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Alt 01.04.2013, 03:00   #1
männlich Ein Träumer
 
Dabei seit: 04/2013
Ort: irgendwo im Rheinland
Beiträge: 11


Standard Vier Minuten

Als er das Licht er Welt erblickte, war Kennedy gerade noch nicht erschossen.
Die Eltern gingen weg, bevor man ihn mit anderthalb einem Ehepaar gab.
Er passte in keinen Kindergarten, vegetierte als Einzelkind, mochte Geschichten.
Sich anzufreunden fiel ihm schwer, er fühlte irgendwie kein Vertrauen.

Sie kam auf die Welt – eine halbe Stunde nach Neil Armstrongs Satz.
Jemand wollte unbedingt auf dem Mond sein und jemand hatte sie unbedingt gewollt.
Im Kindergarten galt das blonde Mädchen als ruhig und besonnen.
Zwei Brüder, tausend Freunde hatte sie, aber Vertrauen schenkte sie keinem.

In der Schule langweilte er sich oft, die andern mussten Lesen und Schreiben lernen.
Dann sah er aus dem Fenster in den Himmel, über den weiße Wolken fuhren.
Um Weihnachten leuchtete der Himmel rot, das fand der schwarzhaarige Junge schön.
Er mochte das Schreiben, Rechnen mochte er nicht.

Ihre Grundschule war ein voller Erfolg, ordentlich arbeitete sie.
Das Schreiben mochte sie, das Rechnen blieb ihr fremd.
Wenn die anderen Erklärungen brauchten, schaute sie in den Himmel auf die Wolken.
Den roten Himmel des Winters liebte sie, den fand sie schön.

Durchs Gymnasium lavierte er sich mit Charme und Raffinesse.
Eine Freundin fand er nicht, versuchte etwas hier, etwas da, aber…
Sein Abitur überraschte ihn am meisten, da beschloss er, Lehrer zu werden.
Er kannte nichts anderes, nicht von der Schule, nicht von zu Hause, Kinder liebte er.

Natürlich besuchte sie ein Gymnasium, war sie doch so fleißig, ordentlich und lieb.
Später verstand sie, dass man fleißig, ordentlich und lieb kein Abitur bestand.
Da beschloss sie, mit Fachabitur Kinderkrankenschwester zu werden.
Sie mochte Schreibtische nicht, Kinder liebte sie.

Bei der Bundeswehr stand er auf dem Wachturm und schaute in die Sterne.
Dann sah er undeutlich ein Gesicht. Ihre Augen waren blau, ihre Haare blond.
Andere nannten das Sehnsucht.
In die Sterne sah er gern, dann fühlte er sich ganz klein, fühlte sich angenehm unbedeutend.

Im Krankenhaus bildete man sie aus, klug wie sie war, lernte sie schnell.
Während der Nachtschicht schaute sie oft aus dem Fenster. Sie sah ein Gesicht, dunkle Haare.
Andere nannten das Sehnsucht.
In die Sterne sah sie gern, dann fühlte sie sich ganz frei, spürte eine Bestimmung in sich.

Sein Studium verlief wie erwartet, denn schreiben konnte er.
Er schrieb gern Liebesgedichte. Aber keiner wollte sie lesen.
Dann bekam er irgendwann ein Kind mit irgendwem.
Wenn er nächtens in den Himmel schaute, sah er Sterne, sah ein Gesicht, manchmal tat es weh.

Sie blieb im Krankenhaus ihrer Ausbildungsjahre, die Kinder mochten sie.
Sie schrieb gern lange Briefe, aber niemand wollte welche von ihr bekommen.
Irgendwann heiratete sie irgendwen.
Wenn sie nächtens in die Sterne schaute, sah sie ein Gesicht und weinte.

Er wurde Lehrer, weil er sich Mühe gab und weil er Kinder liebte.
Irgendwann verließ er die Mutter und die Tochter, wieder tat es weh.
Joan Baez, Bob Dylan und Leonard Cohen hörte er zum Trost.
Er ging auch gern ins Kino, Filme mochte er besonders.

Sie ließ sich irgendwann scheiden, Kinder bekam sie keine.
Wenn sie ganz traurig war, hörte sie Musik, Baez, Dylan, Cohen oft.
Da sie Filme liebte, saß sie allein im dunklen Kino – und weinte.
Nur der Beruf konnte sie trösten.

