Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 22.01.2020, 16:06   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City, auf der richtigen Seite des Mains
Beiträge: 31.043


Standard Kindertage

„Das hätte es früher nicht gegeben. Da war die Welt noch in Ordnung, und wenn wir nicht parierten, wurden uns die Ohren langgezogen.“ Während vor Jahren solche nostalgischen Entgleisungen noch mit einem verständnisvollen Lächeln goutiert wurden, gehen sie heute in das eine Ohr hinein und unverdaut zum anderen Ohr hinaus, denn erstens mag sie niemand mehr hören und zweitens weiß jeder, der die „gute alte Zeit“ selbst erlebt hat, dass es auf die Perspektive ankam, ob man sie als gut in Erinnerung hatte oder nicht.

Wie allgemein bekannt ist, können sich Kinder mit vielen Situationen arrangieren. Und so war es im Nachkriegsdeutschland auch mit uns: Inmitten von Trümmern und Baustellen, auf autofreien Straßen, in verwahrlosten Parks und am Flussufer erkundeten wir die Welt, ließen von harmlosen über gewagte bis zu verbotenen Spielen nichts aus, was uns Spaß machte, ärgerten die Nachbarn und begingen ziemlich jede Dummheit, von der wir wussten, dass wir sie straffrei überleben würden.

Meine Spielkameraden waren Mädchen und Jungen, die ich seit frühester Kindheit kannte, als wir uns auf dem Spielplatz mit dem feuchten Brei bewarfen, den wir aus den Tiefen des Sandkastens gruben, und uns mit den Schippchen die Nasen blutig schlugen. Der Spielplatz lag inmitten eines Wohnblocks gegenüber dem Haus, in dem meine Großeltern lebten, und war einer der wenigen, die es im Viertel gab, dazu großzügig angelegt und frei zugänglich. Den Besitzer der Liegenschaft störte es, dass nicht nur die Kinder seiner Mieter den Spielplatz in Beschlag nahmen, sondern deren Freunde aus allen Winkeln der Nachbarschaft herbeiströmten. Wenn er schlechte Laune hatte, eilte er herbei, redete Tacheles wegen des Gewimmels im Sandkasten und verjagte die Eindringlinge. Falls er das Bedürfnis gehabt haben sollte, Ärger mit seinen Mietern an den Kindern auszulassen und damit sein angekratztes Selbstwertgefühl zu flicken, hatte er mit dieser Methode keinen dauerhaften Erfolg. Sobald er dem Spielplatz den Rücken gekehrt hatte, kamen die Kinder aus den Ecken hervor, in die sie sich verkrümelt hatten, bewarfen sich weiter mit Sand und veranstalten ein Höllenspektakel, dass so manches Fenster zugescheppert wurden.

Wenn wir dieser frühkindlichen Kriegsführung müde waren, tobten wir uns in den hochgewachsenen Sträuchern aus, die zu dem Anwesen gehörten. Das war unser Dschungel, in dem die wildesten Tiere hausten und wir Abenteuer unglaublichen Ausmaßes erlebten. Da das Gestrüpp nur einen kleinen Teil des Komplexes einnahm und an dessem Ende direkt an der Straße lag, bekamen weder der Hauswirt noch die Mieter den Frevel mit, den wir diesem Stückchen Natur antaten. Die meisten Anwohner waren sowieso auf der Arbeit, und die Haufrauen, die zu Hause bleiben konnten, hatten genug zu tun in einer Zeit, in der die Wäsche noch im Kessel abgekocht und anschließend geschrubbt wurde, als man noch mit Stärke hantierte, jedes Stück eigenhändig zum Trocknen aufhängte und alles, sogar die Frottéwäsche, hingebungsvoll mit dem Bügeleisen bearbeitete. Eingekauft wurde zu Fuß, das Gemüse kam selbstgeputzt und selbstgekocht auf den Tisch, und an eine Spülmaschine konnte man nicht einmal im Traum denken. Welche Hausfrau und Mutter wollte da noch Gefahr laufen, sich eines kleinformatigen Dschungels wegen von den Blagen den Rest ihrer Nerven ruinieren zu lassen? Nur nebenbei sei bemerkt, dass uns dieser geschützte Ort zuweilen als Toilette diente, was für diese Hausmütterchen ein weiterer Grund gewesen sein mochte, unsere Eskapaden zu ignorieren.

