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Alt 26.01.2013, 22:46   #1
männlich Cash
 
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Standard Neurotransmitter

Nur durch die Tatsache, dass ich schreibe, wissen sie, dass ich noch da bin. Denn wenn ich erst einmal fort bin, werden sie es nicht gleich merken. Niemand wird es merken. Wenn man mich nicht umgehend findet, dann wird es lange dauern, sehr lange dauern, bis ihnen auffällt, dass ich nicht mehr lebe. Nicht meine Abwesenheit, einzig der Gestank meines verwesenden Körpers wird ein Anhaltspunkt sein, sich der Frage zu widmen, wo der Arsch denn geblieben sein könnte. Doch Vorwürfe lägen mir nicht ferner.

Von der Mutter gut ein Jahr nichts mehr gehört, zweieinhalb Jahre nichts mehr gesehen. Der Schwester gehe ich aus dem Weg, ebenso ihrem einzelligen, brutal einfältigen, aggressiven Freund. Auch dem Vater begegne ich nur, wenn es unumgänglich ist. Und Freunde; Freundschaften verliefen bei mir, wie andere ihre Liebesbeziehungen pflegen: temporär, lebenspartiell, beliebig austauschbar. Wie eine Dose Cola komme ich mir vor, wie eine Verpackung, deren Nutzen darin besteht, einmal hilfreich zu sein, bis sie unbrauchbar und weggeschmissen wird. Ich bin diese Tüte, die sich immer in Flüssen oder Bachläufen im Gestrüpp verheddert. Müll, der einst gebraucht, dann nicht mehr benötigt, abschließend lästig wird.

DVDs haben sie sich geliehen, und Zeit. Wenn man etwas von mir will, werde ich interessant. Dann werden abgekühlte Kontakte erneuert, um sie wieder erstarren zu lassen.

Wann ich für meine Familie interessant bin: bei Umzug die Waschmaschine schleppen (und mir den Rücken ruinieren), Computer reparieren (gleichwohl ich keine Ahnung habe). Hier mal halten, dort mal halten. Am Geburtstag die verdummte Vereinsscheiße, die saufend und grölend zu Spackenmucke ihr erbärmliches Dasein feiert, mit alkoholisiertem Nachschub zu versorgen. Diese mütterlichen Freunde, diese Dauersäufer, diese gelebte Niederung jedweden Anstands, diese widerliche, abstoßende Menschheitsaushöhlung. Niemals will ich derart enden. Niemals. Niemals einem Verein angehören, niemals als Individuum in ein Pulk Gleichgeschalteter untergehen. Niemals. Keine Menschen, mit denen es sich lohnt, Zeit zu verbringen. Wie sie sich das Gebräu in die deformierte Figur kippen, in den verholten Kopf. Fußball und Tennis, dort finden sie sich. Die von ganz Unten und die Möchtegernvonoben. Hier treffen sie zusammen und lullen sich gegenseitig in Selbstzufriedenheit. Spucken einander an mit ihrem dampfend heißen Alkoholatem, der beißend und reißend in die Nasenlöcher dringt und sich an den kleinen Härchen festkrallt, bis die Tränen kommen. Keine Zeit möchte ich mit ihnen verbringen, auf keinen Fall. Und dann tue ich es doch, weil es der Wunsch meiner Mutter ist. Das tut man, weil es Familie ist. Aber was bleibt, ist ein Loch. Und bei Freunden sieht es nicht anders aus. Und vielleicht ist das der Grund, warum ich mich nach einer Beziehung sehne: weil es anders als eine Freundschaft ist. Denn dass ich nicht normal bin, ist kein Geheimnis.

Dass normale Menschen mich langweilen,

dass ich mich immer schon in die Mädchen verguckt und verliebt habe, die zumindest etwas vom sterbenslangweiligen Mainstream abweichen,

dass nur solche Menschen dieses störrisch versteinerte Etwas in meiner Brust (eigentlich Kopf) in Dr. Frankenstein-Manier zum Leben erwecken können,

das ist alles kein Geheimnis.

