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12.11.2017, 23:07 | #1 |
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Spieglein, Spieglein ...
Bernard d’Hommechamp betrachtete sich im Spiegel und sah einen verlöschenden Stern. Sein Haar war nicht nur schütter geworden, sondern hatte ein stumpfes Graubraun angenommen, ohne jede Anstalten, sich in das strahlende Weiß zu verwandeln, das einen Mann seines Alters noch ein paar Jahre lang attraktiv machen könnte. Er zog die Stirn nach oben, aber die Furchen, die sich waagerecht über seine Augenbrauen zogen, mochten selbst dann nicht restlos glatt werden, wenn er dabei vor Anstrengung die Luft anhielt. Seine Augen kamen ihm kleiner als früher vor, und erst jetzt fiel ihm auf, wie eng sie standen und dass sie ihren Glanz verloren hatten. Auf seinem Gesicht wechselten sich weiß-rosa Placken mit braunen Sprengseln ab, die ihn krank aussehen ließen. Lediglich mit seiner schlanken, drahtigen Figur konnte er noch zufrieden sein – aber wie lange noch?
Er wurde alt. Diese Erkenntnis stach ihm ins Herz und in die Lenden. Monique hatte die nackte Wahrheit ausgesprochen, und er hatte sie dafür beschimpft. Die Szene biss sich in seinem Gemüt fest, aber nicht, weil er sein unflätiges Benehmen bereute, sondern weil er sich leid tat. Monique kümmerte ihn nicht mehr, er hatte lange genug dieser Nutte die Miete bezahlt und sie mit den teuersten Klamotten ausstaffiert, damit war jetzt Schluss. Er bedauerte sogar, dass er ihr nicht noch eine kräftige Ohrfeige zum Abschied verpasst hatte, obwohl Gewalt trotz all seiner niederen Instinkte, die er auszuleben pflegte, nicht seine Sache war. Sie hätte es verdient gehabt, weiß Gott! Ist das etwa Dankbarkeit, nach allem, was er für sie getan hatte, mit diesem Vollpfosten in die Kiste zu springen, den er, Bernard, erst vor wenigen Wochen in die Community eingeführt hatte? Was kann ihr dieser Schwachmatiker außer seiner Jugend und ein paar Muskeln bieten? Sie wird schon sehen, was ihr bleibt, wenn sie sich an die Tarife gewöhnen muss, die das Leben diktieren. Und außerdem: Er hatte ja noch Isabelle, Ghislaine und Dominique. Allerdings war sein Verhältnis zu Isabelle vor einigen Tagen aus der Balance geraten. Dabei hatte er sie, als sie ihm ihre neue Reizwäsche vorführte, um ihn scharf zu machen, lediglich gefragt, ob sie nicht in Erwägung ziehe, sich endlich mal ihren Busen straffen und die Krähenfüße liften zu lassen. Statt ihm jubelnd um den Hals zu fallen, denn er hätte die Eingriffe selbstverständlich bezahlt, bekam sie augenblicklich einen Migräneanfall und forderte ihn unwirsch auf, sie allein zu lassen. Das kam ihm komisch vor, denn solange er Isabelle kannte, hatte sie sich damit gebrüstet, nie in ihrem Leben Kopfschmerzen gehabt zu haben, sozusagen dagegen resistent zu sein, ganz im Gegensatz zu ihrer bedauernswerten Mutter, die alle vier Wochen von einer schweren Migräne heimgesucht wurde. Aber alle guten Worte und das zärtlichste Streicheln, zu dem Bernard fähig war, konnten Isabelle nicht umstimmen, er musste gehen. Seitdem hatte er von ihr kein Wort mehr gehört, und ihn beschlich das Gefühl, dass ihre Launen ihn diesmal mehr kosten würden als einen Trip nach Venedig, eine Nerzjacke und drei Paar neue Manolos. Aber bevor er darüber nachdachte, ob sie ihm das noch wert war, nahm er sich vor, Ghislaine anzurufen. Nun war Ghislaine auch kein junger Hüpfer mehr, hatte sich aber für ihre vierundvierzig Jahre gut gehalten. Außerdem war