Die meisten meiner Spielkameraden besaßen nur wenige Spielsachen. Wozu auch? Wir waren vorwiegend draußen, egal bei welchem Wind und Wetter, und dort genügte uns die Phantasie. Im Hof des Hauses, in dem meine Großeltern wohnten, gab es drei Kanaldeckel, zwei eckige und einen runden, die nah genug beieinander lagen, dass man mit einem Bein von einem zum anderen hüpfen konnte. Wer es am häufigsten schaffte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, hatte gewonnen. An der Mauer, neben den Mülltonnen, gab es eine Teppichstange, an die wir uns wie die Affen hängten und Turnübungen simulierten, die wir für olympiareif hielten. Um die Nachbarn zu nerven und aus der Reserve zu locken, diente uns ein Plastikball, mit dem wir in dem langen, breiten Torbogen Fußball spielten oder ihn abwechselnd so lange an die Wand knallten und wieder auffingen, bis wegen des Schalls die Mieter die Fenster öffneten und eine wilde Schimpfkanonade in den Hof ergossen. Unsere Antwort bestand darin, ein paarmal heftig auf den geriffelten Einstiegsdeckel zum Keller zu springen, was nicht minder laut durch den Torbogen schallte als zuvor unser Ballspiel, so dass wir schließlich doch in weiser Einsicht das Weite suchten.

Klaus, dessen Großeltern ebenfalls in diesem Haus wohnten, und Volker, der Junge aus dem ersten Stock, waren meine bevorzugten Spielkameraden. Volker, ein Einzelkind, stotterte, was kein Wunder war, denn er wurde von seinen Eltern ständig ausgeschimpft und bekam regelmäßig Schläge. Dabei tat er alles, um seiner Mutter eine Freude zu machen, pflückte für sie Wildblumen, brachte ihr im August selbstgesammelte Brombeeren und trug freiwillig den Müll runter.

Klaus war der Jüngste von drei Geschwistern, und zu seinem Unglück waren die anderen beiden Mädchen. Die Ursel war bereits ein Teenager, die Moni noch älter und mit erwachtem Interesse für die Knutschkünste ihrer Klassenkameraden, kussfeste Lippenstifte und schnulzige Schlager. Die Moni war ungefährlich, das Problem war die Ursel, die eine große Klappe hatte und meinte, ihrem kleinen Bruder Vorschriften machen zu müssen. Wir hassten sie, und besonders unmöglich fand ich es, wenn sie sich auf das hüfthohe Gittergeländer der Steintreppe zur Waschküche setzte und lauthalts „schön und kaffeebraun sind alle Frau’n in Kingston Down“ über den Hof grölte. Meine Hoffnung, der Herrgott ließe sie vielleicht endlich mal nach hinten kippen und in die Tiefe stürzen, blieb unerfüllt. Allerdings verwechselte sie auch kein Nachbar mit einem der Musikanten, die regelmäßig auftauchten, meistens mit einer Zieharmonika bewaffnet und einem Lied auf den Lippen, so dass niemand der Ursel Groschen herunterwarf, was mich einigermaßen mit Gottes Ignoranz versöhnte. Vor allem dann, wenn ich mich mit Klaus auf die Suche nach den Münzen machte, die in den gittergeschützten Gruben vor den Kellerfenstern gelandet waren. Da guckte kaum jemand hinein, und für uns war es ein leichtes Unterfangen, die Gitter hochzuheben, um an die Groschen zu kommen.

Volker hatte ein Kinderrädchen, um das wir ihn beneideten. Aber er war ein guter Kumpel und ließ uns damit fahren, natürlich nach festen Regeln, damit jeder einmal an die Reihe kam. Dafür wurde eine Strecke ausgemacht und jeder durfte einmal hin- und zurückradeln. Auch sonst teilten wir alles miteinander, wer also ein bisschen Taschengeld hatte, die anderen jedoch keins, der kaufte für sie ein paar Lakritzstäbchen oder Brausebonbons mit. De facto lebten wir den real exitierenden Sozialismus.

