Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 16.07.2012, 12:00   #1
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798


Standard Jahrestag

Minutenlang betrachtet sie das Bild ihres Liebsten, das in Postergröße über ihrem Bett hängt - inbrünstig mit nahezu frommer Miene und sie malt sich aus, wie es wohl sein wird, ihn endlich wieder in ihre Arme zu schließen, ihm durch sein goldenes, wuscheliges Haar zu fahren, gerührt durch die zärtlichen Worte, die er ihr ins Ohr flüstert und von dem Hauch, der sie begleitet wonniglich am Hals berührt, seine schlanke Hüfte zu umfassen, die sich so eng an die ihrige schmiegt, dass sie glaubt, das Pulsieren seiner Adern in der Lende zu spüren. Den ganzen Tag über hört sie schon ihr Lied in Dauerschleife. Es mag ein albernes Lied sein, aber es ist eben das Lied, das sie noch sehr gedämpft vernahm, als er vor einem Jahr neben ihr auf dem Bänkchen saß und ihr so interessiert und tief in die Augen blickte, dass sie glaubte, nichts mehr verbergen zu können und sich dabei wahrlich behütet fühlte.

Ach, wie sie diesen Blick vermisst! Aber heute ist ein ganz besonderer Tag. Diese Gewissheit füllt jeden Atemzug ihres Nachmittags aus und selbst, als er am frühen Abend immernoch nicht auf ihre Mail geantwortet hat, lässt sie sich nicht beirren, denn sie weiß ja, dass er viel zu tun hat. Sie schrieb ihm schlicht, aber in den Worten, die sie nicht nur dachte, sondern tief in ihrem Inneren fühlte: "Alles Gute zu unserem Jahrestag! Ich hab dich lieb." Immer wieder linst sie in ihr Postfach, während sie sich hübsch macht und dabei auf jeden Lidschattenstrich so sorgfältig achtet, als restauriere sie ein kostbares Gemälde, von dessen wohlwollender Betrachtung durch ihren Liebling alles, aber auch alles abhinge. Sie packt ihr kleines Handtächschen eine halbe Stunde lang, um nichts zu vergessen, um für jede Eventualität gerüstet zu sein, schaut noch einmal in den Spiegel - sie findet sich sexy, eigentlich nicht sexy genug, aber sie will ihn auch nicht warten lassen - und fährt zu ihm.

In dem Moment als sie aus dem Bus aussteigt, steigen all die schönen Erinnerungen in ihr auf, die sie mit seinem Gesicht verbindet - jeder Spaziergang, jedes Lächeln, das seine Seligkeit, mit ihr zu sein ausdrückte, jede noch so kleine Zärtlichkeit ist für immer in ihrer Seele eingeschlossen. Doch in dem Moment, als sie in seine Straße abbiegt, sieht sie ihn mit einer anderen Frau und ihre Seele zerfällt in tausend schmerzhafte Nichtigkeiten. "Wie kannst du mir so etwas antun?" fährt sie ihn an. "Wir haben uns vor einem halben Jahr getrennt. Begreif das doch endlich!" erwidert er wütend, während die Frau an seiner Seite die Augen rollt. "Nein, wir haben uns nie getrennt!" faucht sie und löst erneut all die schrecklichen Bilder in seinem Kopf aus: wie sie ihm in einer mail nüchtern mitteilte: "Es ist aus!", wie sie kurz darauf stundenlang vor seiner Wohnungstür wartete, bis er ihr die Tür aufmachte, nur um ihr mit der Polizei zu drohen, wie sie ihn wochenlang mit Briefen belästigte. Seit einigen Monaten war nichts mehr von ihr zu hören, so dass er der Ansicht war, es sei nichts mehr von ihr zu befürchten. Daher trifft ihn ebenso überraschend, wie dieser erneute unerfreuliche Besuch der Schuss mitten in die Stirn.

