Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 27.12.2017, 21:15   #1
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076


Standard Heiligabend

Marie zog lustlos den Rollo hoch. Sie wusste, was sie erwartete: Statt eines festlichen, in Kälte konservierten Schneegewandes waren milde Temperaturen und Regen angekündigt. Als sie den Blick zum Himmel hob, ließ sie jede Hoffnung fahren, die Wetterfrösche könnten sich geirrt haben. Dort oben stand ein Heer grauer Wolken, bewegungslos wie stramme Soldaten, die auf das Signal zum Angriff warteten.

Mitten in einem Seufzer der Enttäuschung hielt Marie inne, ihre Aufmerksamkeit gefangen von dem wilden Flügelschlag eines Raben, der bei ihrem Anblick in Panik geraten war, aber nicht fliehen konnte. Marie öffnete die Balkontür und ging vorsichtig an den Vogel heran.

Die linke Schwinge war schlaff, das Gefieder am Unterkörper verklebt von getrocknetem Blut, und die Beine hatten nicht mehr die Kraft, den schweren Leib zu tragen. Marie sah augenblicklich, dass der Rabe verletzt war.

Sie vermutete eine Kollision mit einem Fahrzeug, denn ganz in ihrer Nähe lag die Hauptdurchgangsstraße zu den Nachbarstädten, die jeden Tag von unzähligen Fahrzeugen befahren wurde. Ein Wunder, dass es der Vogel von dort bis zu ihrem Balkon geschafft hatte.

Vorsichtig hob sie ihn auf und strich ihm beruhigend über den gesunden Flügel. Weil sie nicht wusste, wieviel Schmutz so ein Rabe machen konnte, setzte sie ihn in die Badewanne. Ihr nächster Gedanke galt der Lösung des Problems, den Patienten wieder loszuwerden.

Sie suchte im Internet nach Telefonnummern und wählte verschiedene Auffangstationen für Wildtiere an. Überall wies eine verständnisvolle Stimme sie ab, weil ihre Organisation auf Igel, Fledermäuse oder verwaiste Rehböcke spezialisiert sei, während man Raben doch besser den Launen der Natur überlassen sollte.

Nach einer Stunde gab Marie auf und setzte sich auf den Rand der Badewanne. „Du hast mir Weihnachten versaut, du schwarzes Biest!“ Der Rabe äugte sie an und gab keinen Mucks von sich. Dann griff Marie zum Telefon und rief ihre Tochter an: „Feiert ohne mich, ich kann hier nicht weg.“

Nachdem sie die Situation geschildert hatte und von ihrer Tochter für verrückt erklärt worden war, machte sich Marie Gedanken um das leibliche Wohl ihres Patienten. Sie öffnete den Kühlschrank, um zu sehen, was sich eignen könnte, einen ausgewachsenen Raben am Leben zu erhalten. Ohne davon überzeugt zu sein, schnitt sie Schinken und Schafskäse in kleine Stückchen, kleckste noch etwas Quark dazu und stellte ihrem Gast das Menü auf einem Tellerchen vor den Schnabel. Er fraß alles gierig in sich hinein. So weit, so gut, dachte sie, als sie die Badezimmertür zumachte und zu Bett ging.

In der Nacht träumte sie von einem winzig kleinen Raben, der sprechen konnte und bei jedem Wort, mit dem sie ihm antwortete, immer größer wurde, bis er sich in einen fabelhaften Prinzen verwandelte. Als der Prinz sie zu seiner Kutsche führte, vor die zwei riesige Raben gespannt waren, wachte sie auf.

Sie ging ins Bad, um nach dem Raben zu sehen und ihren Morgenmantel überzustreifen. „Guten Morgen, Prinz.“

Der Rabe saß still und äugte sie an.

