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Alt 01.09.2013, 15:33   #1
männlich sturmfeder
 
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Standard Der Sturmwanderer

Hallo ihr!

Ich habe vor kurzem eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Der Sturmwanderer" verfasst.

Da ich noch nicht weiß, wie lange ein Post sein darf, stelle ich einmal nur einen Teil hier rein.

Wenn es euch gefällt, kann ich gerne noch den Rest nachreichen

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Der Sturmwanderer

Es war einer jener besonderen Abende, der den Anfang einer Geschichte anzeichnet, die sich in das Gefüge der Welt einbrennen wird. Eine Erzählung, die das Schicksal unzähliger Völker neu zu weben und deren Zukunft zu verhüllen vermag. Ein Ereignis, das in seiner Allgewalt selbst das längst Vergangene beeinflussen kann. In Tausenden von Jahren werden die Berge als steinerne Monumente von diesen schicksalhaften Tagen zeugen und jedes Lebewesen daran gemahnen, was damals geschah. Der Wind wird in der Nacht flüsternd die Namen derer verkünden, die dereinst Zeugen waren, als das Fundament des Schicksals neu errichtet wurde. Wenn die Erde erbebt, oder ein Gletscher sich bewegt, wenn ein Stern vom Himmel fällt oder ein Sturmflut das Land verschlingt, schreiben sie ebendiese Geschichte in das Antlitz der Welt. Und erst wenn die Sonne erlischt, wird der Nachhall verblassen und jede Erinnerung im Vergessen verschwinden.

Das goldgelbe Sonnenlicht der tief stehenden Abendsonne brach sich in den tropfenbewehrten Grashalmen und Farnen und malte winzige Regenbögen auf die weiß getäfelte Hauswand. Vom Schieferdach des Hauses rann ein sanftes Rinnsal die Mauer entlang und endete in der feuchten Erde. An einer anderen Stelle tropfte das Regenwasser in eine Pfütze. Tapp, Tapp, Tapp.
Arina öffnete ihre Türe, die Türe in die neugeborene Natur. Der Duft nasser Erde kam vom kühlen Abendwind zu ihr getragen und sie atmete ihn tief ein. Sie drehte sich in Richtung der Sonne, ließ zu, dass ihr Gesicht von den warmen Strahlen berührt wurde. Als sie sich nach Norden wandte, sah sie erst die vollen Ausmaße des Unwetters, das so überraschend über ihr Land gekommen war.
Die pechschwarzen Wolken formten ein Gebirgsmassiv, das auf Regenschleiern schwebte und sich von Osten nach Westen zog. Immer wieder durchzuckten Blitze die ferne Finsternis und verbanden die schwebenden Wolkentürme und den Boden mit gellem Draht. Selbst von hier konnte Arina die Zerstörung und Verwüstung spüren, die das Ungewitter nach sich zog.
Der Sturm war heftig gewesen, schlimmer als alles, was sie bisher erlebt hatte. Er hat mit einer solchen Macht getobt, dass sie um ihr Leben gefürchtet hatte. Nun erkannte sie erst, wie groß seine vernichtende Kraft wirklich gewesen war. Überall um sie herum waren die Felder übersät von Ästen, Steinen und kleineren Tieren. Der Erdboden war an manchen Stellen aufgerissen und trübes Wasser stand in den Furchen. Arina entdeckte auch Gegenstände, die nur von Menschen stammen konnten. Hier ein zerstörter Eimer, da ein Teil eines Karrens, dort ein gerissenes Wams.
Arina ging um ihr Haus herum und besah sich die Schäden. Ihre bloßen Füße versanken in der feuchten Erde und Wassertropfen benetzten den feinen Stoff ihrer Robe. Sie fand nur eine Kerbe in der Wand und einige fehlende Schindeln am Dach. Sie zu ersetzten dürfte für Arina schwer werden, immerhin war ihre Behausung schon über dreihundert Jahre alt. Schon die Mutter ihrer Großmutter war hier geboren worden und seit jeher ging es so fort. Noch nie war in diesem Haus ein Junge geboren worden, noch nie hatte ein Mann einen Schritt über die Schwelle getan. Die Künste, die hier ausgeübt und gelehrt wurden, waren den Frauen vorbehalten, denn die Magie rührte von dem Zauber des Gebäudes. Sobald ein Mann den geweihten Boden betrat, würde die Macht erlöschen.
Arina fasste sich an die Schulter, wo die die goldene Spange saß, die das Symbol ihrer Macht darstellte. Sie bestand aus massivem Gold, in das Zeichen der Macht getrieben waren. Wer sie besaß, dem stand die Macht zu Verfügung, die allen Frauen aus Arinas Blutlinie in die Wiege gelegt war. Die Macht, die Gedanken der Menschen zu lesen, zu verändern oder erlöschen zu lassen.
Plötzlich spürte sie einen kalten Lufthauch, der ihr von hinten entgegenwehte. Er brachte ihre langen, kupferfarbenen Haare zum Wirbeln. Das weite, weiße Gewand aus feiner Seide bauschte und wallte sich, instinktiv schnürte sie es enger.
„Es ist ein bisschen frisch, für eine solch leichte Bekleidung, nicht wahr?“, vernahm sie eine angenehm tiefe Stimme hinter sich.
Erschrocken schreckte Arina hoch und fuhr herum. Wie zuschnappende Schlangen preschten ihre mentalen Fühler vor und wollten sich in die tiefsten Gedanken und Emotionen des Mannes bohren, der da so selbstgefällig vor ihr stand. Die Wucht mit der ihr geistiger Angriff gegen die Barriere prallte, brachte sie zum Keuchen. Ihr war, als hätte ihr jemand einen Sandsack gegen den Kopf geschleudert. Einen nassen Sandsack.
„So begrüßt man doch keinen erschöpften Reisenden, oder?“, fragte der Fremde tadelnd, aber dennoch mit einem Lächeln, das Arina schier den Atem raubte. Noch nie hatte sie einem Mann gegenübergestanden, noch nie hatte sie mit einem geredet, noch nie hatte sie jemand so angelächelt.
„Ha… Hallo“, stotterte sie, die Worte verließen ihren Mund nur widerwillig. Das Grinsen des Mannes wurde breiter und die Wirkung auf Arina verflüchtigte sich. Sie holte tief Luft und sah sich den Fremden genauer an.
Er sah keinem der Völker ähnlich, die sie kannte. Zu groß für jemanden aus dem Süden, zu blass für einen Nordländer. Seine vornehme Haltung passte auch nicht zu einem Bewohner der Südlichen Inseln und für einen Reichsstädter fehlten ihm schrägstehenden Augen. Er war um einen Kopf größer als Arina, die Haare an der Seite des Kopfes hielt kurz geschnitten, der Rest war zu einem schulterlangen Zopf geflochten. Seine Haut hatte den goldbraunen Glanz eines Waldnomaden und war mit mehreren feinen Narben bedeckt. Die großen, dunklen Augen starrten sie unverwandt an, kleine Lachfalten umrahmten seinen Mund.
Er war gekleidet in dunkles, gemustertes Leder und trug Stiefel, die eher zu einem Soldaten gepasst hätten. Um seine Schultern hatte er einen Umhang geworfen, der in alle möglichen Rottönen gefärbt war. Sie entdeckte keine der barbarischen Waffen an ihm, mit denen sich andere Männer so gerne schmückten.
„Ich grüße euch auch, unbekannte und machtvolle Schönheit.“ Er kam näher und hielt ihr die Hand hin. „Ihr seid eine überaus talentierte Dame, wenn man die Stärke eures geistigen Angriffs erlebt hat.“
Sie besah sich seine Hand und wusste nicht recht was sie machen sollte. Vorsichtig streckte sie die ihre aus. Sie erschrak als der fremde Mann sie ergriff, sich vorbeugte und ihr einen Kuss auf den Handrücken hauchte. Ein Schauer überkam sie, als sie seine weichen, warmen Lippen auf ihrer Haut spürte.
„Mein Name ist Nioleth.“ Er sah sie fragend mit seinen schwarzbraunen Augen an. „Darf ich erfahren, wie ich euch ansprechen soll?“
„Ich heiße Arina“, sagte sie schüchtern. Wieso sagte sie ihm das?
„Arina.“ Nioleth schmeckte den Namen, fühlte ihn. „Wie der Schwebende Smaragd in Wolkensturz?“ Er sah ihr in die waldgrünen Augen. „Ich kann verstehen wieso.“
Überrascht atmete sie ein und drehte den Kopf zur Seite. Eine nie gekannte Wärme wanderte in ihre Wangen. Ihre Mutter hatte ihr einst die Bedeutung ihres Namens erklärt, doch nie hatte eine der anderen Frauen, die den langen Weg zu ihr gefunden hatten, von dem Edelstein gewusst.
Nioleth lacht. Es war ein tiefes Lachen, das tief in Arina eindrang und ihre Eingeweide zum Zittern brachte. Ein machtvolles Lachen.
„Ihr hieltet mich wohl für einen ungebildeten Narren, der unbedingt das Verlangen hatte, irgendwo in der Welt sein Glück zu versuchen.“
Arina lächelte leicht. „Um ehrlich zu sein, es wundert mich eher, dass ihr noch stehen könnt. Nach meinem Angriff auf euch, solltet ihr eigentlich dümmlich sabbernd am Boden liegen.“
„Wäre es euch lieber, wenn ich am Boden liege?“ Nioleth zwinkerte ihr zu und trat dicht neben sie. Sie konnte seinen warmen Atem auf ihrem Nacken spüren und dann war da wieder seine Stimme, diese tiefe, wohlklingende Stimme, die ihren gesamten Verstand benebelte. Er flüsterte, „Das tue ich auch, wenn ihr dabei neben mir liegt.“