Und dass ich ein toller Mensch sein kann, wenn man mir nur die Chance gibt. Dass ich liebevoll und bekloppt sein kann, und fürsorglich und witzig, und eine Schulter zum Anlehnen bieten kann, wenn man mir nur die Zeit zugesteht, aus der Starre zu erwachen, in die ich mich einst zum Selbstschutz habe kryonisieren lassen. Zu erwarten, alles würde mit einem Mal funktionieren. Zu erwarten, eine Eingewöhnungsphase sei nicht vonnöten,

das ist irrsinnig.

Mit mir selbst habe ich gekämpft, mit dem dummen Schweinehund, der mein Leben gekapert hat. Dass ich mir zur Wehr setzen konnte. Dass ich zu Jen gehen konnte. Das war nicht selbstverständlich. Nicht für mich. Ein Leben, das nur von Ängsten und Enttäuschungen geprägt ist. Ja, ich bin kein guter Mensch, doch wer kann das schon von sich behaupten.

Die Nacht ward der Himmel von aberhunderten Meteoren perforiert.

Die Menschen werden aufblicken und Wünsche in sich hinein flüstern. Das Spektakel wird sich über einige Stunden erstrecken, und am Ende doch nur Enttäuschte hinterlassen.

Die Sterne als Erinnerungen an längst ausgestorbene Zeiten.

Ein Bombardement der Schönheit.

Nur einmal noch neben ihr am Fenster stehen und die Lichter der Stadt in einigen Kilometern Entfernung betrachten.

In die Ecke gedrängt, ist es Blut, das aus meinen Augen rinnt. Hämoglobintränen. Wenn der Druck steigt. Das Auto mit zweihundert Sachen auf die Mauer zu rast. Der Hals zugeschnürt, die Luftzufuhr abgeschottet wird.

Ursa Minor und Ursa Major.

Erst gerade lief die Wiederholung einer Wiederholung einer Wiederholung. Ein kleiner Roboter, der über die menschenverlassene Erde rattert, Müll aufsammelt und zu Würfeln presst. Nur eine neugierige, lebensmüde Kakerlake an seiner Seite, verfällt er in eine Melancholie, sobald er der Musik aus einem Filmusical lauscht. Die Welt selbst ist ihm ein schwerverständlicher Ort; ein Ort der Skurrilität, der Irrationalität. Naiv rollt er durch die Hochhaus- und Müllschluchten, sammelt auf, siebt aus, trennt Wertvolles von Müll. Ein BH sorgt für Verwunderung, einen Verlobungsring erachtet er als unbedeutend, die blaue, staubbedeckte Schachtel mit dem witzigen Scharnier als interessant. Tag für Tag erledigt er seine Aufgaben, und weiß doch nicht so recht, warum. Eines Tages findet er eine Pflanze in dieser Hölle von Welt, die ausgezerrt und dürre durch die Jahrhunderte siechte. Viel denkt er sich nicht dabei, nimmt das Pflänzchen dennoch mit sich in seine kleine Behausung. Ein Container voller Krimskrams. Sortiert, verstaut. Ein IPod dient ihm nach so langer Zeit noch als Fernseher. Eine Lupe vergrößert das kleine Bild. Zwei Menschen, die Hände haltend durch eine farbenprächtige Szenerie hüpfen, voller Freude und Liebe. Verträumttraurignaiv verfolgt der kleine Roboter das Geschehen, um dann das Händehalten nachzuahmen. Metallisch grob verhaken sich die stählernen Pranken, so kalt und ramponiert das äußere Antlitz. So bekannt.

Brausend laut bombardieren die Bremsraketen den Boden, wirbeln Staub und Geröll auf, bohren Löcher in die Oberfläche, und wie aus dem Nichts bricht das Inferno herein. Trügerische Laserstrahlen führten den kleinen Roboter hier her. Und jetzt, jetzt hat er Angst. Bis er dieses weiße Etwas erblickt. Federleicht gleitet das Objekt wie ein Schmetterling durch die Luft. Hüpft und dreht sich um die eigene Achse. Wie ein Traum; der glatte, rundliche Körper. So rein, so perfekt. Bis ein Laut den kleinen, neugierig beobachtenden Roboter verrät. Umgehend transformiert die engelsgleiche Gestalt in eine Furie, richtet eine Kanone auf den kleinen Roboter und feuert einmal, dann noch einmal. Erst da erkennt sie, dass keine Gefahr von der kleinen Metallkiste ausgeht.

