Der Zeitreisende

[Cornelius]

Ein Mensch baut eine Zeitmaschine.
Im Baumarkt fand er Material.
Mit Lithium dreht sich die Turbine,
der Corpus ist aus Edelstahl.

Dann hebt er ab und taucht verwegen
ins Wechselbad von Raum und Zeit,
dem ersten, fernsten Ziel entgegen.
Kein Tag, kein Ort ist ihm zu weit.

Nun steht er vor dem Garten Eden,
der Zutritt durch ein Tor verwehrt.
Da hilft kein engelszüngig Reden.
Der Cherub zieht das Flammenschwert.

Zum nächsten Punkt auf seiner Liste
lenkt er nun zügig seine Bahn.
Schon landet er auf freier Piste
im schönen Lande Kanaan.

Als Jerichos Posaunen schallen,
da ist er um ein Haar ertaubt.
Nun eilt er durch des Ruhmes Hallen.
Er will gern sehen, was er glaubt.

Er kommt als Wanderer nach Sparta,
flaniert mit Platon durch Athen.
Die Ilias und die Magna Charta
will er mit feuchter Tinte sehn.

Er darf mit Louis Quinze dinieren
und findet ihn recht weltgewandt.
Er hört Tschaikowsky dirigieren,
geht segeln mit Peer Stuyvesant.

Aus Tagen werden viele Wochen,
aus Reiselust wird Übermut.
Er eilt durch Länder und Epochen.
Wie lange geht wohl so was gut?

Soeben ist sein Blut geflossen,
denn der verwirrte Ludwig Sand
hat ihn statt Kotzebue erschossen
in Mannheim nachts am Neckarstrand.

Der Weltlauf wird so kaum gewendet.
An einem schicksalhaften Tag
wird er vielleicht einmal beendet
durch eines Falters Flügelschlag.

Lässt solche Fahrt man lieber bleiben?
Ein Gutes hat die Sache schon:
Nun kann ich dies Gedicht nicht schreiben.
Ich war ja des Erschossnen Sohn...

[DonErwin]

Nie wurde das Zeitparadoxon schöner besungen!
Als weiterführende Lektüre empfehle ich: Robert A. Heinleins 'Im Kreis' (By his Bootstraps). Man muss es dreimal lesen, bevor man völlig irre ist.

[Cornelius]

Danke für die Leseempfehlung, ist mir bisher nicht bekannt. Ich versuche es aufzutreiben...

Gruß
Cornelius

[Ilka-Maria]

Zitat von Cornelius

Lässt solche Fahrt man lieber bleiben?
Ein Gutes hat die Sache schon:
Nun kann ich dies Gedicht nicht schreiben.
Ich war ja des Erschossnen Sohn...

Ein nettes Mosaik, das mich an den Film "Time Bandits" erinnert, auch wenn das Personal dort anders gewählt war (aber Napoleon kam, soweit ich mich erinnere, darin vor). Und das Fazit, nämlich die Unlogik des erschossenen Vaters vor der Chance seiner Reproduktion, rundet das Gedicht ab. Obwohl es inzwischen eine Theorie gibt, nämlich die Schichten der Zeit, die so ein Phänomen ermöglichen würde.

Mein Favorit der Zeitreise bleibt der Film "Die Zeitmaschine" (1960) mit Rod Taylor, den ich als Zehnjährige im Kino sah und der mich ziemlich aufregte. Er besteht aus einer Collage von Metaphern über menschliches Verhalten, die bis heute nichts an Aussagekraft eingebüßt haben. Und er war ein Vorgeschmack des Aufbegehrens, das sich Ende der 60er Jahre in vielen Ländern gegen die Regierungen entlud. Erstaunlich angesichts der Tatsache, dass H.G.Wells seine Zeitreisegeschichte schon 1895 geschrieben hatte.

LG
Ilka

[Heinz]

Lieber Cornelius,
wie immer auf der Suche nach lesenswerten Gedichten, bin ich ohne KI und Zeitmaschine auf Dein Gedicht gestoßen. Es zeugt von blühender Fantasie und beeindruckender Belesenheit und mir bleibt nur zu sagen: Chapeau!
Liebe Grüße,
Heinz

[Faber]

Lieber Cornelius,

du nimmst uns hier auf eine Reise durch die Zeit mit. Hat Spaß gemacht!

Zitat von Ilka-Maria

Obwohl es inzwischen eine Theorie gibt, nämlich die Schichten der Zeit, die so ein Phänomen ermöglichen würde.

Was Zeitreisen angeht: Wo sind die ganzen Touristen aus der Zukunft?

Liebe Grüße
Faber

P.S.: Schon allein wegen Ilka-Marias vieler Filmtipps (auch in anderen Threads), hat sich das Registrieren hier im Forum gelohnt.

[Cornelius]

Wo sind die ganzen Touristen aus der Zukunft?

Das frage ich mich auch, lieber Faber...

Aber: Mindestens einer meiner Nachbarn muss aus der Zukunft zu uns gereist sein. Er weiß nämlich immer schon vorher, warum alles genau so gekommen ist, wie er es gesagt hat.

Die meisten anderen Touristen aus der Zukunft halten es in unserer heutigen Welt vermutlich keinen Tag lang aus.

Man hört aber auch, die Zukunft sei nicht mehr das, was sie mal war...

LG
Cornelius