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09.07.2023, 14:47 | #1 |
Dabei seit: 11/2022
Beiträge: 36
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War die Sowjetunion so schlecht wie ihr Ruf?
Wenn im Westen von der Sowjetunion die Rede ist, dann wird meistens so getan, als sei dieser ein Unterdrückungsstaat gewesen, den niemand außer die Machthaber wirklich haben wollte und als wären die Bürger erleichtert gewesen, als dieser Staat endlich in die Brüche ging. Wenn man jedoch heute die Russen fragt, wie das Leben in der UdSSR war, dann zieht sich durch die Meinung der Befragten ein Graben, der mit dem Alter zusammenhängt. Die junge Generation, die die Sowjetunion nur aus dem Fernsehen kennt, ist sich sicher, dass diese ein Unterdrückungssstaat war und dass es ein Glück wäre, dass er nicht mehr existiert. Fragt man aber die Leute, die noch lebhafte Erinnerungen an das Leben damals hatten, dann hört man immer wieder die selben Dinge. "Die Gesellschaft war damals menschlicher. Es gab weniger Konkurrenzdruck. Jedem war ein Arbeitsplatz zugesichert und es gab keine Armut. Die Krankenversorgung war kostenlos und jeder konnte es sich leisten, in den Urlaub (meistens an die Krim) zu fahren. Das einzig schlechte, was diese Leute über die UdSSR sagen ist, dass man damals nicht wirklich "shoppen gehen" konnte und in den Läden viele Regale lehrstehen. Das hindert die Russen aber nicht daran, in ihrer Mehrheit die Zeit der Sowjetunion für die größte Zeit der Geschichte ihres Landes zu halten. Aus einem rückständigen Agrarstaat, in dem es noch Leibeigene gab und die Lebenserwartung bei 20 Jahren lag, machten die Kommunisten innerhalb kürzester Zeit einen fortschrittlichen Industriestaat, der den ersten Satelitten ins All schickte und in dem die Lebenserwartung bald diejenige der USA überstieg. Die sowjetischen Schüler nahmen bei Vergleichstests in Mathematik und den Naturwissenschaften regelmäßig den ersten Platz ein.
Nach dem Ende der Sowjetunion sank die Lebenserwartung um fast 15 Jahre, die Kriminalität nahm unerträgliche Ausmaße an, und Alkoholismus und Suizide stiegen in nie gekannte Höhe Keine Frage, die Sowjetunion war kein demokratischer Staat, es gab keine Meinungsfreiheit und man musste sich anpassen. Stalin war sicherlich eine der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte. Aber ist der Preis, den die Russen für die Freiheit (wobei davon heutzutage ja auch keine Rede mehr sein kann) nicht zu hoch? In Umfragen wollen tatsächlich vor allem die älteren Russen die Sowjetunion zurück. Wir im Westen sollten unsere Vorurteile, was diesen Staat angeht, gründlich überprüfen. |
09.07.2023, 15:30 | #2 |
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Du solltest mal gründlich Solschenizyns "Archipel Gulag" und "Krebsstation" lesen, dich mit Dostojewskis Lebensgeschichte befassen und dir den Film "Der innere Kreis" anschauen. Es machte bestimmt großen Spaß, sich mit drei Familien eine baufällige Wohnung ohne sanitäre Einrichtungen teilen zu müssen.
Außerdem bildeten die Russen nur einen Teil der Bevölkerung der ehemaligen UdSSR, denn sie bestand aus vielen Teilrepubliken, in denen sich die Leute weder für russisch hielten noch die russische Sprache beherrschten. Im wesentlichen bestand das, was wir unter Russland verstehen, aus Moskau und St. Petersburg und hörte am Ural auf. Die Vorzüge, die du beschreibst, genoss nur eine kleine Schicht korrupter Ausbeuter in einigen wenigen Großstädten, die Mehrheit der bettelarmen Bevölkerung lebte unter übelsten feudalistischen Verhältnissen. Es war der Blick nach Westen, der einen Ruck durch das russische Reich gehen ließ und den Fortschritt ankurbelte. In New York fuhren mein Lebensgefährte und ich mal in einem Taxi, dessen Fahrer sich als russischer Auswanderer herausstellte. Er gab auf unsere Fragen nur einsilbige Antworten, und es war deutlich erkennbar, dass er von äußerstem Mißtrauen geprägt war und nur höflich bleiben wollte. Auf unsere Frage, ob er schon lange in Amerika sei, antwortete er "da", und auf die nächste Frage, ob er irgendwann nach Russland zurückgehen wolle "njet". Und das war's. Von den anderen beiden Russen, die ich aus meinem Umfeld kenne, will keiner mehr nach Russland zurück, nicht einmal ins mondäne Moskau. Im Gegenteil: Sie haben ihre Mütter und Väter nach Deutschland geholt. |
17.07.2023, 15:24 | #3 |
... Romane bilden meist nur einen Teil der Wirklichkeit ab.