„Du bist ein Prinz. Hast du das gewusst? Prinz, Prinz, Prinz …"

Frühstück war immer einfach gewesen: Ein Humpen Kaffee und ein hartgekochtes Ei. Jetzt stand Marie in der Küche, war am Überlegen und machte aus Mangel an Ressourcen eine Dose Erbsen auf. Um auf der sicheren Seite zu sein, knackte sie noch ein paar Walnüsse.

Der Rabe nahm alles dankbar an, und Marie atmete erleichtert auf. Allmählich beschlich sie der Verdacht, Raben könnten bei der Nahrungsauswahl nicht sonderlich kritisch sein.

Wie schon gestern saß sie auf dem Rand der Badewanne und sah ihm zu, wie er ein Bröckchen nach dem anderen aus der Schale hob. „Wie mir scheint, bist du nicht schwer zu halten, mein Prinz.“

Sie stutzte. Einen winzigen Moment lang war ihr, als hätte der Rabe genickt. Eine optische Täuschung?

„Jedenfalls weiß ich jetzt, dass ich für dich keine Regenwürmer aus dem Boden zupfen muss.“

Da war es schon wieder, dieses unmerkliche Nicken mit dem Kopf!

Marie war irritiert und beschloss, eine Weile nicht mehr mit dem Raben zu sprechen. Stattdessen untersuchte sie den verletzten Flügel. Die Hoffnung, zwischen Weihnachten und Neujahr fachärztliche Hilfe zu finden, hatte sie aufgegeben. Also versorgte sie den Flügel mit einer selbstgebastelten Schiene und zündete für einen imaginären Rabengott eine Kerze mit der Bitte um Beistand an.

******

„Mama, du spinnst!“

„Nein, Liebes, glaub mir doch, Prinz versteht jedes Wort.“

„Er ist ein dummer Vogel mit einem schlechten Image, der Hölle entsprungen, Botschafter der Unterwelt und Unheilverkünder. Den Landwirten frisst er die Saat von der Scholle, und in der Stadt plündert er die Abfallkörbe und verteilt den Unrat auf den Gehwegen. Schmeiß ihn raus! Er ist längst gesund und wieder flugtauglich!“

„Aber er fliegt nicht weg. Er will bei mir bleiben.“

„Dann dreh ihm den Hals um!“

„Was fällt dir ein! Prinz ist mein bester Freund.“

„So ein Quatsch. Ein Hund ist ein bester Freund, aber kein Vogel.“

„So wie euer Hasso, der euch jeden Tag auf den Teppich pinkelt, dir ständig die Schuhabsätze zerbeißt und dir drei Mal in der Woche sein Fressen in die Küche kotzt.“

„Musst du so vulgär werden?"

„Ich bin nicht vulgär. Hasso ist vulgär, ein verzogenes Hätschelhündchen im XXL-Format, das euch völlig im Griff hat und aus eurem Heim eine Pinkelbude macht.“

Schweigen. Marie holte tief Luft und wartete.

„Das war gemein, Marie. Hast du sonst nichts mehr zu sagen?“

Marie schwieg.

„Prinz … ich meine, dieses schwarze Fleddervieh …“

Marie legte zornig auf.

******

„Was hat sie gesagt?“

Prinz saß auf Maries Schulter, aber entgegen seiner Gewohnheit, sich an ihre Wange zu schmiegen, sah er ihr von der Seite ernst in die Augen. Sie wich seinem Blick aus und antwortete nicht.

„War es schlimm?“

Marie nickte und kämpfte gegen die Tränen.

„Also: Was hat sie gesagt?“

„Sie will dich weghaben.“

„Wie?“

„Ich soll dir den Hals umdrehen, wenn du nicht von selbst gehst ... fliegst.“

Jetzt weinte Marie hemmungslos, und Prinz schmiegte sich an ihr Wange. Sie spürte die Sanftheit und Wärme seiner Schwinge, was ihr ein Gefühl des Friedens gab.