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Herzliche Grüße,

Sturmfeder
sturmfeder ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.09.2013, 09:55   #2
weiblich Oneda
 
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Ich finde die Einleitung gut getroffen. Sie ist episch und verständlich. Einfache Wortwahl, trotzdem große Wirkung.
Arina´s Schicksal und ihre Kraft halte ich für eine Interessante Idee. Wo dem Leser fragen auf kommen: "Wozu sind ihre Kräfte eigentlich da ?" " Wer weiß davon, warum existieren sie in dieser Welt ?" " COOL, diese Kräfte haben nur Frauen !" ... halt Warte das war keine Frage. Ahem.
Und jetzt zu ihm: stark, mysteriös, wahrscheinlich gut aussehend (doch da Arina kein Vergleich hat kann sie es nicht bewerten) und ein Perversling... was soll man machen selbst der Sturmwanderer ist nur ein Mann. ... Ähm, mach weiter so ^^
Oneda ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.09.2013, 10:09   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ich halte den Einstieg nicht für gelungen.

Dies wäre ein guter Anfang gewesen:

Zitat:
Arina öffnete ihre Türe zur neugeborenen Natur.
Und dann schildern, was vorgegangen ist und von Arina gesehen wird.

Zu viel Adjektive, das wirkt bemüht und ermüdet den Leser. Adjektive sind die empfindlichsten Stellen in einem Text. Sie gehören nur dort gesetzt, wo sie unentbehrlich sind.

Leider lehrt das der Schulunterricht anders, aber dort geht es um Übungstexte, bei denen man sich an bestimmten Wortarten abarbeiten muss. Vergiß also, was Du in der Schule gelernt hast, wenn es um Stil geht.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.09.2013, 12:05   #4
Thing
R.I.P.
 
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Die Beherrschung der Sprache ist besonders zu loben!
Ich bin überaus angenehm davon berührt.

Was mich zu dem Ausruf verlockt:

"Es geht doch! Nehmt Euch ein Beispiel hieran, Ihr Stümper!"
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.09.2013, 21:27   #5
gummibaum
 
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Der Text unterscheidet angenehm vom Simpelstil heutiger Bestseller. Mir gefällt das außerordentlich. Wertvoll und darum unverkäuflich.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.10.2013, 20:40   #6
männlich sturmfeder
 
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Hallo,

Vielen Dank für die netten Worte!

Ich bin noch nicht so geübt im Schreiben und hoffe, dass sich einige Dinge noch verbessern

Liebe Grüße,

Sturmfeder
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Alt 15.12.2013, 00:45   #7
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Standard Fortsetzung

Hallo ihr lieben Leser und anderen Leute

Ich dachte mir, ich könnte ja mal einen weiteren Teil dazugeben, mal schaun, ob der gelesen wird

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Die nächsten Stunden verschwammen für Arina zu einer Abfolge aus Phasen der Lust, Erschöpfung und Euphorie. Die ganze Welt wurde erfüllt von hochwallenden Gefühlen, von Wellen aus überwältigenden Wahrnehmungen, die ihr jedes Zeitgefühl raubten. Sie erinnerte sich an die animalische Kraft mit der Nioleth sie genommen hatte. Keine Erzählung ihrer Mutter hätte sie darauf vorbereiten können.
Langsam fand sie zurück in die Wirklichkeit, in diese kalte und emotionslose Welt, wo Arbeit und Verdruss auf sie wartete. Sie wollte hier bleiben, in Nioleths Armen, seine Muskeln und seinen Herzschlag spüren. Nie wieder würde sie sich von dem Holzboden ihres Hauses erheben. Ihr Haus…
… das kein Mann jemals betreten durfte!
Urplötzlich war sie hellwach. Der Schock ließ sie sich blitzartig aufrichten. Scham und Schuld drückten gegen die eisernen Mauern ihres Verstandes und brachten sie zum Einsturz. Mit ihr brach auch der Damm, der ihre Tränen zurückhielt. Schluchzend sank sie nach vorne. Entfernt bekam sie mit, dass Nioleth sich aufrichtete und ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter legte. In Arina wichen die verzweifelten Gefühle beiseite und machten Platz für die Wut. Die Wut auf IHN, mit ihm hatte alles begonnen. Wäre er nicht vor ihrem Haus erschienen, würde der Zauber noch bestehen.
Ihre alten Instinkte gewannen die Oberhand. Ein Strom vernichtender Macht schoss auf Nioleth zu, unsichtbar und unhörbar. Sie drehte sich um, damit sie ihm in sein Antlitz sehen konnte, wenn sein Verstand zerbrach. Die Überraschung, als er ihre Attacke erneut abwehrte, wich schnell der viel größeren Verblüffung, dass sie noch im Vollbesitz ihrer Kräfte war.
Dann sah sie sein Grinsen. Sein Gesicht wurde halb vom Licht der aufgehenden Sonne beleuchtet. Das Auge im Schatten wirkte nun schwarz, während das andere die Farbe von Bernstein annahm.
„Was hast du getan?“, hauchte sie, die Augen weit aufgerissen. Unwillkürlich versuchte sie ihren nackten Leib mit einem Tuch zu verdecken.
„Du solltest mich eher fragen, was ich nicht getan habe.“ Er stand auf und nahm seine Hose zur Hand. „Jeder in einem Umkreis von mehreren Tagesritten kennt eure Macht, doch ihr wisst so wenig darüber.“
Trotz stieg in Arina auf.
„Was wisst ihr schon über Magie?“, fragte sie abfällig.
„Wie es aussieht, mehr als du, immerhin habe ich sie studiert.“ Nioleth schlüpfte in seine Stiefel und sah sie eindringlich an. „Und wie du selber gemerkt hast, bin ich sehr gut mit Magie bewandert. Schließlich konnte ich deine Angriffe abwehren, ohne die Miene zu verziehen.“
Arina versuchte sich an die Lehren ihrer Mutter über die Magie zu entsinnen.
„Das ist unmöglich. Magie herrscht nur an heiligen Orten, an gesegneten Plätzen. Dort wo die Götter gelebt haben.“ Sie machte eine Pause. „Wenn ich mich zu weit von hier entferne, verliere ich meine Macht.“
„Du meinst also, Magie gibt es nur an manchen Orten?“, fragte Nioleth, der mit bloßem Oberkörper vor ihr Stand. Wieder einmal bewunderte sie seinen vollkommenen Leib. Nirgendwo konnte sie Fett oder Falten erkennen, denn überall spannte sich die Haut über straffe, harte Muskeln.