Auch in der Sowjetunion gab es Arbeitslosigkeit, Korruption, Kriminalität, Drogen und andere böse Sachen, doch ich denke schon, dass ein Großteil der Bevölkerung aller Nationalitäten gut und zufrieden leben konnte, wenn sie sich halbwegs an die Regeln hielten. Soweit ich weiß, wurde die Analphabetenrate fast auf Null gesetzt, in den Schulen wurde nicht nur auf russisch gelehrt, sondern auch in den Nationalsprachen (vermutlich nicht alle). Kommt natürlich immer auf den Zeitraum an, den man gerade betrachtet, meiner liegt auf den 70er 80er Jahren. In Deutschland soll es Menschen geben, die haben nicht einmal eine Wohnung, geschweige denn eine Toilette, alles eine Frage der Gewöhnung. Ich habe noch keine negativen Vorurteile gegen Russland oder die Sowjetunion, aber es gibt hier kaum eine Möglichkeit der einseitigen Berichterstattung zu entkommen. Die Russophobie ist hier seit Jahrzehnten oder länger kultiviert, warum auch immer. |
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17.07.2023, 16:13 | #4 |
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879
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Hallo Eziotar,
beim Thema Sowjetunion fällt vielen Menschen bei uns erst einmal Russland ein. Und da, ich gestehe es gern mit dem Seufzer "zwei Seelen wohnen, ach in meiner Brust", denke ich an berauschende Musikerlebnisse, an warmherzige, gastfreundliche Menschen, an faszinierende Dichter, kulturelle Großtaten und langjährige persönliche Freundschaften (nicht nur der Russen, sondern auch aus Menschen aus Kirgistan, Kasachstan und anderen Ländern, die zur Sowjetunion gehörten und zum Teil auch heute noch mit Russland verbunden sind. Ich denke auch an die millionenfachen Opfer des Naziregimes, aber auch an die vielen Millionen Toten, die auf Stalins Konto (der keine Russe war) gehen. Du zeichnest ein sehr (!) einseitiges, naives Bild von der untergegangenem Sowjetunion, erwähnst mit keinem Wort die Arbeitslager und die massenhaft verhängten (und durchgeführten) Todesurteile. Ich denke, Du machst es Dir zu einfach. Gruß, Heinz |
19.07.2023, 13:00 | #5 |
... Stalin wurde erwähnt, Heinz. Eziotar gibt nur einen Absud aus gehörten Meinungen und geschilderten Erlebnissen differenziert wieder, nix einseitig.
Frag doch hier und sonst wo die Menschen nach der Zeit vor 30/ 40 Jahren. Alles war viel besser, weil zumeist nur das Gute behalten wird. Ich glaube auch, dass der Satz: Unter Hitler gabs das nicht! nicht unbedingt die Weltanschauung des Sprechers angab (Betonung liegt in der Vergangensheitsform), sondern nur seine Empörung über etwas. wsT dT |
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19.07.2023, 13:05 | #6 |
Dabei seit: 11/2022
Beiträge: 36
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Hallo
Das was ich geschrieben habe bezieht sich eigentlich nur auf die 60er bis 80er Jahre der SU. Von der Zeit unter Stalin habe ich nicht geredet, zu dieser Zeit war die SU ganz klar ein verbrecherische Staat. Übrigens wurde Stalin auch später von der offiziellen Meinung der SU als Verbrecher angesehen. Ganz im Gegensatz von heute übrigens, heute gibt es viele Stalinverehrer.
Ich muss gestehen, dass ich persönlich auch russophil bin. |
19.07.2023, 13:52 | #7 | ||
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Zitat:
Zitat:
Nur nebenbei stellt sich die Frage, wieso Christopher Nolan innerhalb von zwei Monaten (!!) einen Dreistunden-Kinofilm über das Projekt Manhattan gerade zum jetzigen Zeitpunkt gedreht hat, und weshalb in dieser Windeseile (geplantes Release in Deutschland: 20. Juli, also morgen). Vielleicht wollen die Amerikaner ein Signal aussenden, wozu sie im Notfall fähig sind, denn was Heisenberg in Deutschland nicht geschafft hatte und wofür Einstein 50 Jahre Entwicklungszeit schätzte, gelang der Truppe um Oppenheimer in drei Jahren. |
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19.07.2023, 15:16 | #8 |
... sorry Ilka, dein erster Absatz über mir klingt nach Osten fluchen, im Westen blind.