Pathetic heißt es im Englischen. Ein falscher Freund.

Stell dir vor, das Leben ist ein Film. Stell dir vor, Figurenkonstellationen wirken gleichgleich. Stell dir vor, man könne Rückschlüsse ziehen.

Iiiiwaaah. Nur zweimal spricht er ihren Namen richtig aus.

Stell dir vor, nur ein Film. Ein Happy-End.

Stell dir vor, wie es sich anfühlen muss. Du nimmst dir eine alte Säge mit eingespanntem stumpfrostigem Sägeblatt, und dann trennst du dir damit langsam das eigene Bein ab. Die Zacken fressen sich in das aufplatzende Fleisch und reißen alles mit: Haut und Sehnen und Blut und Muskelgewebe. Es ist kein sauberer Schnitt, es ist, als würde man mit einem Tremor eine Motorsäge halten und einen Truthahn tranchieren. Eine riesengroße Sauerei, von den Schmerzen ganz zu schweigen. So fühlt es sich an. Kannst du dir das vorstellen? Geht das? Aber,

stell dir vor: der eigentliche Schmerz ist noch viel schlimmer. Viel, viel schlimmer. Denn

eigentlich existiert er nicht. Der Schmerz ist nur die Illusion von physischer Kraft. Eine dumpfe Leere. Ein lebendes schwarzes Loch. Negative Energie. Negativ. Negativ. Negativ.

Iiiiwaaah. Ein kleiner Roboter, über dem das köstliche Chaos der Liebe hereinbricht. Plötzlich ist sie da, so energievoll, engstirnig und genial. Impulsiv und generös. Pure Glorifizierung der Schönheit. Und dann ist sie weg. Wieder und wieder und wieder. Sie löst sich nicht etwa auf, sie setzt sich einfach auf ein großes, blaues Sitzkissen inmitten meines Kopfes und lächelt, während sie versucht, Haltung zu bewahren und eine gemütliche Position einzunehmen. Und da sitzt sie nun und geht nicht weg.

Wenn ich Pommes esse, dann höre ich ihre verstellt quietschende Stimme.

Wenn ich ein Glas Coke Zero trinke, dann höre ich ihre verstellt quietschend süße Stimme.

Dann sagt sie fragend: Jenny auch? Nur niedlicher. Dann wird aus dem e ein kurzes i, aus dem J ein weiches G, das wie Ch klingt, und aus Jenny die bezaubernde Chenny, oder so.

Ihre Stimme vernehme ich natürlich nicht. Es sind Erinnerungen, ein vokales Echo ins Jetzt geflüstert. Vielmehr hoffe ich, ihre Stimme zu hören, wenn ich eines der beschriebenen Dinge tue, doch bleibt sie einfach sitzen, rutscht mit ihrem Po etwas vor, dann nach links, dann nach rechts, erhebt sich minimal, drückt den Po wieder in das weiche Sitzkissen, nur diesmal bequemer, und tippt mit den Fingern auf dem Oberschenkel den Takt eines Liedes, der in ihrem Kopf umherschwirrt. Vielleicht das Thema von Hannah Montana oder Paint it Black. Und vielleicht spitzt sie ihre Lippen, hebt den Kopf leicht in den Nacken, rümpft minimalst die Nase und lächelt dann süffisant frech, schlicht weil sie es kann.



Synapsen blitzen auf, ein Informationsfeuerwerk rast durch den Kopf. Bilder werden geboren. In den Ohren brennt Musik. Weiß glühend, rot reflektierend. Nur ein Gedanke, ein einfacher Gedanke. Eine Träne schwappt aus dem Auge und segelt zielgenau in das Glas mit Leitungswasser. Laut taut die Kälte perlend an der Flasche, auf dem blauweißen Etikett im Regen der Narkolepsie.

Wenn Du die Augen schließt, was siehst Du?
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