Arina nickte. „Ich weiß, dass es so ist!“
Nun lächelte er wieder. Er ging zu Tür, öffnete sie und verschwand nach draußen. Arina fröstelte in der kalten Luft, die hineindrang. Sie stand auf und suchte nach ihren Gewändern. Nachdem sie die beiden Schichten angelegt hatte, trat sie ans Fenster und sah hinaus. Der Morgen war bereits alt, die Sonne stand schon ziemlich weit über dem Horizont. In rund einhundert Metern Entfernung stand Nioleth und winkte ihr zu.
So weit von ihrem Haus entfernt konnte er keine Magie wirken, das war unmöglich. Ihre Mutter hatte ihr eindeutig erklärt, dass…
Eine Feuersäule bohrte sich vor in den Himmel. Grelles Orange, flammendes Rot und helles Blau stoben einander umtanzend nach Oben. Die Flammen umschlangen sich, während sie immer höher schossen.
Das Gras rund um die Stelle, an der Nioleth eben noch gestanden hatte, fing Feuer und qualmte heftig. Rasend schnell breitete sich der Steppenbrand aus. Die Flammenwand näherte sich gefährlich ihrem Haus, die Hitze brachte das Wasser in den Pfützen zum Kochen.
Gerade als Arinas Reflexe sie zur Flucht drängen wollten, verschwand das Inferno vor ihr. Zurück blieb eine unberührte Landschaft, mit wogendem Gras und knarzenden Bäumen. Keine Brandspuren, keine Asche, keine Verwüstung, sondern nur ein lachender Nioleth der in ihrer Tür stand. Sie glaubte zu spüren, wie sein Gelächter ihre Hausmauer zum Beben brachte.
„Du hättest dein Gesicht sehen müssen“, brachte er mühsam hervor.
„Wie hast du das gemacht?“, wollte Arina ungläubig wissen. Sie spürte auch Zorn in sich hochwallen. Er soll sich ja nicht so darüber lustig machen, dachte sie.
Nioleth sammelte sich wieder und hörte auf zu lachen, auch wenn noch immer ein Grinsen in seinem Gesicht stand. „Im Grunde war es ähnlich zu dem, was du vermagst. Ich habe dich etwas sehen lassen, was nicht da war. Nennen wir es eine einfache Sinnestäuschung.“
„Nein ich meine, wie konntest du…“ Sie verstummte als er erneut zu lachen begann. „Ach friss doch Dung!“
„Es tut mir leid, aber die Situation ist einfach zu komisch.“ Er hustete heiser.
Arina verschränkte die Arme und fragte schnippisch, „Und was genau ist daran komisch?“
Er sah sie an, mit einer Ernsthaftigkeit, die so plötzlich kam, dass es beinahe Arina gewesen wäre, die gelacht hätte.
„Ehrlich gesagt, ist daran eigentlich nichts komisch. Du besitzt eine unglaublich große Macht, doch du weißt über Magie ebenso unglaublich wenig.“ Es war nicht kränkend gemeint, es war einfach eine Feststellung. „Du hast Recht, Magie existiert nur an bestimmten Orten.“
Arina wollte schon triumphierend auffahren, doch eine bestimmte Geste von Nioleth ließ sie schweigen.
„Was wenn dieser Ort überall ist?“ Er deutete aus dem Fenster, auf das weite Land. „Überall in der Welt gibt es Magie. Sie ist die stärkste Kraft, die wildeste Macht. Durch ihr Wirken ist das Leben erst entstanden.“ Er lächelte. Seine Lippen formten einige Wörter und er erschuf eine Handvoll Laub. „Sie verfärbt im Herbst die Blätter, sie lässt Blitz und Donner entstehen, sie verwandelt karges Ödland in fruchtbare Wälder und auch wieder zurück.“ Er knüllte die Blätter zusammen und drückte fest. „Und sie ist verantwortlich für die größten Wunder unserer Zeit.“ Dann hielt er ihr seine Hand hin.
Auf der Handfläche lag ein Smaragd, makellos rein und von einem dunklen Grün, der an einer zarten Kette aus Grüngold befestigt war.
„Magie kann viel mehr, als du denkst.“ Er legte ihr den Anhänger um und trat zurück.
Arina fasste sich an den neuen Schmuck. Ihre Gedanken tanzten wirr durch ihren Geist, zu viel Neues hatte sie erfahren. Abwesend fuhr sie über das Metall und bemerkte darin winzige Schriftzeichen.
„Wie hast du das getan?“ Ihre Stimme zitterte. „Ich kann mir nicht im Entferntesten vorstellen wie jemand in der Lage sein kann, solch filigranen Schmuck nur mit Willenskraft zu erschaffen.“
„Sagen wir, ich habe schon einiges an Übung.“ Nioleths Blick richtete sich in eine vergangene Zeit.
Arina näherte sich ihm und fragte flüsternd, „Wer bist du?“
„Willst du jetzt meine Lebensgeschichte hören?“ Er seufzte schwer. „Ich habe schon sehr, sehr viel erlebt. Meine Kindheit wird dich nicht sonderlich interessieren, habe ich damals doch kaum etwas mit Magie zu tun gehabt.“ Sein Lächeln kehrte wieder und er sah sie an. „Die Magie habe ich auf einer einsamen Insel von einem einsamen, alten Magier erlernt. Er war nicht mehr ganz richtig im Kopf, aber ein Meister seines Faches. Er kannte Aspekte der Magie von denen du nicht einmal zu träumen wagst.“ Er berührte den Smaragd, fuhr mit dem Finger zu ihrem Kinn. „Sein Eiland war voller Wunder. Bäume die gläsern waren, so dass man das Wasser und das Harz ihn ihnen sehen konnte. Die Flüsse flossen aufwärts und schossen in gewaltigen Bögen zurück ins Meer. Es war ein Anblick, der sich auf ewig in dein Gedächtnis brennt.“
„Glaubst du kann ich diesen Ort einmal mit eigenen Augen sehen?“, fragte Arina mit Neugier in der Stimme. Sie spürte, wie in ihr der Wunsch heranwuchs, ihr Haus zu verlassen und in die Welt aufzubrechen. Sie würde ihre eintönigen Pflichten gegen das Abenteuer des Unbekannten eintauschen. Endlich konnte sie all die Wunder, die sie in den Gedanken der Pilger und Reisenden gesehen hatte, leibhaftig zu Gesicht bekommen.
„Wenn du es möchtest“, lachte Nioleth und sah an ihr vorbei zur Küche. „Soll ich uns etwas zum Essen machen? Es war eine anstrengende Nacht.“ Er zwinkerte ihr schelmisch zu. Sie verdrehte übertrieben die Augen und schlug ihm auf die Brust.
Empört schnappte er nach Luft und rieb sich die Stelle, an der sie ihn getroffen hatte. Dann reckte er das Kinn und stapfte mit weit ausholenden Schritten an ihr vorbei in die Küche. Arina kicherte in sich hinein und folgte ihm.


