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Alt 15.12.2016, 00:51   #1
männlich Heinz
 
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Standard 22. Kapitel Urlaub in Jena

22. Kapitel

Tags darauf kam ein Aufräumtrupp, bestehend hauptsächlich aus meinen Tanten, und beseitigte alle Spuren der ausgelassenen Fete. Die Eifrigste - meine „Tante“ Hannelore, sie - ein Bild, von besoffenen Göttern gemalt: Die Haare unter einem Kopftuch versteckt, die Vorderpartie züchtig mit einem Dederonhausfrauenkittel bedeckt - darunter trug sie wegen der sommerlichen Hitze nichts und es war immer ein besonderer Spaß ihren nackten Hintern zu sehen, wenn sie wieder irgendwas vom Boden aufhob.
Gerhard kam später dazu, um die leeren Flaschen einzusammeln, aber bevor er mit dieser Tätigkeit, die sich auf das ganze Gartenarreal erstreckte, begann, schwenkte er mit einem Stück Papier: „Heinz, für Dich ist ein Telegramm gekommen.“ Telegramme hatten, zumindest für mich, immer etwas Bedrohliches. Was ist passiert? Oho - es war etwas ganz Wunderbares geschehen: Elischa teilte mit: „Ankomme Mittwoch achtzehn Uhr Westbahnhof. stop. Bringe Iduna mit.stop.“, - meine Freude war unbeschreiblich, doch wer oder was ist Iduna? In Wuppertal gab es eine Iduna-Versicherung, die konnte man ja schlecht mitbringen. Iduna? Ach ja, in Kreuzworträtseln, fiel mir ein, gibt es die Frage nach der Göttin der ewigen Jugend, mal mit vier, ein andermal mit fünf Buchstaben. Das Rätsel, wer oder was Iduna sein könne, beschäftigte mich eine zeitlang, dann: Soll sie mitbringen - Mittwochabend weiß ich mehr. „Du hast der Brigitte versprochen, mal in die Ringwiesen zu kommen!“ erinnerte mich Ursel. Die „Ringwiesen“ - Endstation der Straßenbahn Richtung Lobeda, eine Siedlung, angelegt von der großen Firma Zeiss für Werksangehörige, kleine Häuser, die für jeweils 2 Familien gedacht war, alle mit Garten und einem schönen Blick auf die Kernberge.
Dort wohnten in einem Dreimädelhaus Brigitte, Töchterchen Karin und Mutter, bis vor paar Jahren noch die Großmutter, meine sehr geliebte Tante Agnes. Sie hatte immer die ersten Äpfel im Jahr und - so weit der Weg für einen sechsjährigen Knirps auch war - den habe ich zum Entsetzen meiner Mutter öfter unter die „Igelit-Latschen“ (gummiartige, angeblich die Füße verderbende Sandalen) genommen und war stundenlang unauffindbar. Mit anderen Worten: Ich war als Kind sehr oft „in den Ringwiesen“. Langsam meldete sich mein Gedächtnis und ich war mir sicher, dass ich nicht nur Brigitte, sondern auch Hannelore, Ursels Eltern und Onkel Hans versprochen hatte, vor meiner Abreise mal vorbei zu kommen.
Also - heute raus in die Ringwiesen. Alle Straßen trugen Blumen- oder Gewürznamen, die Häuser sahen alle zum Verwechseln ähnlich aus und trotzdem fand ich das Häuschen im Thymianweg auf Anhieb. „Thymian“ hatte sich bei mir eingebrannt, wohl deshalb, weil ich nicht wusste, was Thymian ist. Mein Cousinchen, ein aufgewecktes Mädchen von 11 Jahren, öffnete die Tür: „Die Mutti kommt gleich - sie hat Omi im Krankenhaus besucht.“ Mein altes Tantchen hat nicht mehr lange gelebt, aber alle Männer und Frauen unserer Sippschaft wurden mindestens 80 Jahre alt - das lässt der Hoffnung Raum, dass ich auch nicht so schnell den Löffel abgeben muss. Karin, so hieß die Kleine, war ein sehr braves, gut erzogenes und kluges Mädchen und wurde (ich hätte es damals voraussagen können) Bibliothekarin in Leipzig. Brigitte, die einzige Klavierspielerin des Clans, war Lehrerin und gab sich als Dreißigjährige wie eine siebzigjährige Gouvernante, war sehr belesen und durch das Scheitern ihre Ehe sehr verbittert. Voller Stolz zeigte sie mir die Zeugnisse Karins und mir fielen vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf. Da hatte ich doch bisher geglaubt, das einzige Genie (ausgenommen Manfred) in der Familie zu sein. Karin übertraf alles: Ein Zeugnis, nein, alle Zeugnisse bestanden aus Einsen - bis auf eine hin und wieder auftauchende Zwei in Sport.
