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Alt 05.06.2006, 15:31   #1
cute_fighter
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 1.123


Standard Traumfänger

Das zaghafte Zwitschern der Vögel übertönte das abebbende Zirpen der Abendgrillen. Eine verträumte Gestalt schaute auf den nahe liegenden Wald. Eine kleine Ansammlung von Bäumen, die ihr einst soviel bedeutet hatten. Jetzt bildeten sie nur noch eine zurückweichende Mauer der Natur.

Meine zarten, winterblassen Finger strichen nachdenklich über die Perlen des grünen Traumfängers in meinen Händen. Vor vielen Jahren hatte ich ihn selbst liebevoll gebastelt und seit dem hatten wirklich nie wieder Albträume meinen Verstand benebelt. Jetzt war ich mir nicht mehr so sicher.
War es wirklich das, was ich wollte?
Eine perfekte Traumwelt, in die ich mich Nacht für Nacht verkriechen konnte?
Schon nach dem Aufstehen wieder auf den Abend wartete um in meine andere Welt einzutauchen?
Meine wirkliche Welt hatte an Bedeutung verloren, die Wahrheit war immer weiter aus meinem Sichtfeld geglitten.
Doch jetzt drohte sie mich einzuholen.
Nacht für Nacht hatte ich dieselben, wunderbaren Träume. Tag für Tag fragte ich mich, warum ich nicht in dieser anderen Welt leben konnte.
Es gab nur einen richtigen Grund: Mein Körper war für immer hier gefangen. War es dann nicht besser, diese utopische Welt zu verlassen? Sie zu spüren ließ die Sehnsucht nur immer wieder erneut auflodern.
Kraftlos ließ ich das dünne Band weiter hinabgleiten. Die Perlen schimmerten wenige Zentimeter unter meinem Fensterbrett und reflektierten vorwurfsvoll die hellen Sterne.
War es das, was ich wollte?
Meine Welt wegzuschmeißen?
Den letzten Fluchtort, den meine wunde Seele noch hatte?
Fragen ohne Antworten wallten durch meine Gedanken. Mein Blick wanderte erneut zu der kleinen Baumgruppe am Horizont. Früher hatten die Bäume bis vor meinem Fenster gestanden, doch die Menschen brauchten Brennholz und neue Bauplätze. Meine Kinderaugen hatten trauernd mit angesehen, wie das Leben Stück für Stück weiter ausgesperrt wurde. Wie meine Stadt langsam gewachsen war und doch immer trostloser geworden war.
Wollten die Menschen wirklich so ein Leben?
Noch immer hörte man das unablässige Zwitschern der Vögel, als würden sie sorglos dem nächsten Morgen entgegensingen.
Langsam zog ich den kleinen Anhänger wieder hinauf und umfing ihn mit meiner linken Hand. Wie ein wartendes Auge konnte man Gefühle in den kleinen Fäden erkennen. Träume spannten sich wie durchsichtige Fäden durch das magische Rund.
Sie wollten mich wieder einspinnen, erneut in ihre Welt ziehen. Die Welt, in der alles heil war, in der ich meine Gefühle nicht verstecken musste. In eine Welt, meiner eigenen so ähnlich und doch so fremd, dass ich mich manchmal frage, ob sie wirklich aus meiner Fantasie entspringen konnte.
Ich schüttelte den Kopf.
Es ging nicht.
Ich musste loslassen, meine Welt musste wieder in die Realität übergehen.
Das Leben durfte mich nicht vergessen und vielleicht würden meine Träume eines Tages doch noch wahr werden, jedoch sollte dies in meiner realen Welt geschehen und nicht in einer Welt, in die nur meine Seele hineinpasste.
Mit einer weit ausholenden Handbewegung warf ich den grün funkelnden Traumfänger hinaus.
Hinaus in die weite Welt, meine wahre Welt.
Ich würde mich mit ihr abfinden und meine Gefühle würden einen anderen Ort finden, an dem sie sich zeigen durften.

Auch das Zwitschern der Vögel ebbte langsam ab, als der Mond über der nahen Baumgruppe aufging. Er beleuchtete einen geheimnisvollen Anhänger voller Magie, der sich in einem Busch in der Nähe des Stadt verfangen hatte. Der Wind hatte ihn weit hinaus getragen. Vielleicht würde er eines Tages jemand anderen in die Welt der Magie und Freiheit tragen.
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