Dann lernte er irgendeine aus dem Osten kennen, heiratete.
Die Ehe ging schief, weil er nachts gerne in den Himmel sah, grüne Wiesen mochte und das Meer.
Die Frau zog aus, er saß allein im Kino und weinte.
Nur der Beruf spendete ihm ein wenig Trost.

Gelegentlich träumte sie von grünen Wiesen, von einem Spaziergang am Meer.
Langsam wurde sie zu alt für Kinder.
Aber sie wurde nicht zu alt zum Träumen, während sie in die Sterne schaute.
Sie zog sich gerne chic an, mochte es erotisch, denn schön war sie.

Gelegentlich fuhr er ans Meer, denn er fuhr gerne, um zu träumen.
Für die Liebe war es noch nicht zu spät.
Er suchte immer noch die Eine, die schön war und es erotisch mochte.
Wenn er in die Sterne schaute, konnte er sie ahnen, blond und mit blauen Augen.

Sie wäre gerne viel gefahren, durch die Landschaften und durch Städte.
Von Skandinavien hatte sie oft gelesen. Da wollte sie einmal hin.
Nächte hätte sie gern durchgemacht, wäre auf einer Blumenwiese aufgewacht.
Und den sie sich ersehnte, schrieb ihr gern Gedichte und mochte Geschichten.

Er hasste Stillstand, schätzte es, wenn die Landschaft an den Autoscheiben vorbeifloss, auch Städte.
Am liebsten wäre er auf einer Blumenwiese aufgewacht, auf Decken.
Schweden, Norwegen… Das bedeutete Reisen machen.
Aber nicht allein – für seine Begleiterin wollte er Gedichte schreiben und Geschichten.

Sie las Bücher, aber es vertrieb ihre Einsamkeit nicht.
Manchmal telefonierte sie viel, aber es tilgte keine Sehnsucht.
Wenn sie rauchte, schmeckte es ihr, aber Zufriedenheit fand sie nicht.
Zuweilen war ihr, als wäre sie ihm ganz nah, dann wieder Hoffnungslosigkeit.

Er las Bücher, aber einsam blieb er doch.
Telefonieren brachte keine Linderung, die Sehnsucht nagte an ihm.
Gelegentlich rauchte er, es schmeckte ihm, aber das Schicksal erbarmte sich nicht.
Des Öfteren dachte er, die Eine sei ihm ganz nah, dann aber verlor er wieder alle Hoffnung.

In sich fühlte sie ein Meer von Liebe, das sie über jemanden ausgießen wollte.
Dann dachte sie an eine Partnervermittlung.
Schließlich sah sie in die Sterne und wusste, dass es keinen Sinn machte.
Sie behielt ihr Meer für sich, ein wenig bekamen die Kinder.

An schlechten Tagen spielte er mit dem Gedanken, eine Partnerschaftsagentur zu nutzen.
Da war so viel Liebe in ihm, die er schwer wie ein Kreuz mit sich trug.
Keiner wollte ihm dieses Kreuz abnehmen. Die Schüler bekamen ein bisschen davon.
Er sah in die Sterne und hoffte auf das Schicksal.
Rund 40.000 Kilometer beträgt die Länge des Äquators.
Sie wohnten nur rund vierzig Kilometer voneinander entfernt.
Eines Tages brauchte er rote Patronen für seinen Korrekturfüller.
Am selben Tag suchte sie ein Buch.

In einem Ort - ganz nahe ihrer Wohnung - betrat er um 11.03 Uhr das Schreibwarengeschäft.
Das Schreibwarengeschäft war eigentlich eine Buchhandlung.
Er kaufte seine Patronen, sah sich einmal um, weil er ein merkwürdiges Gefühl spürte.
Dann ging er wieder hinaus.

Sie betrat die ihr vertraute Buchhandlung um 11.07 Uhr, um sich unbestimmt umzusehen.
Beim Hereinkommen sah sie noch vier Sekunden den Rücken eines dunkelhaarigen Mannes.
Der Mann hatte gerade rote Patronen für seinen Korrekturfüller gekauft.
Sie fühlte für einen Moment etwas Merkwürdiges.

Der Äquator ist rund 40.000 Kilometer lang.
Beide wohnten vierzig Kilometer voneinander entfernt.
Sie hatten beide schon über vierzig Jahre gelebt.
Jetzt fehlten ihnen ganze vier Minuten, vier Sekunden von der Ewigkeit entfernt.
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