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Alt 28.11.2017, 22:22   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Richtfest

Lukas

Lukas schob das leere Schnapsstamperl nach hinten, griff nach seinem Bierseidel und trank ihn aus. Mit den Zähnen prüfte er seine Zunge und spürte einen Anflug von Taubheit. Er nahm die beiden Gläser und erhob sich von der Holzbank.

„Bring uns auch eine Runde mit, wir haben noch mächtig Durst.“ Siggi war für seine Trinkfestigkeit bekannt. Mit einem Zug leerte er seinen Seidel, stellte ihn aber nicht ab, sondern stand ebenfalls auf. „Ich komme mit und helfe dir beim Tragen.“ Er klopfte Harald auf die Schulter, der bereits zusammengesunken vor sich hin stierte. „Für dich auch noch einen Schnaps dazu?“ Siggi nickte stumm.

„Nicht mehr mit mir, Leute, ich habe genug für heute.“ Lukas stellte das Stamperl in den Seidel und nahm mit der freien Hand seine Jackett von der Bank. „Zeit für mich, nach Hause zu gehen.“

„Wie? Du kneifst?“

„Komm, Siggi, sei nicht albern. Ich habe die letzte Runde geschmissen, und jetzt ist für mich Feierabend.“

„Seit dich Leni in den Klauen hat, bist du nicht mehr der Alte.“

„Lass Leni aus dem Spiel.“

„Ist doch wahr. Keine Ausnahme machst du mehr, seit sie dich vor den Traualtar geschleppt hat. Nicht mal jetzt. So ein Richtfest hatten wir noch nie. Guck dir den Riesenkranz über diesem Prachtbau an, so einen Auftrag kriegen wir vielleicht nie wieder.“

„Mach keine Schwierigkeiten, Siggi.“

„Du machst Schwierigkeiten. Ich dachte, wir seien mehr als nur Partner, nämlich Freunde.“

Lukas seufzte und legte die Jacke auf die Bank zurück. „Also gut, noch auf ein Bier.“

„Und einen Schnaps.“

„Aber nur einen. Dann ist wirklich Schluss.“


Leni

Leni sah auf die Wanduhr, stand von der Couch auf und drückte die Off-Taste des Fernsehgeräts. Sie ging in die Küche und nahm das Tuch von der Schüssel mit dem Teig, den sie vor zwei Stunden vorbereitet hatte. Lukas hatte sich Kartoffelpuffer gewünscht, seine Leib- und Magenspeise seit frühester Kindheit. Damit er auf seine Kosten kam, hatte sich Leni von ihrer Schwiegermutter das Rezept geben lassen und solange geübt, bis Lukas nichts mehr zum Mäkeln fand und ihr einen „Daumen hoch“ gab. Seitdem stand einmal die Woche Kartoffelpuffer auf dem Speiseplan.

Lukas hatte versprochen, spätestens um neun Uhr zu Hause zu sein. Ein, zwei Bier seien genug für ihn, als Architekt könne er sich schließlich nicht gehen lassen und zum Gespött machen. Harald diente ihm als Warnung, seit dieser einmal derart viel Alkohol in sich gekippt hatte, dass er einen Kreislaufkollaps bekam und mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus geschafft werden musste. Leni war beruhigt darüber, dass Lukas so vernünftige Ansichten hatte, und lächelte, als sie die Pfanne auf den Herd stellte, Öl hineingoss und die Platte anstellte.

Auf dem Teller türmte sich nach und nach ein ansehnlicher Berg Kartoffelpuffer. Zwischendurch hatte Leni den Tisch im Esszimmer gedeckt. Die Küchenuhr zeigte auf halb zehn. Angespannt lauschte sie, ob ein Auto in die Einfahrt fuhr und sich in der Eingangstür ein Schlüssel drehte, aber alles blieb still.

Sie schenkte sich ein Glas Weißwein ein und drehte das Radio an. Ein Sprecher berichtete von einem Autounfall in der Stadt, bei dem einer der Fahrer tödlich verletzt worden war. Sie atmete auf, als sie hörte, dass es sich um den Fahrer eines BMW handelte. Lukas fuhr einen Audi, und wenn er mehr als zwei Bier getrunken hätte, wäre er nicht in den Wagen gestiegen, da war sich Leni sicher. Doch die Nachricht im Radio hatten ihre Unruhe geweckt. Sie goss ihr Glas zum zweiten Mal voll und trank den Wein in großen Zügen.

Um halb elf war die Flasche leer. Leni drehte den Backofen aus und holte den Teller mit den warmgehaltenen Kartoffelpuffern heraus. Sie nahm Palmfett aus dem Kühlschrank, drehte die Herdplatte an und zerließ das Fett in der Pfanne. Dann holte sie eine neue Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und öffnete sie.

