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Düstere Welten und Abgründiges Gedichte über düstere Welten, dunkle und abgründige Gedanken.

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Alt 27.06.2023, 17:24   #1
weiblich Ilka-Maria
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Beiträge: 31.104

Standard Schlafes Bruder

Ich hatte mitten in der Nacht
kein Fünkchen lang daran gedacht,
die Reihe könnte an mir sein,
bis ich die harte Faust verspürte,
die mir das Herz zusammenschnürte,
und jemand drohte: "Du bist mein!"

"Geh weg!", gab ich ihm kühn zurück,
war stolz auf mein Husarenstück,
doch hatte Schmerzen in der Brust.
Mich überkamen Angst und Bang,
was mich zu neuer Einsicht zwang:
Mir wurde Endlichkeit bewusst.

Kein Auge machte ich mehr zu,
fand über Stunden keine Ruh,
denn Hypnos war nicht mehr zu trauen.
So lag ich, bis bei Morgengrauen
er mit dem Bruder Hand in Hand
in dessen Totenreich entschwand.

Sanft küsste Eos mir die Stirn:
"Noch reißt er nicht, dein Lebenszwirn,
du weilst solang in dieser Welt,
wie es Gott Helios gefällt."
Dann tauchte sie in Blässe ein,
und mich traf erster Sonnenschein.

27.06.2023
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Alt 27.06.2023, 18:35   #2
männlich Heinz
 
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Liebe Ilka-Maria,
"Schlafes Bruder", na, das hört sich ja um vieles besser an als "Knochenmann" oder Sensenmann.Die klassisch-griechische Art und Weise des Sterbens gefällt mir allemal besser als die heute verbreitete.
Ist es nicht schön, von Psychopompos an die Hand genommen zu werden, der im Vorübergehen die Fackel umdreht, um die Flamme zu löschen?
Möge Eos Dir noch oft die Stirn küssen!
Heinz
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Alt 28.06.2023, 16:14   #3
männlich Faber
 
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Hallo Ilka,

ein wirklich gelungenes Gedicht. Hoffentlich war kein tatsächliches Erlebnis der Anlass dafür.

In der Mythologie erscheint das Sterben gar nicht so schlimm, wie Heinz es beschreibt. Wenn es dann irgendwann mal so weit ist, holt einen aber vermutlich die Realität wieder ein.

Gern gelesen.

LG,
Faber
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Alt 28.06.2023, 17:05   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Faber Beitrag anzeigen
ein wirklich gelungenes Gedicht. Hoffentlich war kein tatsächliches Erlebnis der Anlass dafür.
Nein, es geht mir gut. Aber ich bin mir bewusst, dass es jeden Tag anders kommen kann. Ich hatte eine junge Kollegin, um die dreißig, die einen Schlaganfall bekam. Eine fast gleichaltrige Kollegin von mir bekam mit 55 Jahren einen Herzinfarkt, eine Freundin von mir starb Anfang fünfzig an Lungenkrebs (sie hatte früh, mit zwölf, mit dem Rauchen angefangen), und mein Vater starb mit 76 Jahren an einem Darminfarkt. Man weiß in meinen Alter nicht, wo der Knochenmann ansetzt. Es ist nur so, dass die Sinne dafür geschärft sind, was früher nicht so war. Und mit diesen geschärften Sinnen lebt es sich nicht mehr so leichtfüßig wie früher, als man dachte, noch jede Menge Zeit zu haben.

Die Schlinge wird enger. Und die Sekunden auf der Uhr ticken erbarmungslos runter.

Das Leben zu verlieren ist immer schlimm. Wer sagt, er wolle nicht ewig leben, ist für mich ein Lügner.

Wahr ist aber auch der altgriechische Spruch, dass der Tod niemanden schrecken muss, denn man begegnet ihm nicht: Wenn er da ist, ist man selbst nicht mehr da.

Das ist aber nicht das Problem. Das Problem ist, dass kein Mensch sterben will, aber muss. Daran gekoppelt ist, dass wir zwar alt werden, aber nicht alt aussehen wollen. Ein Dilemma! Einziger Ausweg: In Schönheit sterben durch Suizid.

Nein, danke. Mir geht es gut. Ich habe meinen Kopf jahrzehntelang getragen, und er hat mir gute Dienste geleistet. Warum sollte ich ihn jetzt irgendwelchen Idealen anpassen sollen, die nicht zu ihm passen?
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Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.06.2023, 17:44   #5
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.879

Ist es nicht ein seltsamer Widerspruch:
Alle Christen glauben, dass der Tod nicht Endstation, sondern so etwas wie eine Durchgangsstation ist. Sie, gesetzt den Fall, sie haben ein sündenfreies Leben gelebt (oder kurz vor Toresschluss die Gnade der Absolution empfangen), treten ein ins Himmelreich, genießen für alle Ewigkeit die Wonnen des Paradieses und - was machen sie? Sie fürchten sich vor dem Tod.
Liebe Ilka-Maria, ich kenne den blitzschnell zuschlagenden Gevatter Hein, ich kenne ihn auch als jahrelang, jahrzehnte lang quälenden Unhold (nicht aus eigener Erfahrung, da sind die krankheitsbedingten Beeinträchtigungen gottlob fast spurlos an mir vorüber gegangen). Aber nehmen wir den "Normalfall": Ganz gut gelebt, zunehmende Zipperlein bei zunehmendem Alter, beginnendes Siechtum (Demenz und /oder andere Krankheiten), die wachsende Erkenntnis, bald den Löffel abgeben zu müssen, nach achtzig Jahren Wohlleben vielleicht ein paar Monate Leidenszeit und dann der Schritt durch das dunkle Tor.
Aber dahinter warten doch alle Glückseligkeiten. Wieso freuen sich die Christen nicht?
Da stimmt was nicht. Vielleicht glauben sie den Versprechungen nicht?
Als Ungläubiger bin ich total aufgeschmissen. Ich weiß, dass ich zu einem mir nicht bekannten Zeitpunkt sterben muss. Auf mich warten keine Seligkeiten.
Ja, ich möchte gern noch eine Anzahl von Jahren leben und verdränge den Gedanken an den Tod meistens. Vielleicht ist ein bisschen mehr Gelassenheit angesagt.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.06.2023, 12:28   #6
männlich Georg C. Peter
 
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Beiträge: 834

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen

Ich hatte mitten in der Nacht
kein Fünkchen lang daran gedacht,
die Reihe könnte an mir sein,
bis ich die harte Faust verspürte,
die mir das Herz zusammenschnürte,
und jemand drohte: "Du bist mein!"
Liebe Ilka,

die "Ich-Erzählung" passt hervorragend zu Deinem Schreibstil!
Man steht gebannt als Leser daneben und fragt sich: Wie geht das wohl aus?

Und:
Dass der "Gott des Schlafes" Hypnos mit einem Tropfen des Flusses Lethe den Schläfer in den ewigen Schlummer versetzt, ist wahrlich eine würdige und ästhetische Vorstellung des letzten Weges.

Zuletzt:
Ich bin erleichtert, dass die Erzählung nicht autobiographisch war.

Zur Beruhigung rate ich zu etwas Brot mit Kochkäse und einem Gläschen Riesling.

Viele Grüße von Georg
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