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Alt 06.04.2013, 18:34   #1
männlich Ein Träumer
 
Dabei seit: 04/2013
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Beiträge: 11


Standard Die Hände meines Großvaters

Ich wuchs als Kind bei meinen Großeltern mütterlicherseits auf, die bei uns im Haus wohnten. Mit meinem Großvater, einem hageren, alten Mann, verbrachte ich den ganzen Tag. Ich half ihm, sein Pony zu versorgen, den kleinen Schimmel Hansi, seine etwa hundert Hühner, sein Dutzend Kaninchen, pflanzte und erntete Gemüse und Obst in seinem großen Garten hinter unserem Grundstück. Mit etwa fünf Jahren ist man noch sehr klein und so konnte ich immer am besten seine Hände beobachten, siebzig Jahre alte Hände, ebenso hager wie der Opa selbst, alt von den vielen Jahren, rau von einem Leben aus Arbeit, die Fingerkuppe des rechten Ringfingers fehlte, eine Kreissäge hatte sie ihm in den Fünfzigern abgetrennt. Für so etwas war einer wie Großvater nicht einmal zum Arzt gefahren. Ein steifes Bein behinderte ihn sichtlich, ein Andenken aus dem Zweiten Weltkrieg – Frankreich-Feldzug ’40, ein Türrahmen war ihm auf das Knie gefallen, Glück gehabt, dass es nicht hatte abgenommen werden müssen. Nachts schlief der Großvater schlecht, wälzte sich oft im Bett hin und her, bekam furchtbare Träume, Schweißausbrüche, schrie sogar im Traum – Verdun war schuld, Verdun 1916 mit 19, Monate lang im Schützengraben, Todesangst, Elend, Tod. Seine Hände waren die Hände eines Soldaten aus zwei Weltkriegen, Deutschland hatte auch von ihm sein Opfer gefordert – manchmal jede Nacht.
Heute bereiteten diese Hände aus Arbeit und Krieg eine Hinrichtung vor: Elfriede, das älteste aller Hühner sollte geschlachtet werden. Ich beobachtete unglücklich, wie die Hände die Klinge des kleinen Beiles schliffen, der Holzpflock stand auch schon in der Wiese hinter dem Haus. Schweigend schärfte der Großvater das Beil, seine Hände arbeiteten still, heute sollte Elfriede ihren Kopf verlieren. Er gab mir nach mir ewig erscheinenden Minuten des Schärfens das Beil und verschwand im Hühnerstall, aus dem bald lautes Gackern zu hören war, die anderen Hühner verabschiedeten sich von Elfriede, wenig später kam mein Großvater aus dem Stall mit einem kleinen Korb, aus dem Elfriedes Kopf herausragte. Das Huhn gackerte aufgeregt, als fühle es das ihm Bevorstehende. Das Schlachten eines Huhns hatte ich noch nie gesehen, mein Großvater hatte mir nur erzählt, dass Hühner nicht wie Menschen sterben, während der abgetrennte Kopf noch einige Sekunden die Augen öffne und schließe und auch die Zunge aus dem Schnabel komme, flattere der kopflose Körper noch lange mit den Flügeln und strample auch noch eine Zeit lang kräftig mit den Beinen.
Das alles sollte jetzt der armen Elfriede bevorstehen, die so lange tapfer ihre Eier gelegt und viele Küken ausgebrütet hatte. Die übrigen Hühner kamen langsam aus den für sie angelegten seitlichen Verschlägen des Stalls, um Elfriede das letzte Geleit zu geben. Mein Großvater schien zu allem entschlossen, seine linke Hand griff Elfriede am Hals und zog sie aus dem Korb, die rechte nahm mir gleichzeitig das Beil aus der Hand, ich ließ es nur widerwillig los.
Die hageren Hände legten das arme Huhn auf den Holzpflock, ich sah noch, wie das Beil nach oben in die Luft über den Kopf meines Großvaters fuhr. Ich schloss die Augen. Doch es passierte nichts. Als ich wieder vorsichtig blinzelte, hatte mein Großvater das Beil sinken lassen. Er schüttelte mit dem Kopf, sichtlich mit sich unzufrieden, seine Linke ließ Elfriede frei, die nun triumphierend gackernd zu ihren Artgenossen zurückkehrte. Er hatte es nicht fertig gebracht, der hagere alte Soldat, der unzählige Male auf Menschen hatte schießen müssen, hatte Elfriede nichts antun können. Ohne ein Wort legte er mir seine rechte Hand auf die Schulter, mit der linken rückte er seine Kappe zurecht, dann nahm er eine Zigarette aus seiner Jackentasche, zündete sie an und machte schweigend ein paar tiefe Züge. Dabei setzte es sich auf den Holzpflock. „Bring das Beil weg!“, sagte er. „Ja, Opa“, antwortete ich und eilte mit dem Beil in den Geräteschuppen.
Ich habe den alten Mann nie mehr geliebt als in dieser Minute. Als ich zurückkam, nahm ich zärtlich seine Hand. Da saß er mit hängendem Kopf, hatte als alter Bauer vor sich selbst völlig versagt. Aber Elfriede lebte und starb viel später eines natürlichen Todes wie alle Hühner und alle Kaninchen, die er noch besaß – zu töten hat mein Großvater nie mehr fertig gebracht.
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