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Herzliche Grüße,

Sturmfeder
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Alt 24.02.2014, 00:14   #8
männlich sturmfeder
 
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Standard Und noch ein Teil :D

Nioleth gab keinen Kommentar ab, als er in ihrer Speisekammer nichts weiter als Kartoffeln, Getreide, trockene Pilze, etwas Gemüse und einen Rest altes Obst fand. Zielstrebig wählte er eine Handvoll Kartoffeln, zwei Zwiebeln, vier große Erdpilze, einige Erbsenschoten und einen Bund Karotten aus, legte sie in einen der bereitgelegten Körbe und drückte ihn ihr in die Hand. „Würdest du mir helfen und das schon mal reinbringen. Ich suche noch einige Kleinigkeiten, dann komme ich nach.“
Arina war gerade dabei Feuerholz in den Herd zu schichten, als Nioleth zurückkehrte. Er brachte einige Gewürze und einen kleinen Sack Mehl mit, den er schwer auf den Tisch fallen ließ. Eine weiße Wolke erhob sich und brachte ihn zum Husten. Er murmelte etwas, wedelte mit der Hand und ein leichter Windstoß trug den Staub aus einem der offenen Fenster.
„Magie kann schon praktisch sein“, freute er sich. Dann sah er Arina an, die verbittert zu ihm hinüber blickte. „Was ist denn los?“
„Du setzt die Magie so selbstverständlich ein. Deine Macht wirkt sich so sehr auf die Umgebung aus, dass du Dinge verändern oder erschaffen kannst.“ Sie schlug die Augen nieder. „Ich kann gerade einmal in den Kopf von Menschen schauen und darin herumspielen, aber mehr schon nicht.“
Er kam zu ihr und ergriff ihre Hände. „Du unterschätzt dich gewaltig. Du besitzt weitaus größere Macht, als ich.“
„Ach ja? Ich kann keinen Wind entstehen lassen oder ein Schmuckstück aus dem Nichts zaubern.“
„Mein Meister hat mir einmal erklärt, dass es vier Arten von Magiebegabten gibt.“ Er zerfurchte die Stirn, als er versuchte sich zu erinnern. „Wie war das? Genau!“ Seine Miene hellte sich auf. Er begann eine der Erbsenschoten auszulösen. „Ich bin ein sprechender Magier, das bedeutet ich kann mit Hilfe von Worten die Magie in eine Bahn lenken, so dass sie einen bestimmten Zweck erfüllt. Es hängt von der Kenntnis der Worte und der geistigen Stärke ab, wie viel Magie man kontrollieren kann. Wir sind häufiger, als die sehenden Magier, so wie du eine bist, aber seltener als die Horchenden.“
„Horchende?“
„Horchende sind nur in der Lage Magie wahrzunehmen, sie können also magische Gegenstände oder Zauber bemerken.“ Er machte eine weit ausholende Geste. „Man könnte sagen, fast alle Menschen sind Horchende, bis auf einige traurige Ausnahmen.“
„Ich bin also eine Sehende?“ Ihr gefiel das Wort.
Nioleth nickte heftig. „Ja, genau. Du kannst den Fluss der Magie sehen, in welcher Form auch immer. Umso stärker deine Gabe, desto tiefer kannst du in die Dinge schauen. Es ist zwar am Einfachsten in Menschen zu blicken, aber schwierig sie zu lesen.“ Er legte den Kopf schräg und sah sie fragend an. Seine Finger brachen eine Schote nach der anderen auf und holten die Erbsen heraus. „Wobei es merkwürdig ist, dass du die Fähigkeit hast, die Menschen geistig zu beeinflussen. Das macht dich fast zu einer Erwachten.“
„Lass mich raten, dass ist die vierte Form der Magiebegabten.“
Er grinste. „Wie scharfsinnig von dir.“ Seine Miene verdunkelte sich. Er nahm die Karotten zur Hand und begann sie kleinzuschneiden. „Erwachte sind eine Überlappung aus Sehenden und Sprechenden, was sie unglaublich mächtig macht. Ich habe nie einen zu Gesicht bekommen, aber mein Meister glaubt, dass unsere Götter nichts weiter als vollständig erwachte Magier sind. Er selbst war ein teilweise erwachter Magier, denn er besaß schwache Fähigkeiten eines Sehers. Das war wohl der Grund weshalb er ein bisschen verrückt war.“
Nioleth flüsterte ein Wort und seine Hand wurde plötzlich in Flammen gebadet. Arina schrie auf, während sie sich hektisch nach etwas zum Löschen umsah. Doch er bewegte die Hand sanft umher und meinte, „Keine Sorge, die Magie wird mich nicht verletzen.“
Eine schnelle Geste folgte, als wolle er das Feuer von sich schleudern. Ein glühend heißer Feuerball schoss in den offenen Herd. Knisternd entzündete sich das Holz und Funken stoben hoch. Einer der Scheite krachte zusammen.
„Erschreck mich nie wieder so.“ Sie stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd und warf etwas Salz hinein. Anschließend fanden die Kartoffeln ihren Weg in das langsam wärmer werdende Nass. „Was meintest du damit, dass dein Meister verrückt war?“
Er war gerade dabei, die Pilze zu waschen und grob zu hacken, aber bei ihrer Frage hielt er inne. „Hast du dir nie überlegt, wieso dein Haus so weit abseits von allen Menschen erbaut wurde? Wieso du scheinbar an diesen Ort gebunden bist?“ Er sah sie eindringlich an, suchte etwas in ihren Augen. Er seufzte schwer und ließ von seiner Arbeit ab.
„Sehende Magier können leicht von der Fülle der Magie in ihrer Umgebung überwältigt werden. Der Verstand kann nur bedingt mit solchen Wahrnehmungen zurechtkommen. Da du nur in Menschen sehen kannst, kennst du dieses Gefühl wahrscheinlich als leichte Kopfschmerzen, wenn du in Gesellschaft bist. Für Sehende, die in Dinge sehen können, ist es weitaus schlimmer. Stell dir vor, du wirst in jeder Sekunde mit Blitzlicht und Donnergrollen überschüttet. Kein schönes Leben. Deshalb sind die meisten Sehenden sehr speziell.“
„Warum fühle ich in deiner Gegenwart keinen Schmerz?“
Nioleth tippte sich an den Kopf und sagte, „Wenn du bei einem teilweise Erwachten lernst, eignest du dir mentale Techniken an, um ihn und dich selbst zu schützen.“
Eine Weile herrschte Stille, nur durchbrochen von dem Geräusch, das kochendes Wasser machte. Nioleth zerkleinerte die letzten Pilze und nahm sich die Zwiebeln vor, während Arina in einer gusseisernen Pfanne einen Klecks Butter schmolz. Als das Fett heiß genug war, fügte er die gehackten Zwiebeln und die Erdpilze hinzu. Der Geruch, der sich daraufhin in der Küche ausbreitet, erinnerte Arina daran, wie hungrig sie eigentlich war.
„Es dauert nicht mehr lange, keine Sorge.“ Er gab die Karotten dazu, dann die Erbsen und goss das Ganze mit Wasser auf. Es zischte und brodelte kurz, bis alles bedeckt war, dann meinte er, „Jetzt haben wir einige Minuten Zeit.“ Er setzte sich an den Tisch und deutete ihr, ebenfalls Platz zu nehmen. „Sag mir, Arina, was tust du so den ganzen Tag?“
Arina stockte. Mit dieser Frage hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. „Nun ja, die meiste Zeit verbringe ich damit, mich um den Gemüsegarten zu kümmern, die Landschaft zu pflegen oder kranken Tieren zu helfen. Und natürlich muss ich einmal im Monat das Vollmondfest besuchen, um den Menschen Rat und Hilfe zu gewähren.“ Sie verzog das Gesicht, als sie an die vielen Menschen und den Schmerz in ihrem Kopf dachte. „Und sonst lese ich mich durch Bücher, male Bilder, bereite Arzneien oder singe. Ab und an kommen auch Pilger aus fernen Ländern zu mir. Es ist immer interessant, Dinge aus der weiten Welt zu erfahren.“
Nioleth horchte auf und grinste sie an. „Das muss ich hören!“ Er bewegte die Lippen und eine Geige erschien in seinen Händen. „Welches Lied hättest du denn gerne, mal sehen, ob ich es kenne?“
Sie errötete und sah zu Boden. „Ich habe noch nie vor jemand anderem gesungen. Und mit Musikbegleitung auch nur, wenn ich selbst mit meiner Harfe spiele.“
„Du spielst Harfe?“ Er sprang auf. „Worauf warten wir dann noch, lass uns zusammen musizieren.“
Sie lachte und fragte, „Du? Ein begeisterter Anhänger der Musik?“
„Du hast ein vollkommen falsches Bild von mir.“ Er sah sie gespielt traurig an. Dann hellte sich seine Miene auf. „Sag mir, was ist dein Lieblingslied?“
Arina dachte kurz nach und flüsterte, „Die Nacht der weinenden Sterne.“
Nioleth schloss die Augen, ein tiefer Seufzer verließ seine Kehle. „Du suchst dir ausgerechnet das traurigste Lied der Welt aus, und willst, dass wir das zusammen spielen?“
„Eigentlich ist das Stück für einen männlichen Sänger geschaffen worden. Das heißt, du musst singen.“ Sie streckte ihm die Zunge heraus.
Er verdrehte die Augen. „Frauen.“
Sie schlug ihm gegen den Oberarm. „Nur weil wir gefühlvoll sind, während ihr unsensible Hohlköpfe seid?“
„Du hast Recht, wir sind hohl.“ Sein breites Grinsen wollte ihr gar nicht gefallen. „Allerdings seid ihr manchmal so voller Gefühl, dass ihr euch selbst nicht mehr auskennt und jeden Mann als unsensiblen Hohlkopf bezeichnet.“
Er schnupperte in der Luft, erhob sich und ging zum Herd. Er rührte einmal den Inhalt der Pfanne durch und kostete. „Perfekt.“
„Wieso kochst du eigentlich nicht mit Magie?“
Nioleth nahm zwei Teller zur Hand. „Weil es dann nicht so viel Spaß machen würde.“ Er legte einige Kartoffeln auf den Teller und schöpfte eine Kelle des Gemüseeintopfes daneben.
„Lass uns schlemmen!“

Nach dem Essen saßen sie in Arinas großem Wohnzimmer und blickten nach draußen. Große, dunkle Wolken zogen am Himmel über ihnen dahin, auf dem Weg zu einem weit entfernten Ziel, das niemand kannte. Am fernliegenden Horizont war ein neuerliches Unwetter zu sehen, noch gewaltiger, als das vorherige.
„Nicht schon wieder ein Gewitter.“ Sie seufzte schwer und schmiegte sich an seine Seite. Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
„Keine Sorge, ich bin ja da.“
„Ich weiß.“
Langsam richtete er sich auf und ergriff die Geige, die neben ihm stand. Vorsichtig zupfte er an den Seiten, auf die melodische Geräusche achtend.
„Wollten wir nicht singen?“
„Also jetzt ernsthaft, was bist du für ein seltsamer Mann?“ Sie lachte leise. „Erst kochst du und dann willst du singen. Irgendetwas stimmt nicht mit dir.“
Er grinste sie an, mit einem wölfischen Grinsen. „Ich bin anders, als die meisten, die du kennst.“
„Wohl wahr.“ Sie erhob sich ebenfalls und holte ihre Harfe aus einem Schrank, nahe dem Fenster. Nioleth rückte inzwischen zwei Stühle zurecht, die in Richtung des Fensterns gewandt waren. Arina nahm ein kleines Podest, positionierte es vor ihrem Stuhl und stellte die Harfe darauf.
Er suchte sicheren Stand, legte die Geige an sein Kinn, während Arina sich setzte. „Wer von uns beginnt?“, fragte er.
Als Antwort legte sie die Finger an die Saiten der Harfe. Langsam strichen sie darüber und entlockten dem Instrument die Anfangstöne des Stücks. Die Musik erfüllte den Raum mit einem Zauber, jenseits aller Magie, der tief in die Seelen eines jeden Menschen dringen konnte. Auf ein unausgesprochenes Zeichen hin setzte Nioleths Geigenspiel ein, welches nahtlos an Arinas Melodie anknüpfte. Die Stimmen der Instrumente verschmolzen zu einer Intensität und Tiefe, wie Arina sie nie alleine hätte erschaffen können. Es war ein Gewebe aus Anmut und Kraft, wie es nur die Musik hervorbringen konnte: Stark wie Stein, zart wie ein Rosenblatt.
Doch all dies war nichts im Vergleich zu Nioleths Stimme. Wie eine Donner grollte sie heran, riss Gefühle und Gedanken mit sich und schwemmte sie quer durch Arinas Verstand. Ihr Geist war wie Wachs in seinen Händen, den er mit seiner Stimme beliebig formen konnte. Erst spät bemerkte sie, dass die Worte, die er in unendlicher Harmonie aneinanderreihte auch eine Bedeutung hatten. Und als sie den Sinn verstand, kamen ihr die Tränen.

