemand ‚alleine’ ist oder ‚einsam’.
Kann man?
Schwierig – und dabei ist der Unterschied riesig - wie der zwischen ‚verloren’ und ‚gefunden’.
Wie ich das meine.
Der eine sieht traurig aus, der andere glücklich.
Kurze Pause.
Er hat eigentlich eine tiefe Stimme, aber wenn er lacht, kippt sie.

Im Bus nach Raleigh.
‚A five hours ride in front of you’, hatte der Ticketverkäufer noch einmal bestätigt.
Weiße, die mit dem Bus fahren, laufen herum wie Rostocks Neonazis – in Kampfkluft, die meist jungen Gesichter durch Kahlschnitt entstellt– einer ist nicht sonderlich weiß, und er hat einen schwarzen Pferdeschwanz.
Ich habe mal in einem Indianerbuch gelesen, dass die keinen Bartwuchs haben. Entweder stimmt das nicht, oder es ist inzwischen anders oder der mit dem Pferdeschwanz ist gar kein Indianer.
Außer mir rauchen eigentlich alle. Vermutlich aus Sorge um ihre Arbeitsplätze – wir sind in Virginia!
Diese Fernbusse sind eine bequeme, unaufgeregte und sogar leidlich schnelle Art, sich zu bewegen. Die meisten schwarzen Fahrgäste liegen auf den Sitzen, haben sich eingerollt, viele schlafen, manche schnarchen laut. Sie sind hier zuhause.
Wir fahren durch Wälder. Es sind keine Wälder zum Staunen, Kiefern zumeist. Wenn der Bus hält, sieht man Vögel zwischen den Stämmen herumflattern. Die Städte sind öde. Ihre Gleichförmigkeit entsteht durch die billige Beliebigkeit der Häuser, den allgegenwärtigen Müll, und das Drahtgewirr über den Straßen.
Wenn an den Haltestellen neue Fahrgäste einsteigen, fragt der Fahrer nach dem Ziel, dann nennt er einen Fahrpreis. Die Neuzugänge reichen ihm so lange blind Dollarnoten hin, bis er ‚genug’ sagt.
Draußen schimmert dunkles Sumpfwasser durch Bäume mit grünen Schleiern. Ein gesundes Klima für Mücken und Malaria.
Endlich - das Bus-Terminal in Raleigh.
Ich trete hinaus auf die Straße. Wie kann man nur hier leben, wenn man auch woanders leben kann.
Zum Beispiel da, wo meine alte Freundin wohnt. Ihr Haus liegt am Rande eines kleinen Tals, unten fließt ein Bach. Es ist so in den Hang gebaut, dass die großen Fenster direkt in die Baumkronen blicken.
Wenn ich aus dem Fenster sehe, bin ich mit roten, grünen und braunen Vögeln auf einer Ebene wie in einem Baumhaus. Die roten Vögel erinnern an Kakadus. Sie heißen ‚Cardinals’ und sind die ‚Nationalvögel’ von Virginia. Gibt es im Rest der Welt eigentlich ‚Nationalvögel’ die einfach nur schön, nicht aber bedrohlich sind?
Als die Freundin mich am Bus-Terminal abholte, haben wir uns beinahe verpasst, weil sie sich nicht einmal traute, mit ihrem Auto stehen zu bleiben, geschweige denn auszusteigen.
Hinter ihr im Wagen saß ein Riesenhund.
So tief in die Niederungen der Stadt traute Frau sich eigentlich nie, erfuhr ich – nicht mal mit diesem Furcht einflößenden Hund und dem rundherum verriegelten Auto. ‚Car-jacking, you know?’
Nicht ich sie, sondern sie hat mich erkannt - an meiner roten Wollmütze. Mit so was läuft nur ein Europäer rum, hat sie gesagt.
Als wir uns kennen lernten studierte sie Philosophie. Inzwischen war sie fromm geworden.
Wie bekam sie das in ihren Kopf, die viele Angst und die dicke Bibel?
Die viele Angst begleite alle, die zu bestehlen irgendeinen Ertrag versprach, sie sei allgemein und nicht ihre Spezialität, sagte sie. Bezüglich ihres Verhältnisses zur Bibelgläubigkeit lernte ich einen neuen Beleg für amerikanischen Pragmatismus.
‚Wenn die Bibel recht hat und alle anderen Unrecht, ist man – nach dem Tod - als Christ sicher, zumindest aber auf der weniger gefährlichen Seite, denn falls es umgekehrt ist, versprechen diejenigen die dann Recht gehabt hätten wenigstens keine ewige Verdammnis.’
Wir haben uns viel erzählt und eine Menge gelacht.
Epilog:
Um mich herum hausen nicht nur Vögel, sondern auch Eichhörnchen. Sie sehen frech und lebenslustig aus. Um sie daran zu hindern, den Vögeln das dargereichte Futter wegzufressen, hat das Futterhäuschen eine hinterlistige Technik. Da Eichhörnchen schwerer sind als Vögel, klappt der einzige Halt, der ihnen den Zugriff auf das Vogelfutter ermöglichen würde herunter, wenn sie glauben es fast schon geschafft zu haben. (vgl. Tantalus)
Es ist Sonntag, meine Freundin ist in der Kirche, ich aber will Gerechtigkeit hier und jetzt.
Die fiese Klappe wird mit einem Stöckchen verklemmt und wenigstens ein Eichhörnchen frisst sich richtig satt. Dann aber erscheint ein Cardinal.
Der Vogel bückt sich, guckt unter’s Dach und genießt arglos die Vorfreude auf ein kostenloses Mal.
Wie soll der arme Cardinal auch wissen, dass ein rührseliger Europäer die ihn privilegierende Technik zu seinem Nachteil vermurkst hat?
Zack, da ist das niedliche Hörnchen. Gerade noch vermag der Cardinal zu fliehen und gleichgültig taumelt eine rote Feder in die Tiefe.
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