„Aber ich gehe sowieso, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Warum können die Menschen nicht auf den richtigen Zeitpunkt warten?“

„Du lässt mich allein?“

„Nein, dich nicht. Aber all die anderen, die meine Sprache nicht hören. Zu dir komme ich immer zurück. Was gut war, vergesse ich nicht, aber was schlecht war, dem entfliehe ich."

Sie verharrten aneinander geschmiegt.

„Prinz?“

„Was?“

„Da ist das Bild von meiner Tochter und ihrem Bräutigam, das Hochzeitsbild. Mein Schwiegersohn hat darauf keine Augen mehr.“

„Ich habe sie ausgepickt.“

„Warum?“

„Er braucht sie nicht mehr. Er hat ohnehin nie gut gesehen. Übrigens: Er betrügt deine Tochter.“

„Woher weißt du das?“

„Ich fliege weit oben über den Dingen, deshalb geht mein Blick tief.“

Marie ließ den Kopf sinken. Prinz nahm ihre Wangen in seine Flügel.

„Sie wird dich brauchen.“

„Aber ich brauche dich. Flieg nicht fort!“

„Ich muss.“

Aus der Ferne ertönte ein Ruf. Der Ruf eines Raben. Aber nicht der dunkle Ruf wie von Prinzens Stimme. Es war ein heller, jugendlicher Ruf, die Liebeslockung einer Räbin.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.12.2017, 14:00   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
Benutzerbild von DieSilbermöwe
 
Dabei seit: 07/2015
Alter: 60
Beiträge: 6.703


Liebe Ilka-Maria,

ein wirklich schönes Märchen ist dir hier gelungen, und trotzdem keine Friede-Freude-Eierkuchen-Geschichte. Auch das Böse hat seinen Platz darin.

Zitat:
Da ist das Bild von meiner Tochter und ihrem Bräutigam, das Hochzeitsbild. Mein Schwiegersohn hat darauf keine Augen mehr.“

„Ich habe sie ausgepickt.“

„Warum?“

„Er braucht sie nicht mehr. Er hat ohnehin nie gut gesehen. Übrigens: Er betrügt deine Tochter.“

„Woher weißt du das?“

„Ich fliege weit oben über den Dingen, deshalb geht mein Blick tief.“
Da wird es fast ein wenig gruselig.

Und auch ein Happy End gibt es nicht: Der Rabe verlässt Marie wegen einer Jüngeren, die besser zu ihm passt.

Sehr gerne gelesen und mich dabei gut unterhalten.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist gerade online   Mit Zitat antworten
Alt 28.12.2017, 15:07   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076


Vielen Dank, Silbermöwe. Ich hatte mich im zweiten Teil etwas verheddert und habe deshalb noch ein paar Macken beseitigt. Sie betreffen deinen Kommentar aber nicht.

Schön, dass du dich unterhalten fühltest. Die größte Sünde eines Autors besteht darin, seine Leser zu langweilen.

LG
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.12.2017, 15:24   #4
männlich Heinz
 
Benutzerbild von Heinz
 
Dabei seit: 10/2006
Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879


Hallo Ilka-Maria,
die Weisheit des Raben hast Du in ein hübsches Märchen - oder sollte ich sagen Fabel - verpackt. Ich habe es oder sie mit Vergnügen gelesen.
Und - Du hast Recht: Die größte Sünde eines Autors/einer Autorin ist die LeserInnen zu langweilen. Kompliment, Du gehst sündenfrei dem Jahresende entgegen.
Guten Rutsch wünsche ich!
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Heiligabend

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Heiligabend Ex-DrKarg Fantasy, Magie und Religion 2 25.12.2016 11:44
Heiligabend Don Carlos Humorvolles und Verborgenes 1 28.12.2015 22:12
Heiligabend AndereDimension Lebensalltag, Natur und Universum 3 21.10.2014 05:55
Heiligabend Libelle Zeitgeschehen und Gesellschaft 0 04.12.2010 19:12


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.