Er sackt zusammen, zuckt wild, röchelt und wiederholt ein paar unverständliche Satzbruchstücke. Sie lässt die Pistole fallen, die sie eingepackt hatte in der Hoffnung, sie würde sie nicht benutzen müssen, fällt neben ihm auf die Knie und schluchzt: "Verzeih mir, Liebling! Das habe ich nicht gewollt. Verzeih mir! Ich liebe dich!"
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.07.2012, 12:14   #2
männlich Ex-Peace
abgemeldet
 
Dabei seit: 11/2011
Beiträge: 3.449


Eine richtig gute Geschichte - richtig gut geschrieben!
Eine Liebesgeschichte aus der Retroperspektive einer einzelnen Person,
für die es nahezu keine Retroperspektive ist, die dann in einem Thriller mündet.
Direkt im ersten Satz wird der Leser darauf hingeführt, dass es es sich um keine Leibesgeschichte handeln kann ("in Postergröße").

Sprachlich gibt es einige besonders schöne Formulierungen.
Beispielsweise:

"In dem Moment als sie aus dem Bus aussteigt, steigen all die schönen Erinnerungen in ihr auf ..."

Die Aussage:

"Verzeih mir, Liebling! Das habe ich nicht gewollt. Verzeih mir! Ich liebe dich!",
verdeutlicht die Realitätsferne der Protagonistin, die ja selbst die Waffe eingesteckt hat.

Die Geschichte verdeutlicht, wie gefährlich es sein kann, wenn man einzig in der Vergangenheit schwelgt/lebt und Dinge einfach nicht wahrhaben will. Man muss mit längst abgeschlossenen Dingen abschließen können.

Sehr gerne gelesen.

Liebe Grüße
Peace
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.07.2012, 14:00   #3
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Wiederholte geplante Kurzschlusshandlungen liegen eben nicht jedem: manche machen dann wirklich Schluss, erst mit der Freundschaft, dann mit dem Leben.

Nicht schlecht! Und die augenrollende Dame...rollte ihr Leben lang mit den Augen.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.07.2012, 18:57   #4
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798


Vielen Dank für die lieben Kommentare!

Zitat:
Direkt im ersten Satz wird der Leser darauf hingeführt, dass es es sich um keine Leibesgeschichte handeln kann ("in Postergröße").
Du überraschst mich immer wieder mit der enormen Aufmerksamkeit, mit der du liest. Es gibt noch ein paar andere Stellen, die auf Düsteres hinweisen könnten, aber ich hoffe, dass der Schluss dennoch einiger Maßen überraschend kommt.

Zitat:
"Verzeih mir, Liebling! Das habe ich nicht gewollt. Verzeih mir! Ich liebe dich!",
verdeutlicht die Realitätsferne der Protagonistin, die ja selbst die Waffe eingesteckt hat.
Richtig. Hier wird auch deutlich, dass die Grenzen zwischen Planung und Kurzschlusshandlung oft fließend sind, besonders, wenn jemand emotional stark in eine Situation involviert ist. Dazu passt dann auch der schöne gummibaumsche Satz:

Zitat:
Wiederholte geplante Kurzschlusshandlungen liegen eben nicht jedem
Zitat:
Die Geschichte verdeutlicht, wie gefährlich es sein kann, wenn man einzig in der Vergangenheit schwelgt/lebt und Dinge einfach nicht wahrhaben will. Man muss mit längst abgeschlossenen Dingen abschließen können.
Ja, diese Mahnung war mir hier ein großes Anliegen.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.07.2012, 19:10   #5
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Hallo Schmuddelkind,

ich war heute Mittag wohl in unerschütterlich negativen Laune, als ich deine schöne Geschichte las. Entschuldige bitte meine etwas unpassenden Statements.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.07.2012, 13:22   #6
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798


Ach was, no harm taken at all.

Schön, wenn dir die Geschichte gefallen hat.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Jahrestag

Stichworte
einseitige liebe, stalker, töten



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Jahrestag Splitt Geschichten, Märchen und Legenden 0 27.02.2012 01:19
Jahrestag Ilka-Maria Düstere Welten und Abgründiges 5 29.12.2011 19:06


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.