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Alt 19.04.2018, 23:07   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Der Komparse

Seine Augen zählten bei jedem Schein mit. Komparsen bekamen ihr Honorar bar ausbezahlt. Diesmal hatte er einen Satz sprechen müssen, dafür gab es ein paar Euro mehr als für das übliche stumme Gestikulieren. Er wurde nicht oft engagiert, und selten erhielt er die Chance, mehr darzustellen als einen gesichtslosen Körper in der Menge, geschweige denn eine Nebenfigur mit der Aussicht, für Größeres entdeckt zu werden.

Er nahm das Bündel Scheine, stopfte es in die Innentasche seines Trenchcoats und verließ grußlos das Büro. Draußen empfingen ihn die ersten Schneeflocken des Jahres. Er klappte den Kragen hoch, um seinen Nacken gegen die Kälte zu schützen. Tausend Euro, genug, den Mietrückstand auszugleichen und den größten Druck von ihm zu nehmen – zumindest für ein paar Wochen. Jetzt konnte er seiner Frau und seinem Töchterchen auch die Wintermäntel kaufen, die sie dringend brauchten, und vielleicht reichte der Rest für eine Fichte und etwas Christbaumschmuck.

Er überlegte, den Bus zu nehmen, entschied aber, zu Fuß zu gehen, um die Kosten für die Fahrkarte zu sparen. Das Schneetreiben wurde dichter. Obwohl er kräftig ausschritt, begann er zu frieren. Nach zwanzig Minuten Marsch erreichte er den Rand der zivilisierten Welt: Die Straßen waren stärker befahren, die Wohnhäuser standen dichter, und die Fassaden mit Ladenfenstern reihten sich häufiger aneinander.

Vor der ersten Kneipe blieb er stehen. Ein Pärchen kam heraus, das sich unterhakte und heiter seines Weges ging. Das Lachen der Kneipengäste drang an sein Ohr, und kurzentschlossen trat er ein.

Die Kneipe war bis in die letzte Nische voll mit Menschen. Er hatte aber nicht die Absicht, sich an einen Tisch zu setzen, sondern stützte sich auf die Theke, ließ sich einen doppelten Cognac einschenken, trank ihn auf einen Zug und orderte sofort nach. Der Barkeeper stellte ihm die Flasche hin, wie er es bei ihm gewohnt war.

Die zweite Flasche brachte ihm Rosita, eine schwarzhaarige Spanierin, die so tat, als trinke sie mit ihm. Als er seiner Sinne nicht mehr mächtig war, nahm sie ihn mit auf ihr Zimmer, wie sie es mit ihm gewohnt war.

Am nächsten Morgen waren der Barkeeper und Rosita verschwunden, die Kneipe war verwaist, die Stühle standen auf den Tischen und eine Frau, die in einer fremden Sprache vor sich hinsang, putzte den Boden.

Er trat in die Kälte, schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch, schritt in den frischen Schnee und spürte an der Leichtigkeit seines Körpers, dass nicht nur seine Innentasche, wie gewohnt, leer war.

19.04.2018
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Alt 20.04.2018, 00:17   #2
männlich Heinz
 
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Hallo Ilka-Maria,
das ist eine der traurigsten Weihnachtsgeschichten, die ich je gelesen habe, bzw. die das Leben geschrieben hat.
Gruß,
Heinz
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Alt 20.04.2018, 06:55   #3
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Zitat:
dass nicht nur seine Innentasche, wie gewohnt, leer war.
Hm.... selber schuld. Geld für die Fahrkarte sparen, dasselbige aber, das für Miete, Frau und Kinder gedacht war, dann in der Kneipe verbraten? Er hätte um die Kneipe herum marschieren und das Geld erstmal in Sicherheit bringen sollen.
Ich kann kein Mitleid mit dem Protagonisten haben...
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.04.2018, 09:35   #4
männlich Heinz
 
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hast ja recht! Mit dem Typen habe ich auch kein Mitleid. Traurig fand ich nicht sein, sondern das Schicksal der Familie.
H.

Geändert von Heinz (20.04.2018 um 20:55 Uhr)
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Alt 20.04.2018, 10:00   #5
weiblich Ilka-Maria
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Interessant, wie der Protagonist einmütig als negativer Charakter wahrgenommen wird. Dabei enthält die kurze Geschichte keinerlei Historie, Hintergrundinformationen oder Wertungen. Sie weist nur kurz auf ein gewisses Maß an Verantwortungsgefühl hin (Mantelkauf), das jedoch dem Alkoholgenuss geopfert wird. Das genügt bereits: Säufer = schwacher Mensch.

Es könnte doch sein, dass angesichts eines verliebten Pärchens und wegen der fröhlichen Stimmung in der Kneipe dem Mann die Motivation, nach Hause zu gehen und für die Familie zu sorgen, verloren ging. Vielleicht erinnerte er sich an glücklichere Zeiten, während er heute seiner Frau und seiner Tochter als Person völlig gleichgültig ist. Möglicherweise könnte er viel Geld nach Hause bringen, seiner Frau aber trotzdem nie etwas recht machen. Schlimmstenfalls wirft sie ihm ständig vor, ein Versager zu sein, was zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden ist (aus ihm wird nie ein Filmstar).