Jeder Augenblick
den ich dir in die Augen blick
sollte ein Zeitalter dauern
Auf ewig vereint
Werden wir sein
Denn unsere Liebe
besiegt den Tod

Dein Lachen am Morgen
Deine Stimme in der Nacht
Deine Augen in der Sonne
Dein Haar im Wind
Du bist schön wie die Welt
Lieblich und zart
Leidenschaftlich und stark

Sieh nur unsere Kinder
Sie lachen und laufen
Wir hören ihre Rufe
Denn sie sind unsere Liebe
Ein Zeichen unseres Glücks
Das ewig währt





Die Tage werden kürzer
Uns verrinnt die Zeit
Wie Sand in der Hand
Es wird ein Ende geben
Einer wird zuerst scheiden
Einer wird gehen
Wir spüren es

Es kam mit Donnern
Es kam mit Stahl
Blut im Wasser
Fleisch im Laub
Bäume brannten
Häuser unter Rauch
Alles verging in Flammen

Ich suche dich
Ich rufe dich
Niemand antwortet
Nur die Stille
Diese teilnahmslose Ruhe
Ohne Gefühl und Lied
Eine schwarzdunkle Leere

Da war dieses Schwert
Aus schwarzem Metall
Es war so schnell
An meinem Halse
Ein Schnitt und ich schreie
Dein Name wurde verschluckt
Von sprudelndem Blut

Nun bin ich hier alleine
Und du bist dort einsam
Du klagst und weinst
Du trauerst und rufst
Getrennt durch das Leben
Verbunden durch den Tod
Vereint durch Liebe

Jeden Abend singst du
Für unsere Kinder
Sie Vaterlos, du herzensschwer
Deine Stimme dringt zu den Sternen
Und die Sterne hören dich
Hören deinen Schmerz
Und sie weinen.

Weinen mit dir und mit mir

Der letzte Ton hallte nach und mischte sich mit Arinas Schluchzen, das durch ihre vorgehaltenen Hände drang. Nioleth stand mit steinerner Miene da, auch seine Augen glänzten feucht. Er seufzte schwer und ließ Geige und Bogen sinken, dann fuhr er sich übers Gesicht.
„Der Gott der Trauer muss dieses Lied geschrieben haben.“ Arina nahm ein kleines Stofftuch und wischte sich damit die Augen trocken. Scheu lächelte sie Nioleth an. „Das war unglaublich!“
„Allerdings.“ Sein Blick schweifte in die Ferne, während er erzählte, „Die Sänger aus den Goldenen Städten besitzen die mächtigste Stimme, die ich kenne. Allein Kraft ihres Gesangs könnten sie Kriege beenden, Frauen verführen, Könige stürzen oder Familien entzweien. Doch sie nutzen ihre Gabe einzig und allein, um den Menschen Vergnügen und Ablenkung zu bieten.“
„Warum kenne ich sie dann nicht?“
„Vermutlich hat kaum wer aus deinem Dorf, jemals eine Reise von mehr als einem Tagesmarsch unternommen?“
Arina nickte. „Die Dral-Bauern fahren als einzige einmal im Jahr nach Kronenfels, um dort mit unseren Erzeugnissen zu handeln.“
„Und was ist mit dir?“
„Bisher hatte ich immer Angst, ich würde meine Macht verlieren, oder von fremden Menschen, die mich fürchten, gefangen genommen werden.“ Sie sah ihn erneut an. „Dank dir weiß ich nun, dass diese Sorgen unbegründet waren.“
Er schüttelte den Kopf, doch lächelte dabei. „Keineswegs. Die Welt ist gefährlich und hart. Nicht überall triffst du auf Menschen, wie die aus deinem Dorf. Habgier und Machthunger haben viele Menschen verdorben, in den Städten mehr, am Land weniger. Generell ist es so, umso mehr Kontakt mit der restlichen Welt besteht, desto mehr verfallen die alten Tugenden.“
„Also ist es gut, dass wir so abgeschieden leben?“
„Ja, es ist besser für euch.“
Arina sah lange aus dem Fenster, blickte auf Blätter, die im auffrischenden Wind umhertanzten, und meinte, „Ich will sie trotzdem sehen.“
„Dann werde ich sie dir zeigen.“ Nioleth ergriff ihre Hand. Draußen war ein Donner zu hören und eine Regenwand näherte sich ihnen. „Die Wunder, die unsere Welt bereithält, übersteigen deine Vorstellung.“

Die Nacht verbrachten sie zusammen, jedoch nicht beim wilden Toben in Arinas Gemächern, sondern in der Stille der Nacht, unterm sternenklaren Himmel. Nebeneinander schritten sie über das kühle, regennasse Gras, atmeten die feuchte Luft und spürten die Nähe des anderen. Aus weiter Ferne drang noch immer das Grollen des Donners zu ihnen und vereinzelt flackerte ein einsamer Blitz in der Dunkelheit.
„Weißt du, wie sehr ich diese Stille liebe?“ Nioleth schloss die Augen und blieb stehen. „Da kann man sich selbst am besten hören. Das Nachdenken fällt dann so leicht.“
„Ich verstehe, was du meinst.“ Sie führte ihn zu der kleinen Steinbank neben ihrem Kräutergarten. Ihr Blick fiel auf eine Nachtminze, die im Sternenlicht bläulich schimmerte. Sie zupfte einige der Blätter ab und bot Nioleth welche an. Er lächelte und nahm sich eines.
„Nachtminze schmeckt wie ein eisiger Windhauch, der in dein vom Kaminfeuer gewärmtes Zimmer weht. Er ist angenehm und zugleich möchte man am liebsten das Fenster schließen.“ Schon hatte er sich das Blatt in den Mund gesteckt und kaute darauf herum. Seine Augen weiteten sich und er musste husten. „Die ist ziemlich stark.“
Arina kicherte. „Eigenanbau.“
Nioleth lachte hustend. „Du solltest mal das Eisblatt der Kreideinseln probieren. Man hat das Gefühl, es gefriere einem der Mund. Und dann noch der Schnaps, den sie daraus machen.“ Er lächelte verträumt. „Ein Schluck davon am Morgen, und der ganze Tag wird wunderbar.“
„Eigentlich vermeide ich es, Alkohol zu trinken.“
„Dann entgeht dir aber eine Gabe der Zivilisation.“
„Ich erlebe bei jedem Vollmondfest betrunkene Männer, die grölend auf Tischen tanzen oder arme Mädchen belästigen.“ Sie verzog abfällig das Gesicht, als sie an den Dreck und den Gestank dachte.
„Deshalb betrinkt man sich immer mit Anmut und Eleganz.“ Er zwinkerte ihr zu, noch immer auf der Nachtminze herumkauend. „Das ist oft das einzige Mittel, die schier unendlich langweiligen Adelsempfänge zu überstehen. Außerdem wird es um einiges amüsanter, wenn man einen Edelmann als Eselmann bezeichnet.“ Er lachte vergnügt, wie ein kleines Kind.
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du bei einem Treffen von Adeligen teilnimmst.“
Er legte den Kopf schräg. „Hast du schon einmal einen Adeligen gesehen?“
„Nein“, gestand sie. „aber ich habe eine Menge Geschichten gehört, von Adeligen, die ausziehen, um mit Schwert und Ross eine gefangene Jungfer zu retten.“ Sie sah entzückt zu den Sternen.
„Und das glaubst du?“, fragte er entgeistert
„Ich glaube daran ebenso fest, wie ich glaube, dass der Himmel aus Bier besteht.“ Sie lachte.
„Das würde mir gefallen!“ Nioleth sprang auf. „Stell dir vor, die Wolken aus Bierschaum, der Regen goldgelber Gerstensaft. Das wäre eine schöne Welt.“ Er brach in Gelächter aus, hustete und setzte sich wieder zu ihr.
Arina streckte ihm die Zunge heraus, dann sie zum Mond hinauf. „Morgen ist schon Vollmond.“ Sie seufzte. „Schon wieder dieser Lärm und das Chaos.“
„Schon wieder Alkohol.“ Nioleth verzog genüsslich die Lippen
Sie stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. „Du bist unglaublich.“
„Ich weiß.“

