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Alt 26.05.2010, 22:03   #1
männlich Harlekin
 
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Standard Wenn Blicke töten könnten

Für Ralfchen




Obwohl die Fenster des Klassenzimmers weit offen stehen, wird es nicht kühler - wahrscheinlich arbeiten die Heizungen noch.
Um mich herum herrscht reges Treiben, das sich langsam abzubauen beginnt, als der Lehrer flanierenden Ganges den Raum betritt.
Noch während die Klausur ausgeteilt wird, beginnen sich hier und da die ersten Stirnrunzler breit zu machen. Sobald auch das letzte Getuschel abgeflaut, die letzte Unterrichtsmappe vom Tisch in den Ranzen gestopft und der letzte Schüler seine Klausur vor sich liegen hat, schalte ich meinen MP3-Player aus.
Die Wahrscheinlichkeit, dass diese neunzig Minuten für mich gut ausgehen, liegt irgendwo zwischen der Tatsache, dass ich Wasser in Wein verwandel und der Möglichkeit, dass das alles nur ein böser Traum ist. Dennoch überfliege ich das Themengebiet kurz:
IR-Spektren, Photometer, Zweitsubstitution am Aromaten. Naja, es hätte schlimmer kommen können, wenn ich bedenke, dass ich mir den Stoff nicht noch einmal zu Gemüte geführt habe. Allerdings war Fortuna heute Nacht nicht auf meiner Seite, denn obwohl alle Fenster geöffnet gewesen sind, war die Luft stickig und ein schwüles Klima hat mich bis in die frühesten Morgenstunden wach gehalten - anderthalb Stunden Schlaf.
Erschöpft klammert sich meine schwitzige Hand an den Kugelschreiber und meine müden Augen suchen nach eben jenen Aufgaben, die ich wohl bestehen werde. Nach den ersten dreißig Minuten überlege ich abzugeben, nach Hause zu gehen und mich für den Rest des Tages hinzulegen. Dabei wandert mein Blick zum geöffneten Fenster, durch das die Töne eines Singvogels, der nach bestem Vermögen sein zartes Stimmchen erhebt, schweben.
Was sich meinem Blick bietet, leistet keine noch so hochauflösende Kamera:
Die Sonne taucht das saftige Grün der Blätter in ein weiches, honig-goldenes Licht. Sanft wiegen sich die Äste im lauen Wind; harmonisch zum Takt des kleinen Vögelchens, das unbeschwert vom, durch die Luft sirrenden, Zweig sein Liedchen trällert. Für diese Komposition gäben Kunstsammler ein Vermögen.
Jäh zerbricht das gläserne Bild. "Nein!", möchte ich schreien, aber kein Laut entfährt meinen Stimmbändern. Ich starre durch den Klassenraum, suche die kahlen Wände, den matschgrauen Linoleumboden, die flackernden Deckenlampen ab und komme zwei Tische weiter zum Stillstand.
Vor Wut schnaubend, reißt eine Mitschülerin, darauf bedacht möglichst viel Krach zu erzeugen, ein Blatt aus ihrem Block.
Mit versteifter Körperhaltung und haßerfülltem Gesichtsausdruck finden ihre Augen den unschuldigen Lehrer.
Am Liebsten würde ich aufstehen, ihr eine schallernde Ohrfeige verpassen und mich bedanken:
Ich danke dir, du Niete! Was kann ich denn dafür, dass du nicht dazu fähig bist für eine Klausur zu lernen?! Jetzt guck nicht so doof - ernsthaft - wie dämlich kann ein einzelnes Individuum eigentlich sein?! Du hattest vier gottverdammte Tage Zeit, an denen du nicht zur Schule musstest! Das hast du super gemacht."
Doch dieser Wunsch bleibt nur ein Teil meiner Fantasie und das ist vielleicht auch besser so. Aber wie oft ich auch versuche meine Fantasie auf das kleine Vögelchen und den Baum zu lenken - es will mir nicht gelingen.
In meiner Welt ist die Klassenarbeit schon jetzt beendet.
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