sie immer gut drauf und nicht so leicht zu kränken. Sie konnte über alles lachen, sogar über sich selbst. Das gefiel Bernard, denn bei ihr musste er nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Ghislaine zog es ohnehin vor, Gold um den Hals zu tragen, und es verging kaum eine Woche, in der sie Bernard nicht zum Juwelier schleppte. Für diese Bescheidenheit war er ihr dankbar, denn in den Auslagen funkelten Schmuckstücke, die mit den edelsten Steinen besetzt waren. „Steine sind kalt,“ pflegte sie zu sagen und würdigte das sündhaft teure Geschmeide keines weiteren Blickes. Von allen Frauen, die Bernard in seinem langen Leben gehabt hatte, war Ghislaine ein Schnäppchen gewesen. Günstiger als sie hatte ihm keine andere Frau ihren Körper dargeboten. Wenn sie bloß noch ein paar Jahre jünger gewesen wäre, hätte Bernard keinen Grund zur Klage gehabt. Vielleicht doch lieber Dominique? Diese kindlich-naive, zarte Nymphe, die er in die Freuden der Fleischeslust einführte und die sich zu einem wahren Kleinod in den Armen eines Mannes entwickelte ... Bernard lächelte in sich hinein. Dominique ... sie war die Lösung für seine derzeit desolate Verfassung. Sie würde ihm jeden, aber auch jeden Wunsch erfüllen. Allerdings konnte Dominiques unschuldige Aufrichtigkeit einer empfindsamen Seele, wie sie Bernard sein eigen nannte, ziemlich weh tun. Als er sie bei ihrem letzten Treffen fragte, ob sie ihn denn liebe oder ob sie es nur auf sein Geld abgesehen habe, sah sie ihn mit ihren großen feuchten Augen an und antwortete klar und unverstellt: „Aber ja, ich liebe alles an dir: deine Dackelfalten, deine Tränensäckchen, dein Krausnäschen und vor allem deine Hängebäckchen. Die sind einfach süß.“ „Süß!“ Noch nie hatte eine Frau gewagt, Bernard „süß“ zu nennen. Das hätte schwerwiegende Konsequenzen gehabt. So etwas musste er sich nicht bieten lassen, ein Mann seiner Kompetenz in allen Lebenslagen. Er war ein Schwergewicht mit Charisma, deshalb fraß ihm die Community, die er nach und nach aufgebaut hatte, aus der Hand. Sie war der Anziehungspunkt sowohl für junge, aufstrebende wie auch für ältere, verkrachte Künstler. Da Bernard selbst nicht mit Talent gesegnet war, machte er sich den Schöpfergeist anderer Künstler untertan, indem er sie finanzierte und von sich abhängig machte. Wenn sie ihre jungen, schönen Models mitbrachten, umso besser. Früher oder später, wenn diese einfältigen Miezen von seinen Kontakten zur Filmindustrie erfuhren, lagen sie ihm alle zu Füßen. Eigentlich führte er ein wundervolles Leben. Weshalb sollte er sich Gedanken über Migräneanfälle und Hängebäckchen machen, nur weil mal die eine oder andere Schnalle ihren zickigen Tag haben musste? Schließlich hatten andere Mütter auch schöne Töchter. Plötzlich fiel ihm Claire ein. Weshalb hatte er sich seit Monaten nicht um sie gekümmert? War etwas zwischen ihnen vorgefallen? Bernard konnte sich nicht erinnern. Aber was sollte schon groß gewesen sein? Bestimmt schmollte sie nur und wartete sehnsüchtig auf seinen Anruf. Weiber eben! Beschwingt nahm er das Telefon und tippte auf die Taste mit Claires gespeicherter Rufnummer. „Ah, Bernard, mein Herzblatt. Woher hast du gewusst, dass ich dich gerade anrufen wollte?“ Klingt gut, dachte Bernard, jedenfalls ist sie nicht beleidigt. „Claire, wenn ich dich in letzter Zeit vernachlässigt habe, tut es mir leid. Es lag nicht an dir, und ...“ „Was redest du denn? Ich war gut beschäftigt. Du kennst doch Botticelli?