Dass sich ein Lehrer oder eine Lehrerin vorm Kollektiv rechtfertigen musste, wenn sie eine Note, die schlechter war als „befriedigend“ gaben, erklärte nicht alles, aber so einiges. Zweifellos waren hier, in der DDR, die vermittelten Kenntnisse in deutscher Sprache, Mathematik, Physik, Biologie gründlicher und besser als bei den Schüler/innen als in der Bundesrepublik.
Defizite, die ich glaubte erkennen zu können, waren die Fähigkeiten zum selbstständigen Denken und Handeln. Das betraf nicht nur die Schule, sondern beispielsweise auch das Militär. Als ich mit einem Hauptmann, später auch mit einem Unteroffizier der NVA diskutierte - größte Offenheit war durch die enge Freundschaft der beiden mit meinem Onkel garantiert - wunderte ich mich über die Obrigkeitshörigkeit und die starren Regeln beim Thema „Befehl und Gehorsam“. Völlig unglaubwürdig muss ich den beiden erschienen sein, als ich ein Streitgespräch zwischen einem General und mir (ich hatte ja noch nicht einmal Offiziersrang) schilderte und - was für mich völlig selbstverständlich war - die Oberhand behielt und keine Sanktionen zu befürchten hatte, hielten die beiden das für eine schlichte Unmöglichkeit. Ich komme später in einem anderen Zusammenhang auf das Thema zurück.
Die Wartezeit von Sonntag bis Mittwochabend, den Abend, an dem Elischa (mit Iduna im Gepäck) kommen würde, erschien mir wie eine kleine Ewigkeit. Ich besuchte meine Verwandten, die Gartenanlage, in der meine Großeltern väterlicherseits die Vereinsgaststätte betrieben hatten und die wunderbare Erinnerungen wach rief, erwanderte die Wege von meinem nicht mehr vorhandenen Geburtshaus bergauf bis zu der Stelle, an der wir als Kinder unsere Schlitten zusammen banden und das ganze „Rennbob“ nannten, um dann - fünf, sechs Schlitten hintereinander, ich als Kleinster auf dem ersten liegend, auf dem zweiten Günter, mein 2 Jahre älterer Freund, als Steuermann, 15 - 20 Gleichaltrige auf der Schlittenschlange - in immer schneller werdenden Abfahrt etwa 4 km Richtung Jena zu brettern. Günter hat sich jedes Jahr irgend etwas gebrochen und zeigte uns, kaum aus dem Krankenhaus entlassen, stolz die Röntgenaufnahmen seiner lädierten Knochen. Durch den Wald gings zum Forsthaus, einer gemütlichen Gaststätte mit Blick ins Tal, wo Jena vor sich hin qualmte.
Endlich - endlich Mittwoch! Die Zeiger meiner Armbanduhr wollten und wollten nicht schneller vorrücken - eine Stunde vorm Eintreffen des Zuges war ich am Westbahnhof, fand einen kleinen Buchladen und vertrieb mir so gut es ging mit Stöbern in Büchern und drei Zigarettenpausen die Zeit, stand am Bahnsteig, wartete auf das Dampfross und dann kam der Zug und die Türen öffneten sich und aus einem Waggon stieg sie aus - Elischa mit Köfferchen und Iduna im Schlepptau. Die Schuppen vor meinen Augen fielen deutlich klappernd auf den Bahnsteig: Iduna - die Göttin der ewigen Jugend - Jaqueline!
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