Zwei Stunden später lag sie auf der Wohnzimmercouch in einem Tiefschlaf, aus dem sie selbst ein Kanonenschlag nicht geweckt hätte.


Lukas

Als Lukas zwei Stunden später die Haustür aufschloss und in den Flur torkelte, riss er den Schirmständer um und gab versehentlich der Katze einen Tritt, dass diese laut fauchte und einen Buckel machte. Erfolglos versuchte er, den Garderobenhaken zu treffen, an dem er für gewöhnlich sein Jackett aufhängte. Er ging ins Wohnzimmer und warf es achtlos über die Sessellehne. Als er Leni erblickte, regten sich seine Schuldgefühle nur für einen kurzen Moment. Man müsse schließlich mal seinen Spaß haben dürfen, auch nachdem man sich das Ja-Wort gegeben und eine unverantwortlich lange Liste an Versprechungen gemacht habe. Zum Glück bleibe ihm ein eheliches Gewitter für diese Nacht erspart, das wäre für seinen Kopf eindeutig zu viel gewesen.

Erleichtert über den Frieden im Haus ging er in die Küche, denn er verspürte einen brennenden Durst und musste unbedingt ein Glas Wasser trinken. Bei dem Gedanken fiel ihm auf, dass es in seinem Bauch grummelte. „Sie wollte Kartoffelpuffer machen,“ frohlockte er in Erinnerung an den mit Leni geplanten Abend, wunderte sich aber, dass der Backofen leer war. Als er das Glas hob, um einen großen Schluck Wasser zu nehmen, wanderte sein Blick zur Küchendecke. Augenblicklich verschluckte er sich und bekam einen heftigen Hustenanfall. An der Decke, die er vor einer Woche mit weißer Farbe angestrichen hatte, klebten in drei Reihen und regelmäßigen Abständen vierundzwanzig Kartoffelpuffer, gerahmt von erkaltetem Palmfett und mit bunten Reißnägeln gespickt.

28.11.2017
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2017, 08:02   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Liebe Ilka,

leichte Unterhaltung, amüsant zu lesen.

Zwei Dinge sind mir aufgefallen:
Zitat:
atmete auf, als sie hörte, dass es sich um den Fahrer eines BMW handelte
Um welchen Fahrzeugtyp es sich handelt, wird doch in den Nachrichten eigentlich gar nicht erwähnt. Eher das Alter des Fahrers.

Zitat:
Man müsse schließlich mal seinen Spaß haben dürfen, auch nachdem man sich das Ja-Wort gegeben und eine unverantwortlich lange Liste an Versprechungen gemacht habe. Zum Glück bleibe ihm ein eheliches Gewitter für diese Nacht erspart, das wäre für seinen Kopf eindeutig zu viel gewesen.
Wieso steht das in indirekter Rede bzw. vor wem will er sich rechtfertigen? Leni schläft doch auf der Couch, als er nach Hause kommt (und sie sagt ja auch nichts oder bewegt sich, als er sie sieht, jedenfalls wird das nicht erwähnt, also wird sie nicht wach). Also Ausflüchte vor sich selbst - aber warum dann in indirekter Rede? Für mein Sprachgefuehl passt "bleibe ihm ein eheliches Gewitter diese Nacht erspart" hier nicht.

Vielleicht eher: "Zum Glück bleibt mir wenigstens ein eheliches Gewitter heute nacht erspart", dachte er.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 01.12.2017, 19:43   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Wieso steht das in indirekter Rede bzw. vor wem will er sich rechtfertigen? Leni schläft doch auf der Couch, als er nach Hause kommt ...

Vielleicht eher: "Zum Glück bleibt mir wenigstens ein eheliches Gewitter heute nacht erspart", dachte er.
Wie sonst als in indirekter Rede hätte ich seine Gedanken denn ausdrücken sollen? Ich habe das absichtlich so gemacht, um die wörtliche Rede und den Zusatz "dachte er" zu umgehen.

Lukas rechtfertigt sich natürlich vor sich selbst, und zwar auf eine typische Art und Weise, wenn Schuldgefühle nagen: Er versucht sich zu beruhigen und seine negativen Gefühle zu ersticken. Es ist nicht gerade hilfreich für ihn, ausgerechnet beim Betreten des Wohnzimmers seine schlafende Frau vorzufinden und daran erinnert zu werden, dass sie bis in die Nacht hinein auf ihn gewartet hat. Warum wohl ist sie nicht zu Bett gegangen? Sie wollte natürlich wach werden (oder bleiben), bis ihr Mann nach Hause kommt. Aber da sie zu viel getrunken hatte, klappte das nicht.

Schön, dass dich die Geschichte amüsiert hat. Mein Onkel, dem das ganz ähnlich passiert ist (für ihn klebten die Pfannkuchen an den Wandkacheln) fand das weniger witzig ).
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