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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 02.02.2013, 13:54   #1
männlich Skaldron
 
Dabei seit: 01/2013
Alter: 34
Beiträge: 7

Standard Herbstimpressionen

Ich weiß nicht, wo er sonst einzuordnen sein sollte. Ich hoffe, er unterhält und regt nebenbei ein wenig zum Nachdenken an.
Es ist Herbst geworden, das ist jetzt mehr als offensichtlich. Kein kalter, verregneter Herbst, wie der ewige Nachfolger der heißesten Zeit des Jahres normalerweise daherkommt… nein. Dieser Herbst kann stolz das Attribut golden tragen, darf sogar damit angeben! Wie ich jetzt so durch die Straßen wandle, wird mir seine Gegenwart zum ersten Mal bewusst. Es ist Nachmorgen. Eine Zeit, die viel zu wenig Beachtung erfahren hat, als dass sie offiziell diesen Namen bekommen hätte. Rentner drehen gerade die fünfte Bahn im beheizten Hallenbad, nachdem sie ausgiebig gefrühstückt, mit irgendeiner seit Jahrzehnten nicht mehr getroffenen Bekannten ein halbstündiges Gespräch geführt, die Zeitung gelesen und einer Schallplatte mit großen Hits von Marianne Rosenberg gelauscht haben. Für sie ist es jetzt Vormittag. Studenten würden es Nacht nennen, mit etwas Glück „zu früher Morgen“. Genau jene Zeit nutze ich nun, um den Herbst mit solch einer abstrakten Verwunderung zu bemerken, mit der auch ein Safaritourist einen kackenden Elefanten anglotzt: „So was kann der auch?“

Aber ja, die Zeichen sind eindeutig. Bunte Blätter fallen zuhauf von den Bäumen, um sich am Boden zu raschelnden Haufen zusammenzurotten, die in der Sonne glänzen. Die Temperaturen ähneln der Mittelmäßigkeit des Nachmorgens – bibbernde rotwangige Gestalten sucht man noch vergebens, aber Hitze kann man das nun wirklich nicht mehr nennen – und der Wind säuselt mir freundliche Worte ins Ohr: „STIRB, BASTARD! STIRB!“

Ich ziehe den Kragen meines Mantels hoch und spaziere weiter, glücklich lächelnd über den freundlich-goldenen Herbst dieses Jahr. Aber auch andere Menschen scheinen den Ratschlag des Windes gehört zu haben. Ihrem Verhalten nach gehören sie zur BILD-Zielgruppe: Sie denken nicht über das nach, was ihnen eingeflüstert wird, sondern befolgen es willenlos. Sie sterben. Eine Businessfrau in grauschwarzem Anzug sticht sich einen Kugelschreiber ihrer Firma in den Hals, ein Rentner erwürgt sich selbst mit dem noch nassen Handtuch, das ihm anscheinend nicht nur im Hallenbad gute Dienste leisten kann und der Jugendliche, der eigentlich in der Schule hätte sein müssen, aber viel lieber seine Ed Hardy-Klamotten zur Schau trägt, wirft sich vor die Straßenbahn, deren Fahrer wiederholt mit dem Kopf gegen die Scheibe knallt. In das fröhliche Zwitschern der Vögel, die sich zur alljährlichen Flucht in den Süden sammeln, stimmt allgemeines Röcheln ein.

„Selbst schuld“, denke ich und gehe weiter, darauf achtend, nicht in eine der allgegenwärtigen Blutlachen zu treten. An einem Kioskstand ziehe ich einige Zeitungen unter dem leblosen Körper des Verkäufers hervor. Einige selbsternannte Politmagazine schreiben propagandistische Artikel über dieselben Themen, die die BILD so vorurteilslos und völlig seriös verarbeitet. So, wie es die Leute eben mögen. Der Eulenspiegel tituliert: „Dumm wie Brot, und keiner merkts. Das Leben des Mathias D.“ *

Hach ja, ich mag den Herbst, wenn er goldig ist. Da ist man so natürlich. Man geht nach draußen, um die letzten schönen Momente vor dem tristen Winter zu genießen und trotzdem hocken sich nicht alle am Eisstand auf der Pelle. Niemand beschwert sich über den intensiven Schweißgeruch der anderen, prüde Menschen regen sich nicht über zu viel nackte Haut auf und der Rasenmäher geht auch langsam in die wohlverdiente Winterpause. Wenn er nicht, wie heute, für das eigene Ableben missbraucht werden würde…
Wobei die enorme Menge an Leichen nun doch etwas ungewöhnlich wird, selbst für depressive Zeitgenossen, denen nur die kürzer werdenden Tage auffallen. Vielleicht hegt der Wind ja doch böse Absichten? Will uns gar vernichten? Eine Art neuzeitliche Sintflut mit anderer Zielgruppe? Na, da würde er den Überlebenden aber eine schöne Sauerei auftischen. Und wer muss es wieder wegmachen? Wir. Die, deren Herzen weiterhin ungehindert roten Lebenssaft durch den eigenen Körper pumpen dürfen, ohne dass ein ausgelagertes Denkvermögen zu dem Schluss kommt, dass jetzt Schluss ist. Wenn wir das machen müssten - irgendwie wäre das dann aber auch schon wieder Manipulation… Ich beschließe, die Leichen doch nicht wegzuräumen. Guter Versuch, Herbstwind!

Wenige Monate später…

Wir Überlebende haben uns zusammengetan und eine neue Stadt aufgebaut. Die Kraftwerke haben wir abgeschaltet, nachdem die Abwasserreinigung ihren blutigen Dienst verrichtet hat, und sind dann in dieses abgelegene Tal gezogen. Die Idylle ist toll hier, selbst ohne Strom und großartige Technologie. Aus großen Depots haben wir genug Nahrung gehortet, bis das mitgebrachte Saatgut eigene Früchte trägt. Auch ein paar Tiere lassen wir auf den Weiden grasen. Seit wir den Besitz zu Allgemeingut erklärt haben, gibt es keinen Neid mehr, Verbrechen lohnen nicht. Das soziale Leben blüht auf. Kultur erhält einen höheren Stellenwert, auch die Wertschätzung geringerer Arbeiten nimmt zu. Selbst die nörgeligsten Kinder haben mittlerweile eingesehen, dass sie auch ohne Elektronik ihre Freizeit verbringen können. Miteinander.

Das WIR gewinnt. Zumindest, bis der erste Mord geschieht…


*Ähnlichkeiten mit eventuellen Vorstandsvorsitzenden bekannter Medienkonzerne sind rein zufällig.
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