Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Kolumnen, Briefe und Tageseinträge

Kolumnen, Briefe und Tageseinträge Eure Essays und Glossen, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 12.05.2011, 19:29   #1
weiblich FeelLetter
 
Dabei seit: 08/2010
Ort: zwischen Grashalm und Teer
Beiträge: 278

Standard Überwunden

Als meine Schwester vor den Augen unserer Mutter all ihre Tagebücher und Abschiedsbriefe verbrannte, wusste ich, dass ich etwas falsch machte. Ich hielt die erste Träne auf Papier, die ersten zwei Schritte in die Klinik, den letzten Faustschlag gegen die Wand. Ein Foto der blutverschmierten Klinge, gespült, sauber, jetzt wieder in der Küchenschublade. Das bleiche Gesicht meiner Schwester daneben. Ich halte das letzte Familienfoto vor der Scheidung meiner Eltern und das Todesdatum meiner beiden Hamster.
Als meine Schwester all das verbrannte, was sie im letzten Jahr aus sich herausschrieb und fotografierte und datierte, rannte ich in mein Zimmer und riss die Zettel und Bücher aus dem Regal.
Heute, wieder ein Jahr später, liegen die Blätter wieder geordnet im Regal. Ganz hinten, verdeckt von anderen Büchern. Ich kenne den Platz, an dem meine Schwester stand und zum Fluss hinunterblickte. Ich kenne ihn, da ich ihn unter meinen Füßen spüre. Wie gerne würde ich die Zettel an ihrer Stelle hinunterwerfen, an den Steinen zerspringen sehen, im Wasser untergehen sehen. Verschwinden sehen. Doch ich kann es nicht.

Ich schreibe immer noch. Auf dasselbe Papier. Doch ich frage mich, warum die anderen wieder lachen. Wie sogar meine Schwester wieder lachen kann. Ich kann es nicht.
FeelLetter ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.05.2011, 20:58   #2
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.109

Zitat:
Zitat von FeelLetter Beitrag anzeigen
Als meine Schwester vor den Augen unserer Mutter all ihre Tagebücher und Abschiedsbriefe verbrannte, wusste ich, dass ich etwas falsch machte. Ich hielt die erste Träne auf Papier, die ersten zwei Schritte in die Klinik, den letzten Faustschlag gegen die Wand. Ein Foto der blutverschmierten Klinge, gespült, sauber, jetzt wieder in der Küchenschublade. Das bleiche Gesicht meiner Schwester daneben. Ich halte das letzte Familienfoto vor der Scheidung meiner Eltern und das Todesdatum meiner beiden Hamster.
Als meine Schwester all das verbrannte, was sie im letzten Jahr aus sich herausschrieb und fotografierte und datierte, rannte ich in mein Zimmer und riss die Zettel und Bücher aus dem Regal.
Heute, wieder ein Jahr später, liegen die Blätter wieder geordnet im Regal. Ganz hinten, verdeckt von anderen Büchern. Ich kenne den Platz, an dem meine Schwester stand und zum Fluss hinunterblickte. Ich kenne ihn, da ich ihn unter meinen Füßen spüre. Wie gerne würde ich die Zettel an ihrer Stelle hinunterwerfen, an den Steinen zerspringen sehen, im Wasser untergehen sehen. Verschwinden sehen. Doch ich kann es nicht.

Ich schreibe immer noch. Auf dasselbe Papier. Doch ich frage mich, warum die anderen wieder lachen. Wie sogar meine Schwester wieder lachen kann. Ich kann es nicht.
FeelLetter, das ist gut, das ist richtig, superspitzenklasse gut!

Trotzdem: Die ersten Zeilen mußte ich mehrmals lesen, um die Zuordnung zu den Personen zu finden, und da fragte ich mich jedesmal: Konnte sie das nicht klarer und eindeutiger schreiben?

Aber nein! Dann wäre es ja durchsichtig und langweilig gewesen, und ich hätte es nicht mehrmals gelesen, um selbst die Ordnung zu finden.

Am Anfang wurde mir nämlich nicht sofort klar, wessen Erinnerungen verbrannt wuden, die der Mutter oder die der Schwester.

Danach, nach wiederholtem Lesen, war mir klar, die "kleine" Schwester hatte gelernt, aussortiert, aber nicht gleich verbrannt. Das alles ist schnörkellos erzählt, die Dramatik ergibt sich aus der Szene. Die Erkenntnis ist bitter, aber versöhnlich: Man kann seine Lebensgeschichte nicht einfach verbrennen, man muß sie annehmen, mit ihr leben und mitnehmen ins Grab.

Sehr, sehr gerne gelesen.

LG
Ilka-M.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Überwunden



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Ueberwunden marlenja Sprüche und Kurzgedanken 0 11.04.2011 10:49


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.