Im Grunde lässt die Geschichte alle Fragen offen.
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Alt 20.04.2018, 13:50   #6
weiblich DieSilbermöwe
 
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Zitat:
Interessant, wie der Protagonist einmütig als negativer Charakter wahrgenommen wird. Dabei enthält die kurze Geschichte keinerlei Historie, Hintergrundinformationen oder Wertungen.
Ich habe auch nicht gewertet. Ich habe nüchtern festgestellt, dass er durch eigene Schuld sein Geld los geworden ist. Ich hätte es so gemacht: Den Teil für Miete und Familie auf die Bank gebracht, einen Teil für mich abgezweigt und dann in die Kneipe gegangen, dann hätte das nicht passieren können.
Ob der Typ säuft oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle.
Ich finde es ärgerlich, dass er nicht nachgedacht hat. Und dass er das nicht hat, dafür reichen die Hintergrundinformationen in der Geschichte.

LG DieSilbermöwe
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Alt 20.04.2018, 13:55   #7
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Ob der Typ säuft oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle.
Bist du sicher? Bei Alkoholabhängigen setzt bekanntlich der Verstand regelmäßig aus. Sie neigen zur Selbstüberschätzung, glauben, ihre Sucht zu beherrschen, machen dann aber doch weiter. Wenn die Erklärung der Mediziner und Psychologen richtig ist, dass dieses Verhalten mit dem "Belohnungssystem" im Kopf zu tun hat, wird gerade das Gehirn den Alkoholikern zum ärgsten Feind.
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Alt 20.04.2018, 18:53   #8
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Ich habe die Geschichte überhaupt nicht in Bezug auf Alkoholismus betrachtet. Für mich spielt das nämlich keine Rolle, nur, dass er sich um das Geld hat bringen lassen, was momentan so wichtig für seine Familie war.

Ich wiederhole mich jetzt aber nicht nochmal wie gesagt, das Thema Alkoholismus interessiert mich hier gar nicht.
Falls du die Geschichte aus dem Grund geschrieben hast, hast du bei mir als Leser das Ziel nicht erreicht. Was natürlich auch an mir liegen kann.

LG DieSilbermöwe
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Alt 20.04.2018, 21:19   #9
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Hallo Ilka-Maria,
Du schilderst einen Typ, der
a) Schulden bis über die Ohren hat ("Mietrückstand")
b) der keine Knete hat, um Frau und Tochter dringend benötigte Wintermäntel kaufen zu können ("Wintermäntel ..., die sie dringend brauchten")
c) dem sogar das Geld fehlt, um ein Weihnachtsbäumchen und ein bisschen Weihnachtsschmuck zu kaufen ("Fichte und etwas Christbaumschmuck"),
d) der soviel Verstand hat, das Busgeld zu sparen,
dem aber seine Komparsengage reicht, um in einer Kneipe zwei Flaschen Cognac zu kaufen (neigst Du da ein bisschen zur Übertreibung?) und eine Nutte zu bezahlen (die Nummer - zwei Flaschen Cognac intus - möchte ich sehen!). Das Fremdgehen war ja kein Ausrutscher.
Dass er als notorischer Alkoholiker eine Komparsenrolle bekommt, nehme ich noch hin, dass seine Frau noch zu diesem Schwachmaten hält, ist wohl das eigentliche Weihnachtswunder.
Gruß,
Heinz
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Alt 20.04.2018, 21:58   #10
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Zitat:
Zitat von Heinz Beitrag anzeigen
Dass er als notorischer Alkoholiker eine Komparsenrolle bekommt, nehme ich noch hin, dass seine Frau noch zu diesem Schwachmaten hält, ist wohl das eigentliche Weihnachtswunder.
Aber hallo, Heinz. Ich dachte, du kennst dich mit sowohl mit Frauen als auch mit der menschlichen Psyche besser aus. Frauen aus solchen Milieus sind Überlebenskünstler und versuchen, die Fassade aufrecht zu halten. Wer nicht weiß, wo das Geld herkommt, um das Kind am nächsten Morgen mit sattem Bauch in die Schule zu schicken, hat keinen Gedanken frei, wie sich ein besseres Leben aufbauen ließe. Da denkt man von einer Minute zur nächsten.

Wo steht denn, dass der Komparse zwei Flaschen Cognac "gekauft" hat? Tausend Euro wären dafür nebst einem Zimmer und einer Hure ein bisschen viel gewesen. Natürlich ist er ausgenommen worden. Kennst du den Film "Das Totenschiff"? Der Matrose (Horst Buchholz) wird von einer Prostituierten betrogen, quasi ausgeraubt, und das läutete das Ende seines Lebens ein. So einfach sind manchmal die Spielregeln des Lebens, auch wenn sich B. Traven das nur ausgedacht hat.
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