“ „Den Maler? Klar kenne ich den – ich meine, seine Werke.“ „Aber nein! Ich rede von Francesco Botticelli, dem Filmproduzenten. Du kennst doch sonst Gott und die Welt!“ „Den natürlich auch, wir sind gute Freunde,“ log Bernard. „Also, es gibt etwas zu feiern, und dazu wollte ich dich einladen.“ „Ah, du hast es also geschafft und eine Filmrolle bekommen?“ Die Aussicht, dass Claire ohne seine Unterstützung die Tür eines Filmstudios passieren könnte, wurmte Bernard. Er musste das verhindern und ihr die Rolle miesmachen. „Meinst du denn, dass du genug Talent hast? Ich meine ... Botticelli ... wäre er nicht besser beraten, eine erfahrene Schauspielerin zu nehmen, die seine künstlerischen Ansprüche erfüllen kann?“ Claire brach in schallendes Gelächter aus. „Du hast deinen Humor nicht verloren, lieber alter Bernard. Für Pornofilme bin ich wirklich nicht zu gebrauchen.“ Bernard schwieg betreten. Etwas lief hier in die falsche Richtung. „Ich wollte dich zu meiner Hochzeit einladen. Francesco und ich werden in einem Monat heiraten, und ich hätte dich gerne auf meine Gästeliste gesetzt.“ „Danke ... danke, dass du an mich gedacht hast.“ „Gut, ich schicke dir eine Karte.“ Bernard setzte das Telefon auf die Station. Zorn stieg in ihm hoch. So weit war es also mit ihm gekommen, dass ihn die Weibsbilder nicht mehr brauchten, ihre Launen an ihm ausließen oder ihn verhöhnten. Undankbares Pack! Er ging in die Garage und nahm den Wagenheber vom Regal. Damit kehrte er ins Haus zurück und schlug sämtliche Spiegel in Stücke. 12.11.2017 |
13.11.2017, 08:33 | #2 | |
Liebe Ilka-Maria,
ich lese zurzeit das Buch: "Die Kunst des Erzählens" von James Woods. Darin wird angesprochen, was mir bei deiner Geschichte hier teilweise auffällt: Es spricht nicht die Figur, sondern der Autor. Z. B. hier: Zitat:
LG DieSilbermöwe |
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13.11.2017, 08:44 | #3 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Wenn du anderer Meinung bist, dann bitte ich mir genau die Stellen aufzuzeigen, wo ich als Autorin eine Rolle einnehme. Ich werde die Geschichte selbst noch einmal dahingehend überprüfen. |
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13.11.2017, 13:57 | #4 | |
Zitat:
Würde Bernard z. B. selbst über sich sagen, dass er sich leid tut, ein Mann, der so von sich überzeugt ist? |
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13.11.2017, 14:25 | #5 | |
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Zitat:
Als Autorin eingeschaltet hätte ich mich z.B., wenn ich folgenden Satz eingeflochten hätte: "Wer kennt sie nicht, solche Typen wie Bernard, für die Frauen nur ein Mittel zum Zweck sind und die dafür sorgen, dass die Klagen von Frauen Woche für Woche die "Fragen Sie Frau Maria"-Ratgeberspalten in der Regenbogenpresse füllen?" Dies wäre weder Bernards Perspektive, noch ein Wechsel zur Perspektive einer anderen Person wie z.B. Monique gewesen, sondern schlicht eine überflüssige Frage von mir an meine Leser, die für die Geschichte kein Gewinn gewesen wäre. |
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14.11.2017, 07:38 | #6 | |
Zitat:
Es geht nicht darum, dass der Autor dieselben Gefühle hat wie der Protagonist, sondern dass er etwas erzählt, was die Figur so nicht erzählen würde. Was überhaupt nicht heißt, dass das "verkehrt" ist. Allerdings hat Woods das wohl anders gemeint als ich es interpretiert habe (ich habe gestern Abend nochmal nachgeschaut), da habe ich wahrscheinlich etwas durcheinander gebracht. Man merkt in der Geschichte, dass du dich über Bernard eher lustig machst. Zumindest kommt es mir so vor und so würde Bernard sich nicht selbst sehen. Was aber auch nicht so gemeint ist, als müsste der Autor/die Autorin das anders darstellen. Was mir hier gegenüber deinen anderen Geschichten aufgefallen ist: Der Protagonist ist extrem unsympathisch gezeichnet. |
