Bald vorbei

[Ottilie]

Als ich jung war, lag ein Zauber
wohl auf jedem kleinen Ding.
Alles schien mir von Bedeutung,
was auch immer ich anfing.

Golden glänzte jede Gasse
bei Geschrei und Glockenklang.
Jede Pfütze – ein Geheimnis,
jeder Dornbusch – voll Gesang.

Als ich jung war, lag ein Lächeln
auf der Welt um mich herum.
Jedes Staubkorn hatte Seele.
Ach, ich war wohl ziemlich dumm.

Nun, im Alter, bin ich klüger.
Weiß Bescheid, kenn allerlei.
Auf den Straßen: Müll und Scheiße.
Wie mein Leben.

Bald vorbei.

[Heinz]

Liebe Ottilie,
mein gereimter Widerspruch beginnt mit diesen drei Strophen:

Auch im Alter, selbst in hohen Jahren,
kannst du Zauberhaftes jeden Tag erfahren.
Jede Knospe spricht zu dir, du musst die Ohren
öffnen, schon fühlst du dich neu geboren.

Auf den Wegen tanzt wie Staub sacht der Schnee,
wo im Sommer Weizen im Winde sich wiegt
und die schlanke Birke im Sturme sich biegt,
geht vorbei aller Schmerz, alles Weh.

Wenn du alt bist, mein Kind, genügt dir ein Fächeln,
das ein zärtliches Händchen in Liebe dir spendet,
und die Kummerfalten weichen seligem Lächeln,
wenn ein liebendes Herz Grüße dir sendet.

Ich hoffe, deine resignativen Gedanken ein bisschen aufgehellt zu haben.

Liebe Grüße,
Heinz

[Die Preussin]

Liebe Ottilie,
ich nehme deinen Beitrag als das was er ist -ein Gedicht- und hoffe, da ich es nicht so versiert vermag wie der Heinz, das du keinen Zuspruch benötigst. Wenn doch sei versichert das mir dein Gedicht ausnehmend gut gefällt. Es ist eingängig, handwerklich sehr gut gemacht, inhaltlich schlüssig, tiefgründig, denn es ist meines Erachtens nicht nur das Alter das einen so kritisch werden lässt. Es ist durchaus auch die Frage von „dumm“ und „klug“, die du ja explizit ansprichst. Wenn ich mehr sehe und verstehe fällt es nicht mehr so leicht unbeschwert zu bleiben.
Die Preussin

[Ottilie]

Hallo Heinz,

da ist Dir ja eine Perle aus der Feder geschlüpft! Sehr schönes Gedicht! Du hast natürlich recht, man sollte nicht völlig in Resignation versinken, das bekommt keinem... Der Gedanke meines kleinen Gedichtleins war: Was eigentlich bewirkt Wissen? Ich kann die Rolle, die Wissenserwerb und Analyse in unserem Leben spielen, leider nicht mehr völlig positiv sehen. Anders formuliert: Besonders gut geht es mir, wenn ich Tatsachen, die ich weiß und die mehr sehr plausibel erscheinen, vergessen kann und mit offenen Ohren und Augen in der Natur stehe und einfach atme, lausche, genieße - Du hast das sehr schön beschrieben.

Viele Grüße

Ottilie

[Ottilie]

Liebe Preussin,

Du hast das Anliegen des Gedichtleins verstanden! Es hat weniger mit allgemeiner Resignation zu tun, sondern mit der Funktion von Wissen... Danke für Deinen klugen Kommentar, viele Grüße

Ottilie

[Heinz]

Liebe Ottilie,
hab Dank für die Perle!
Was den altersgedanktem Wissenszuwachs angeht: Noch bin ich durstig und wars mein Leben lang. Vor allem: Ich kann noch staunen und versuche, hin und wieder diese Fähigkeit in Verse zu setzen wie bei meiner "Annäherung", die allerdings auf wenig Resonanz stößt.
Liebe Grüße,
Heinz