Die Erziehungsbemühungen seiner beiden Schwestern waren an Klaus nicht spurlos vorübergegangen, und manchmal ging mir seine Geltungssucht, mit der er seine Unterlegenheit wettzumachen versuchte, gründlich auf den Geist. Sie äußerte sich im Erfinden übertriebener Geschichten, von denen er wusste, dass niemand sie ihm abnehmen würde. Er beteuerte, sie seien wahr, wollte unbedingt hören, dass ich ihm glaube, und dabei verzog er das Gesicht zu einer Grimasse und kniff die Augen zusammen, bis sie nur noch Schlitze waren. Wenn ich klein beigab, war ihm das nicht genug, sondern er musste noch einen weiteren Beweis seiner Großartigkeit draufsetzen. Dann sagte er, dass er mal müsse, stellte sich vor die Treppe zur Waschküche, holte seinen Pimmel aus der Hose und kündigte seine Supershow an: „Guck mal, wie weit ich treffen kann!“ Erst wenn er das Waschküchenfenster erfolgreich eingesaut hatte, war er zufrieden und wurde wieder nomal. Jedenfalls hatte er zu meinem unverschämten Glück nie von mir erwartet, mich mit ihm zu messen.

In Wirklichkeit war Klaus ein Feigling. Wenn Rattengift ausgelegt worden war - damals eine durchaus übliche Aktion - und ein ensprechender Warnhinweis an der Tür zur Kellertreppe hing, musste er wie unter Zwang die Abbildung des Totenkopfs anstarren, als handele es sich um das Schlangenhaupt der Medusa, und fragte mich dann mit vor Verzweiflung rauer Stimme: „Habe ich jetzt einen Totenkopf?“ Worauf ich antwortete: „Nein, aber eine Meise unter dem Pony.“

Auch das Dachgeschoss des Hauses, für mich ein faszinierender Ort, erfüllte ihn mit Angst. Die Räume waren im Krieg ausgebomt worden, und ihre Böden waren einsturzgefährdet, aber niemand war je auf die Idee gekommen, den Treppenaufgang abzuriegeln. Das Dachgeschoss war zur Tabuzone erklärt worden, ein deutlicher Beweis für die heilige Einfalt, denen selbst Erwachsene noch unterliegen können. Für uns Kinder war dieses Tabu jedenfalls das Fanal, erst recht unsere Nasen in die verbotene Zone zu stecken.

Hier oben gab es nur Holzbalken, Holzpfeiler und eine Luke für den Schornsteinfeger, durch die er das Dach erreichen konnte, was wegen der geringen Raumhöhe ohne Leiter möglich war. An einer Strebe hing ein Zopf verdorrter Knoblauchknollen, und ich fragte mich, was der Anlass gewesen sein mochte, in einem seit Kriegsende unbenutzten Raum dieses merkwürdige Gewächs anzubringen. Jedenfalls erfuhr ich auf diese Weise, was Knoblauch ist und wie er aussieht, denn in Mutters Küche kam er nicht vor. Auch hatte ich keine Ahnung, dass es Menschen gab, die an Vampire glaubten. Als ich erstmals davon erfuhr und gleichzeitig belehrt wurde, Knoblauch sei ein wirksames Mittel zur Senkung des Blutdrucks, kam ich aus dem Staunen über die rätselhaften Wege des Aberglaubens nicht heraus.

Für Klaus war das jedenfalls kein erquicklicher Ort, und lange hielt er unsere Ausflüge in das Dachgeschoss nicht durch. Erst mein Cousin Peter, der drei Jahre jünger war als ich, fasste den Mut, mit mir durch die Luke auf das Flachdach zu klettern und die Welt von dort oben zu betrachten.

Wir brauchten also nicht viel, um inmitten der Trümmerlandschaft, die der Krieg hinterlassen hatte, eine unbeschwerte Kindheit zu leben. Wenn uns das Terrain einmal zu eng wurde, gab es immer noch den Fluss, von dessen damals einziger Brücke wir die Dampfer kommen sahen, die meistens Kohle transportierten. Dann sammelten wir so viel an Speichel, wie nur ging, bis sie unter der Brücke hindurchfuhren, und spuckten im hohen Bogen auf ihre Ladung. Langeweile kannten wir nicht, denn für Racker wie uns gab es immer etwas zu tun.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Kindertage

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche



Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.