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14.11.2017, 08:38 | #7 | |
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Zitat:
Es ändert nichts an der personalen Perspektive, wenn der Potagonist statt zu sprechen seine Situation und die damit einhergehenden Gefühle gedanklich verarbeitet. Wie du dich erinnerst, kann der Erzähler auch durchaus werten (im Gegensatz zur neutralen Perspektive, dann wäre die Sache mit dem "leid tun" natürlich weggefallen). Hätte ich mich als Autorin einschalten wollen, hätte ich den Leser direkt ansprechen müssen, etwa so: "Kann man sich vorstellen, dass ein Mensch so unsensibel ist, nicht zu merken, dass er seine Geliebte vor den Kopf gestoßen hat? Wie kann jemand derart auf sich bezogen sein, daraus sogar eine eigene Zurückweisung abzuleiten?" Das wäre eindeutig eine Wertung der Autorin und somit eine Einflussnahme auf die Interpretation des Lesers. Richtig: Bernard ist eine fieser Typ. Ein Protagonist muss nicht zwangsläufig sympathisch sein (siehe Jack Nicholson in "Besser geht's nicht"). Normalerweise wandelt er sich jedoch im Verlauf der Geschichte: Er kommt in eine Krise, muss eine ungewöhnliche Aufgabe lösen und bekommt die Chance, über sich hinauszuwachsen und ein besserer Mensch zu werden. In meiner Geschichte läuft es umgekehrt: Der Protagonist fühlte sich sein ganzes Leben lang als der Größte, und nun stellt er schmerzhaft fest, dass sein Stern rapide sinkt und er von Gott und der Welt verlassen ist. |
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15.11.2017, 07:50 | #8 | |
Zitat:
Was mich zunächst ein wenig an deiner Geschichte verwirrt hatte, war, dass ich glaubte, der Leser sollte sich immer mit der Hauptfigur identifizieren können und bei einem unsympathischen Typ macht er das nicht. Aber wahrscheinlich war ich da auch auf dem Holzweg. LG DieSilbermöwe |
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15.11.2017, 09:05 | #9 | |
Forumsleitung
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Zitat:
Nun ist es aber so, dass diese Geschichte - wie jede andere Geschichte auch - eine Vorgeschichte und eine Nachgeschichte hat. Es ist nur eine Episode, und es bleibt beim Leser, sich darüber Gedanken zu machen, warum Bernard so geworden ist, wie er ist, und ob er nicht doch noch eine Chance zur Einsicht und einem späten, aufrichtigen Glück bekommt. |
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20.11.2017, 14:33 | #10 |
abgemeldet
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Hallo Ilka,
Ich finde deine Geschichte interessant zu lesen. Die Oberflächlichkeit des Protagonisten kommt hier gut heraus, auch seine Unfähigkeit zur Empathie. Wenn man, wie Bernard, sich nur auf Äußerlichkeiten konzentriert, hat man früher oder später schlechte Karten. Denn die äußere Hülle altert und jemand, der sich fast alles kaufen kann, wird irgendwann die materiellen Dinge nicht mehr zu schätzen zu wissen, bzw. langweilen sie ihn evtl. Im Grunde genommen ist Bernard eine arme Socke, er ist einsam und zahlt jetzt für sein oberflächliches Leben.
Liebe Grüße Thrud |
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