Am nächsten Morgen blinzelte die Sonne zaghaft über den Horizont, von goldgelber Farbe und von roten Wolken umrahmt. Die hellen Strahlen drangen durch den dünnen Vorhang von Arinas Gemächern und kitzelten sie im Gesicht. Murrend bedeckte sie sich die Hand mit den Augen, neben ihr rührte sich Nioleth.
„Und ich wollte bis zum Zenit schlafen.“ Gähnend und sich streckend stand er auf. „Aber wenn der Tag ruft, sollte man lieber aufwachen.“
Arina zog sich das Laken übers Gesicht.
„Ich will nicht aufstehen“, drang es unter dem Stoff hervor. „Denn dann muss ich zu diesem verblödeten Fest.“
Er strich ihr über die Wange. „Aufstehen, Sehende. Ich will dir etwas zeigen, womit es dir beim heutigen Fest besser geht.“
Sie schob sich langsam unter der Decke vor und sah ihn verwundert an. „Was willst du mir den beibringen?“
„Wie du deinen Geist auf einen Menschen fokussierst oder gar komplett verschließt.“ Er lächelte. „Ich bin zwar kein Sehender, aber ich kenne schon einige geistige Übungen, die dir helfen können.“
„Zum Beispiel?“
„Gedulde dich noch bis nach dem Frühstück“, forderte er sanft. Er ging zu seinen Kleiderstapel, blieb dann aber stehen. Er sah an sich herab, schloss die Augen und flüsterte etwas.
Augenblicklich verfestigte sich die Luft um ihn und mit einem leisen Zischen legte sich ein grünes Wams, eine dunkelbraune Hose und lederne Stiefel um seinen Körper. Er nickte zufrieden und strahlte die finster dreinblickende Arina an.
„Angeber.“
Er lachte und verließ den Raum, um ihr Gelegenheit zu geben, sich anzukleiden. Sie ging zu ihrem Schrank. Während sie ihre Gewänder durchging, kaute sie an ihrer Lippe und überlegte, was sich eigentlich über Nioleth wusste: Er war ein Magier, wie sie, aber doch anders, er kam aus einer weit entfernten Stadt, ist viel gereist, kann kochen und singen.
Doch dann kam ihr in den Sinn, was sie alles nicht wusste. War er verheiratet, hatte er Kinder, war er ein Verbrecher, wo wurde er geboren, was arbeitete er?
Es waren Fragen, so viele Fragen, die sich da in ihren Verstand drängten. Fragen, die nach einer Antwort verlangten.
Sie wählte schnell ein schlichtes Kleid aus hellgrünen Stoff aus, das mit feinen Stickereien verziert war. Kaum hatte sie es sich übergeworfen, lief sie die Stufen nach unten in ihr Wohnzimmer.
Außer Atem kam sie vor Nioleth zum Stehen und durchbohrte ihn mit einem Blick, der ihn erstarren ließ.
„Ich spüre, dass dich etwas sehr Wichtiges beschäftigt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es hören möchte.“ Er wirkte zum ersten Mal, seit sie ihn kennen gelernt hatte, verunsichert.
„Wer bist du?“, flüsterte sie.
Sie merkte, wie er sich entspannte. Sein Gesicht erhielt diesen unbeschwerten Ausdruck und das Lächeln in den Augen zurück, wie es ihm eigen war.
„Diese Frage hatten wir doch schon einmal?“ Er sah sie fragend an.
Arina nickte. „Aber diesmal will ich alles wissen.“ Sie machte eine Pause. „Woher kommst du? Hast du Familie? Bist du mit dem Gesetz auf gutem Fuß? Womit verdienst du dein Geld?“ Sie senkte den Blick und wrang ihre Hände. „Gibt es eine Frau in deinem Leben?“
Nioleth deutete auf die Sitzbank. „Das wird länger dauern, also bitte setz dich.“ Er murmelte etwas und auf dem Tisch erschienen zwei Becher mit einem dampfenden Getränk, sowie ein Teller mit Keksen.
„Ich habe gedacht, du kochst nicht mit Magie?“
„Von Backen war nie die Rede.“ Er grinste breit und nahm sich einen Keks. „Schnell, sie sind noch warm.“

„Ich bin Nioleth, geboren in den Wäldern südlich von Grünflussseemündung.“
„Was ist Grünflussseemündung denn für ein Name für eine Stadt?“
Er sah sie verstimmt an. „Darf ich zu Ende erzählen, bevor du mich mit Fragen löcherst?“
„Verzeihung“, sagte Arina verlegen.
„Grünflussseemündung ist der Name für eine Waldreichstadt, sie beschreibt den Ort, so dass ein jeder sie finden kann. Dort, wo der Grünfluss in den großen See mündet, schmiegt sie sich an das Ufer. Sie ist ein Sinnbild für eine Waldstadt. Die Häuser sind in den Wald eingepasst, kleine Wasserläufe und Teiche, mit Fröschen und Libellen prägen das Stadtbild. Überall ist der Boden von bunten Blume übersäht, die von geschäftigen Bienen angeflogen werden. Vogelgesang und Wassergeplätscher dringen aus allen Winkeln der Stadt zu dir, du fühlst dich so lebendig wie selten zuvor. Ich lebte zusammen mit meinen Eltern und meinem großen Bruder am Stadtrand. Du musst wissen, mein Bruder war ein Sehender, der in menschengemachte Dinge sah. Deswegen wohnten wir so weit entfernt, von den anderen Menschen. Mein armer, großer Bruder. Sein Geist war den Anfällen vollkommen hilflos ausgeliefert. Eines Tages war es so schlimm, dass er in den Wald floh, weit weg von allen Menschen. Seit damals habe ich ihn nie wieder gesehen. Meine Eltern hat das Verschwinden meines Bruders sehr getroffen und sie trennten sich bald darauf. Ich ging mit meiner Mutter, die sich entschloss das Waldreich zu verlassen. Lange Zeit zogen wir von Ort zu Ort, immer auf der Suche nach einer Bleibe, die zu uns passt. Während dieser Reisen entdeckte ich, dass ich ein Sprechender war. Anfangs war es nur ein Flüstern im Schlaf, hat mir meine Mutter erzählt. Ich sprach in fremden Worten und das Lagerfeuer schwoll an, oder ein Windstoß kam daher. Sie wollte es zwar nicht sagen, aber sie hatte Angst vor mir. Das Waldreich hat aus irgendeinem Grund nur selten Sprechende hervorgebracht, Sehende waren bei uns zuhause unverhältnismäßig häufig.
Schließlich lernte ich mit Hilfe eines Buches die wichtigsten Zauber. Damit konnte ich das Leben meiner Mutter und mir sehr vereinfachen. Ich konnte Feuer machen, Regen fernhalten und andere nützliche Dinge. Aber ich schweife ab.
In der Stadt Somreif, ja wir sind bis zu den Klifflanden gewandert, fanden wir eine neue Heimat. Ich war nun zwei Jahre älter. In Somreif begannen wir langsam unsere Existenz aufzubauen. Ich half den diversen Handwerken und erledigte Kleinigkeiten, wie Wasser schleppen oder Botengänge. Meine Mutter erwarb sich mit viel Geschick eine Position als Gärtnerin im Hause des Bürgermeisters. Wie du wohl weißt, sind wir Waldreichleute die besten Gärtner, die es gibt. Die Jahre vergingen und ich vergaß die Magie. Ich lernte verschieden Handwerksberufe, meine Mutter wurde eine angesehene Frau in der Stadt. Die Leute mochten uns, wir hatten Freunde und Bekannte überall. Unser Leben war wunderbar… Bis zu jenem Tag im Spätherbst, als das Laub übers Pflaster tanzten, die Wolken dunkle Schatten warfen, die kalte Gischt Somreif einhüllte… Und Blut an meinen Händen klebte.“