Deine Aufzählung kann genauso gut für die USA gelten und vermutlich noch andere Staaten, also was ist jetzt in Russland wirklich anders und noch noch noch schlimmer. Das soll keine Zurechtweisung, sondern ein Denkanstoß sein. dT |
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19.07.2023, 16:12 | #9 | |
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Zitat:
Die westlichen Staaten, soweit sie demokratisch regiert werden, stellen die Täter vor Gericht, wenn man ihnen habhaft werden kann. Auch dürfte es wohl kaum der Fall sein, dass so viel Gewalt gegenüber Frauen und den für die Armee rekrutierten Jugendlichen stattfindet wie in Russland (russische Mütter wissen das, darüber gibt es Dokus und Interviews). Die Medien funktionieren, und wo sie gehalten sind, Informationen nicht zu verbreiten, machen sich die Menschen auf zahllosen Internet-Plattformen schlau. Wer der Presse nicht völlig traut, kann z.B. in Schweizer Zeitungen lesen, die oft völlig andere Meinungen vertritt als die deutsche Presse. Im übrigen muss im Westen jeder Angst haben, bei einem Verbrechen per Smartphone gefilmt und ins Internet gestellt zu werden. Vertuschung ist auf Dauer kaum noch möglich. Aber bekanntlich kann man ja heute schon für eine Einladung zum Essen oder der Nutzung eines Gästezimmers in Deutschland seinen Job und guten Ruf verlieren, wie mancher Ex-Politiker zu berichten weiß. Es ist ein Unterschied, ob man von schwarzen Schafen in der Bevölkerung spricht oder von Machthabern, die eigentlich ihr Volk schützen sollten, denen Menschenleben aber völlig wurst sind und die sogar selbst Gewaltexzesse von der Regierungsebene aus steuern. Putin hat jedesmal, wenn seine Popularität steil abwärts ging, einen Krieg gegen einen Nachbarstaat geführt und eine Marionettenregierung eingesetzt, um Stärke zu demonstrieren, und jedesmal ging die Rechnung auf: Seine Popularität stieg im eigenen Land sprunghaft an. Es gibt genügend Literatur und Dokus über die Zustände in Russland. Dort gilt auf jeden Fall ein Prinzip nicht , das Karl Popper für das Positive an einer Demokratie genannt hat: In ihr haben es die Bürger in der Hand, eine Regierung ohne Blutvergießen abzuwählen, wenn sie mit ihr nicht zufrieden sind. Ich empfehle das Buch "Putins Netz" von Catherine Belton ("... fundiert recherchiertes Buch ...", Financial Times). Darin umfassen die ersten vier Seiten die Namen und Kurzbeschreibungen von Putins engsten Kreisen, von den Silowiki über die Mitglieder des mittlerweile umbenannten KGB, Funktionären und Geschäftsleuten, der "Mafiosi" in St. Petersburg bis hin zu seinen Seilschaften in Moskau. Oder "In Putins Kopf - Logik und Willkür eines Autokraten" von Michel Eltchaninoff. Es lohnt auch, sich mit den Hof-Ideologen Alexander Dugin, Wladislaw Surkow und Dmitri Kosak zu befassen: Wenn es nach Dugin ginge, hätte Putin schon ganz Europa eingenommen, bis hin zur Atlantikküste. Er war es auch, der ihn gepuscht hat, jetzt endlich mit dem Krieg in der Ukraine zu beginnen, denn er habe keine Zeit mehr zu verlieren, wenn er Russland wieder groß machen wolle. Weiterhin sind die Vorträge des Kriegshistorikers Herfried Münkler zu empfehlen. Sorry, aber nachdem ich mich ein Jahr lang mit dem Thema befasst habe, geht mir jegliches positive Zugeständnis für Putins Russland ab. Kein Land, in das ich freiwillig einen Fuß setzen würde. Ja, Gewalt, Verbrechen, Korruption usw. gibt es in allen Ländern der Erde, aber in den U.S.A. oder in Frankreich wird man vor heiklen Stadtteilen gewarnt, und wenn Korruption auffliegt, kommt es zur Anklage. Ich war neunmal in den U.S.A., habe auch mal die öffentliche Festnahme eines Jugendlichen gesehen, aber selber habe ich nie negative Erfahrungen gemacht. Schon allein angesichts der Probleme, die wir auf diesem Planeten haben, ist jeder Krieg der helle Wahnsinn, erst recht, wenn er ohne Not losgetreten wird. Millarden an Finanzmitteln werden verschleudert, wertvolle Materialien zur Zerstörung genutzt und selbst zerstört, Menschen getötet, verkrüppelt und traumatisiert, Familien gespalten und die Balancen unter den Staaten aus den Angeln gehoben. Und wir dachten, die Menschheit sei inzwischen gescheiter geworden. Putin offensichtlich nicht, und wie er aus seinem Schlamassel wieder rauskommen soll, ist mittlerweile sein größtes Problem. |
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20.07.2023, 12:15 | #10 |
... Ilka, im persönlichen Gespräch würde ich jetzt wahrscheinlich weitere Einwände erheben. Doch da mir deine Meinung fundiert und die Schriftform zu frei interpretierbar erscheint, lasse ich dies.
Ich hoffe aber, dass du mir zustimmst, dass zwischen Volk, Staat und Herrschaft durchaus Unterschiede bestehen und unterschiedlich beurteilt werden dürfen. beaux rêves |
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20.07.2023, 12:44 | #11 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Nicht alle Russen sind so dumm, sich verheizen zu lassen, sondern sind in die Nachbarstaaten geflohen, bevor sie eingezogen werden konnten. Gut so. |
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