Es klopfte laut.
Arina schreckte hoch und warf ihre Tasse um. Lauwarmer Tee ergoss sich über den Tisch und tropfte Nioleth zwischen die Beine.
„Sehr schön.“ Er verzog das Gesicht. „Was sollen deine Gäste denken?“
„Sie werden gar nichts denken, weil du dich jetzt verstecken wirst!“ Sie deutete auf die Tassen, dann auf die Kekse und schließlich auf Nioleth. „Könntest du mit diesem Zeug bitte verschwinden!“
Ein erneutes Pochen drang von der Tür zu ihnen.
„Ich bin gleich da.“
Nioleth murmelte etwas und das Teegeschirr verschwand. Arinas gereckte Faust war es schließlich, die ihn dazu brachte, nach oben zu verschwinden. Als Rache sandte er eine kleine, unwirkliche Flamme gegen sie, welche sich eine Handspanne vor ihrem Gesicht auflöste.
„Arina ist alles in Ordnung?“
Die Stimme gehörte Wimadua, einer der Bauersfrauen aus dem Dorf. Sie hörte sich wahrlich besorgt an.
„Vielleicht ist sie gerade im Wald?“, meinte eine zweite Frau.
Auch diese erkannte Arina sofort. Kissanda, eine äußerst religiöse Person, die Arina wegen ihrer Gabe zutiefst verehrte. Sie war stets bemüht, Arinas Gunst zu erringen. Doch die fand dies nur überflüssig.
Vorsichtig schickte Arina zwei fühlende Gedanken los und las in den Köpfen der Frauen. Sie waren besorgt, ob ihre heilige Frau in dem Unwetter vielleicht verletzt worden war. Kissanda hatte zum Frühstück ein Honigbrot gegessen, Wimadua hatte ihren Ehemann am heutigen, noch jungen Tag schon zweimal betrogen.
Arina zog sich zurück, derlei Erinnerungen interessierten sie kaum. Sie sah sich in den Silberspiegel neben der Haustür, befand sich als schicklich und öffnete die Tür ruckartig.
Wimadua hätte ihr beinahe auf die Nase geklopft. Ihr sonnengegerbtes Gesicht zeigte Überraschung und sie ließ schnell die Hand sinken. Sie war annähernd vierzig Jahre alt, doch die harte Arbeit am Land, ließ sie wie fünfzig aussehen. Dass sie trotzdem eine der hübschesten Frauen im Dorf war, sprach Bände. Ihre Haare waren von einem schmutzigen, glanzlosen Dunkelblond, ihre Augen hatten dafür die Farbe von Bernstein. Sie war nicht dick, aber auch nicht schlank, sondern war von stämmiger, abgehärteter Statur. Obwohl sie an ihrem Finger einen silbernen Ring als Zeichen einer Ehe trug, war sie eine untreue Frau.
Kissanda stand einen Schritt hinter Wimadua und reckte den Hals, um über die Schulter der größeren Frau zu spähen. Sie war schon beinahe sechzig, hatte einen dürren, ausgemergelten Körper und die Haut hing ihr in Falten herab. Das spärliche Haar war von einem gefleckten Tuch bedeckt, nur eine einzige weiße Strähne lugte an ihrem Scheitel hervor. Sie trug ein schlichtes Gewand aus grauen Leinen und hatte eine Kette um den Hals, die ein Anhänger mit dem Symbol der neunundneunzig Götter zierte.
„Guten Morgen, meine Freunde.“ Arina strahlte gespielt und sah die beiden Frauen an. „Wie geht es euch?“
Kissanda und Wimadua tauschten einen raschen Blick, dann fragte Kissanda zögerlich, „Weißt du das nicht bereits?“
Arina schmunzelte. „Hat dir dein Honigbrot geschmeckt?“
Kissanda lachte. „Ja, das hat es, heilige Frau!“
„Das freut mich.“ Sie drehte den Kopf zu Wimadua. Die Frau wusste, dass Arina ihre Gedanken gelesen hatte, doch es war ihr einerlei. „Dein Morgen war auch von Freude geprägt.“
Die ältere Frau grinste schelmisch und neigte den Kopf. „Gewiss, edle Arina.“
Arina schüttelte den Kopf und führte die Beiden hinein.
„Kann ich euch irgendetwas anbieten?“, fragte die Seherin, bemüht eine gute Gastgeberin zu sein, während die Frauen im Wohnzimmer Platz nahmen.
„Eine Tasse Tee wäre ganz nett“, meinte Kissanda lächelnd. „Vielleicht von deinem guten Himbeerkraut.“
„Hast du vielleicht Kekse oder so etwas hier?“ Wimaduas Blick harrte bedeutungsvoll auf den Krümeln am Tisch.
Verdammt.
„Wenn ich sie nicht schon alle aufgegessen habe, besteht durchaus die Möglichkeit.“ Sie machte kehrt und ging in die Küche.
Dort angekommen sah sie sich um. Der Tee war in der Blechdose, das war kein Problem. Schnell stellte sie einen Topf Wasser auf den Herd und begann ein Feuer zu schüren. Das Holz brannte schnell, das Wasser kochte alsbald darauf. Sie goss es in drei Tassen und gab in jede einige getrocknete Blätter von weinroter Farbe, die sie zuvor in ihren Händen zerrieb. Sofort roch es in der ganzen Küche, wie auch von Arinas Händen nach fruchtigen Himbeeren.
Sie nahm ein Tablett, legte einige trockene Zimtkekse vom vorherigen Jahr darauf und balancierte es zurück in das Wohnzimmer. Kaum trat sie durch die Tür, als von oben ein dumpfes Poltern erklang. Gleich darauf folgte ein leiser Fluch.
„Dieser verdammte…“, begann Arina flüsternd. Sie fand Wimadua und Kissanda stocksteif sitzend vor, beide sahen zur Decke.
„Das war wohl nur der Wind, der ein Fenster zugeschlagen hat“, versuchte Arina die Situation zu erklären. Der Tee auf ihrem Tablett zitterte. Wie würden die beiden wohl reagieren?
„Das war bestimmt ein Dämon, der in dein Haus eingedrungen ist, weil er deine Seele und deine Gabe verspeisen will.“ Kissandas Finger schlossen sich um ihren Anhänger und sie begann die neunundneunzig Gebete zu rezitieren.
„Un’Aman, Großer Vater, beschütze mich. War’Widan, Große Mutter, führe mich.“
Wimadua warf der betenden Frau einen abfälligen Blick zu und fixierte dann Arina. Sie entdeckte wohl etwas in ihren Augen, denn ein breites Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. Arina wusste ohne ihre Gedanken zu lesen, dass sie die richtigen Schlüsse gezogen hatte.
Flehend sah Arina zu ihr, Verzweiflung machte sich in ihr breit. Wimadua verdrehte die Augen, doch sie hielt sich zurück.
Erleichtert wandte Arina sich Kissanda zu, die inzwischen schon bei dem zehnten Gebet angekommen war.
„Keine Sorge, da ist kein Dämon, ich spüre rein gar nichts.“ Sie lächelte beruhigend und stellte den Tee auf den Tisch. „Schnell, er ist noch warm.“
Kissanda verstummte, sah Arina an und neigte den Kopf. „Die Heilige Frau, hat Recht. Was sollte den in dieses Haus Böses eindringen.“
„Richtig.“
Sie nahmen sich jeder eine Tasse und pusteten, um ihn abzukühlen. Der Dampf, der aufstieg, drang ihr in die Augen, wo er schrecklich brannte. Sie zwinkerte ein paarmal heftig. Zwischen zwei Lidschlägen glaubte sie, Nioleth auf der Treppe zu sehen, wie er sie anlächelte, doch im nächsten Moment war er weg. Erschrocken zuckte sie zusammen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Kissanda ehrlich besorgt, während Wimadua mit ihrem gesamten Köper grinste. Glücklicherweise hegte Kissanda nicht den geringsten Verdacht, das spürte Arina.
„Ja, keine Sorge“, beschwichtigte Arina.
Die Frauen plauderten noch eine Weile über allerlei Belanglosigkeiten, wie das Wetter, die Steuern und die Ernte. Die ganze Zeit über sah Wimadua Arina mit einem vielsagenden Blick an und zwinkerte ihr sogar einmal zu.
Endlich erhob sich Kissanda. „Es war mir wie immer eine Ehre, mit dir zu sprechen, heilige Seherin.“ Sie verneigte sich. „Wir sehen uns heute Abend beim Sonnwendfest, Tochter Kir’mos, der Sonnenspäherin.“
Arina verabschiedete sich von beiden und atmete auf, als sie die Tür hinter ihnen schloss.
„Diese Kissanda ist eine sehr gläubige Frau.“
Arina erschrak. Sie sah sich in dem Zimmer um, konnte aber niemanden entdecken.
„Nioleth?“, fragte sie vorsichtig.
Ein Flimmern tauchte vor ihr auf, wie über ihrem Haus an einem heißen Sommertag. Aus der glitzernden Spiegelung schälten sich die Umrisse Nioleths. Grinsend klopfte er sich weiß glühende Funken von der Kleidung, die anschließend wie verirrte Glühwürmchen durch das Zimmer schwebten.
„Du kannst dich unsichtbar machen?“ Arinas Kinnlade sank herab. Sie wusste zwar kaum etwas über andere Magie, aber ein Gefühl sagte ihr, dass es sich bei Nioleth um einen sehr mächtigen Sprechenden handeln musste.
„Unsichtbar.“ Er schüttelte den Kopf. „Eher aus eurer Sinneswahrnehmung verschoben. Es ist ein kleiner Unterschied, aber ein wichtiger.“
„Ich verstehe nicht…“
„Du konntest mich nicht wahrnehmen, oder?“ Er sah sie fragend an, allerdings spürte Arina, dass er ihre Antwort schon kannte.
Sie schüttelte den Kopf, was er mit einem Nicken quittierte.
„Unsichtbar bedeutet, sich für jegliches Licht durchscheinend zu machen, was eine komplette Umstrukturierung deines Körpers verlangt. Die Zauber, die dies bewerkstelligen, füllen ein ganzes Buch und sind noch dazu im höchsten Maße gefährlich. Ein kleiner Fehler und dein Körper endet als Pfütze, Wolke oder verschwindet gar komplett.“
„Was ist, wenn man sich an den Hintergrund anpasst?“, fragte Arina nach kurzem Überlegen.
„Das würde heißen, dass dein Körper dieselben Farben wie der Hintergrund ausstrahlen muss. Der Zauberspruch hierfür ist nur unmerklich kürzer, als der erste.“ Er machte eine kurze Pause. „Es ist oft einfacher menschliche Sinne zu beeinflussen, bevor man an den Naturgesetzen herumschraubt.“
„Wieso gibt es dann überhaupt noch reale Magie, wo jeder Magier, doch einfach die Sinne eines anderen manipulieren kann?“
Nioleth lachte. „Einfach würde ich es nicht nennen, nur wenige Magier sind dazu in der Lage. Außerdem ist unser Verstand nicht dumm.“ Er tippte sich an die Schläfe. „Innerhalb einiger Minuten hat er jede noch so gute Maskerade durchschaut und aufgedeckt.“ Er verzog die Mundwinkel zu einem wölfischen Grinsen. „Es ist sowieso ein weitaus mächtigeres Gefühl, mit echten Flammen um sich zu werfen, als mit einer bloßen Illusion.“
„Männer“, seufzte Arina.
„Du würdest dich wunder, wie sich weibliche Sprechende manchmal verhalten. Sie fliegen durch die Lüfte, schleudern Blitz und Feuer, zerschmettern Erde und Stein. Ein überaus machtvoller Anblick.“ Nioleth sah sie an. „Und all das nur, weil ein Liebhaber sie verschmäht hat.“
„Das klingt aber sehr überzogen.“ Sie wusste nicht, ob er die Wahrheit sagte, aber sie gab ihm Recht. Eifersucht und Wut sind starke Gefühle.
„Gut, das mit dem Fliegen hab ich erfunden.“ Er grinste. „Sie hat zu Fuß nach mir gesucht.“
„Nach dir?“ Arina machte große Augen.
„Ja, und es stellt sich heraus, dass sie sehr gereizt reagiert, wenn man sich ihrem Werben gegenüber gleichgültig zeigt.“
„Schwer zu glauben, dass du ihr nicht nachgegeben hast.“ Sie kniff ihm in den Oberarm.
Er hob entschuldigend die Arme, lächelte aber. „Es ist nicht schwer, einer faltigen, alten, unglaublich männlich gebauten Frau den Laufpass zu geben. Anschließend hieß es, Beine in die Hand nehmen und laufen, bis man nicht mehr kann.“
„Wieso hast du dich denn nicht gewehrt? Du scheinst ein sehr mächtiger Magier zu sein.“
„Ich bin kein Kriegsmagier. Sie war bis zu diesem Zeitpunkt jedoch oberste Kampfmagierin in der Reichsstadt. Sie verbrannt in ihrer Wut die Felder und Obsthaine vor der Stadt, was die Bauern dazu brachte, gegen den Kaiser zu marschieren.“ Ein Schatten verdüsterte sein Gesicht. „In ihrem Zorn zündeten die Bauern die Reichstadt an, töteten Soldaten und Magier, bis die Legionen jeden Bauer im Umkreis eines Tagesrittes gefangen genommen und hingerichtet hatte.“
Arinas Kinnlade sank herab. Ihre Stimme zitterte, als sie fragte, „Du bist schuld an der Nacht der Flammen?“
„Glaub mir, hätte ich gewusst, dass es soweit kommen würde, hätte ich bereitwillig mit der Frau das Lager geteilt. Aber was geschehen ist, ist geschehen. Es hat keinen Sinn sich die Schuld daran zu geben.“ Seine Stimme wurde leiser, seine ganze Körperhaltung sackte in sich zusammen. „Ich war mittendrinnen, mit tränenüberströmten Gesicht habe ich versucht, die Bauern aufzuhalten. Ich habe gebettelt und gefleht, aber sie wollten nicht auf mich hören.“ Er hob den Kopf und sah sie mit verzweifeltem Blick an, der ihr tief ins Herz schnitt. Instinktiv legte sie ihre Arme um ihn. „Als sie dann gegen Menschen vorgingen, entschied ich mich, allen zu helfen, denen ich helfen konnte. Ich machte keinen Unterschied, wen ich behandelte, sondern heilte jeden, so gut ich konnte.“
„Du hast das Richtige getan.“ Sie legte eine Hand an seine Wange und drehte seinen Kopf so, dass er ihr in die Augen schauen musste. Tränen glänzten in seinen Augenwinkeln. „Ich glaube, kaum jemand wäre dort geblieben.“
Er lächelte schwach und drückte ihre Hand kurz. „Danke, Arina. Als die Nacht vorbei war, bedeckte eine Schicht getrocknetes Blut mich von oben bis unten. Als die Legionen gegen die Aufständischen vorgingen, schlüpfte ich durch ihre Linien und entkam in den Norden.“
„Was geschah mit der Magierin?“
„Ihr wurde die Hauptschuld daran gegeben. Der Kaiser befahl, ihr Arme und Beine abzuhacken, jedes Fleckchen Haut mit heißen Eisen zu verbrennen und ihr heißes Öl zu trinken zu geben. Ihre Schrei waren drei Tage lang zu hören, ehe sie starb.“
Ein Schaudern überkam Arina. Sie hatte von der Grausamkeit des Kaisers gehört, allerdings war seine Macht in diesem weit entfernten Teil des Reiches begrenzt. Mehrere Tagesreisen von der nächsten größeren Stadt entfernt, genoss ihr Dorf eine gewisse Freiheit. Der Bürgermeister war der Regierung des Kaisers zwar treu ergeben, aber er legte die Gesetzte meist etwas lose aus. Die Soldaten in ihrem Dorf, waren Nachbarn der Arbeiter und so gab es nur freundschaftlichen Umgang miteinander. Sie zahlten ihre Steuern, leisteten Abgaben ihrer Erträge und schickten jedes zweitgeborene Kind in die Reichsstadt. Solange sie diesen Pflichten nachkamen, gab es nichts zu befürchten.
„Bin ich froh, dass wir so weit vom Kaiser entfernt leben.“
„Seit der Nacht der Flammen ist das Leben im Reich schwerer geworden. Die Bauern haben kaum mehr Rechte, jeder Zweitgeborene wird Priester und die Steuern sind angehoben worden.“ Er blickte aus dem Fenster, zu den schattenhaften Umrissen des Dorfes. „Irgendwann wird sein Blick auf dieses Stück Land fallen.“
„Dann lass uns hoffen, dass dieser Tag noch in weiter Ferne liegt.“
„Du hast als heilige Frau nichts zu befürchten, doch die Frauen wie Wimadua werden von den Schwertpriestern wohl harte Strafen zu erwarten haben.“ Er verzog die Mundwinkel. „Das kann es auch nur in dem Kaiserreich geben. Bei uns im Waldreich glaubt man zwar auch an die neunundneunzig Götter, aber niemand wird gezwungen ihre Gebote einzuhalten. Man ist für seine Seele selbst verantwortlich.“
„Dein Meister hat dir doch erzählt, dass er denkt, bei den Göttern handle es sich um erwachte Magier“, erinnerte Arina ihn.
„Ja, das war seine Idee. Ob Göttlichkeit mit Magie zusammenhängt, weiß kein Sterblicher.“ Er überlegte kurz. „Ihre Namen leiten sich allerdings von einigen mächtigen Zaubersprüchen ab.“
„Ich möchte dich etwas fragen“, begann Arina. Nioleth horchte auf. „Wieso flüsterst du deine Zaubersprüche immer?“
Er sah sie unsicher an. „Erlaubst du dir einen Spaß mit mir?“
„Das würde ich in dieser Sache nie wagen.“
Er bewegte den Mund als würde er schreien, doch sie bekam nur ein leises Gemurmel mit, das im Raum umhersäuselte. Sie schüttelte den Kopf.
„Das heißt du hörst die Worte wirklich nicht?“ Er wirkte fassungslos.
„Ist das so verwunderlich?“
Zerknirscht nickte Nioleth. „Normalerweise ist jeder Magier in der Lage, Zauber zu hören. Egal ob Sprechender, Sehender oder Hörender, wir alle werden durch die Magie vereint.“
Plötzlich hielt er inne, als sei ihm ein brillanter Geistesblitz gekommen. Er raunte einen Zauber, dessen reines Aussprechen beinahe eine Minute dauerte. Sofort auf das letzte Wort folgte die Reaktion.
Um Arina begann die Luft zu flimmern und zu leuchten. Eine Wolke purer Magie umgab sie, wie sie staunend feststellte.
„Irgendjemand hat dich verzaubert, so dass du keine Zaubersprüche mehr wahrnehmen kannst. Das ist ein sehr mächtiger Bannspruch.“ Er studierte die magische Aura um Arina, indem er die Augen schloss und mit den Fingern den Zauber berührte. Dann lächelte er. „Ich denke, ich kann ihn brechen.“
„Wird mir auch nichts passieren?“, fragte sie unsicher.
Er sah ihr in die Augen. „Das würde ich niemals zulassen.“
Nioleth trat einen Schritt zurück, breitete die Arme aus und begann einen Zauber.
Zuerst war es nur das übliche, undeutliche Gemurmel, das Arina bereits gewohnt war. Langsam änderte sich jedoch ihre Wahrnehmung. Sie begann, einzelne Buchstaben, später ganze Wörter herauszuhören. Die Sphäre aus Magie, die sie umgab, leuchtete heller, bis sie bei Nioleths letzter Silbe in tausende Teile zerbarst.
„Nun bist du wahrhaftig frei“, sagte Nioleth freudig.
Arina sah sich um. Sie konnte keinerlei Veränderung wahrnehmen, obwohl sie sich leichter fühlte als zuvor.
„Zeig es mir!“, verlangte sie mit sanfter Stimme.
Nioleth lächelte und sprach, „Uve may olo nie suma vel thain!“
Ein Windstoß fegte durch das Zimmer, zerzauste Arina das Haar. Dann mischten sich bunte, herrlich duftende Blumen in die Wirbel des Windes und vollführten in dem Zimmer einen Tanz wie aus einem Traum.
„Smilo ven!“
Die Blumen verwandelten sich in Schmetterlinge, die mit stillen Flügelschlägen auf Arinas Armen landeten. Ihre Berührungen kitzelten sie an der nackten Haut ihrer Hände.
„Wunderschön“, hauchte sie, ehe sie die Tür öffnete und die Tierchen nach draußen entließ.
sturmfeder ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.02.2014, 00:25   #9
gummibaum
 
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Hallo sturmfeder,

mir ist das im Augenblick zu viel Text. Aber, was ich -mehr überfliegend -gelesen habe, ist weiterhin gut.

LG gummibaum
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