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Alt 22.04.2010, 23:55   #1
männlich Harlekin
 
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Beiträge: 57


Standard Der Frühling oder Die Relativität der Zeit

Der Frühling
oder
Die Relativität der Zeit



„Mann, es ist Frühling,
und ich sitze hier,
nach Mittags um vier.
Und darf nun einen Text verfassen,
vom Wesen des Frühlings,
dem Sonnenschein,
der Art den Vögeln zu lauschen,
und sich am Duft der blühenden Blumen zu berauschen.“

So, oder so ähnlich, würde ich diesen Text wohl beginnen, wenn ich ihn Gedichtform präsentieren würde. Das Thema soll „Mann, es ist Frühling!“, sein.
Immerhin ist es das kleinere Übel, wenn ich bedenke, dass meine Alternative ein Text zum Thema „Die Welt aus dem Blick eines Frühstückeis“, wäre.

Super, dann also der Frühling. Eben jener Frühling, der gerade dafür sorgt, dass meine Retina unbarmherzig weggebrannt wird, da sich das Sonnenlicht in meinem Monitor reflektiert und mir jede Chance auf eine erfolgreiche Karriere im Erlernen der Blindenschrift verspricht.
Und überhaupt, ich soll etwas über den Frühling schreiben, anstatt raus zu gehen und den Frühling zu erfahren - die Sonnenstrahlen genießen; sie nicht verwünschen.

Aber wofür rege ich mich eigentlich schon wieder auf?
Als hätte ich überhaupt die Zeit irgendwas unter der Woche zu genießen. Es ist ja nicht so, als müsse ich gleich noch einkaufen. Und Gott sei Dank ist es auch nicht so, dass ich seit heute Morgen um sechs Uhr auf den Beinen wäre, um sodann von acht Uhr bis um halb fünf hier in der Schule rumzusitzen und mir alles mögliche Zeug anzuhören, das mir nicht einmal für mein Abitur etwas nutzt.

Aber hey, es ist ja Frühling und das flackernde Licht der Lampe beginnt langsam einen stechenden Kopfschmerz in mir auszulösen.
Endlich, der ersehnte Gong.
Ein Gefühl von Glück und Befreiung durchströmt meinen Körper, als ich meine Schultasche schulter und das Gebäude verlasse.
Ich nehme die Bahn, um zum Geschäft zu kommen. Eigentlich würde ich gerne in der Sonne spazieren, aber die gefühlten fünfhundert Kilogramm Unterrichtsmaterial machen das Laufen nicht unbedingt zum Himmel auf Erden.
Noch viel weniger als der Himmel auf Erden, also quasi die Hölle auf Erden, ist die Straßenbahn. In dieser beginne ich zu glauben, dass selbst die äußerst delikaten, schmackhaften Sardinen aus der Dose einen hier drinne bemitleiden.
Und in etwa so riecht es hier drinnen auch – wie in einer Sardinenbüchse.
Zu allem Überfluss darf ich mir überflüssiges Geschwafel zweier Teenies anhören, wie „Krass, alter ey!“ und „boah echt, ne?!“, „[die] alte
Schlampe [dahinten]“ doch sei.

Mann, es ist Frühling!

Wieder ist es eine Art Gong; das Geräusch der Straßenbahn, als sie schrill bimmelnd von dannen zieht und mir Erlösung verspricht. Ich wende meine Schritte in Richtung des nahegelegenen Ladens, um meine noch nicht getätigten Einkäufe zu erledigen.


Ich hasse Einkaufen.
Ich betrete das Geschäft und beginne mich durch die Menschenmaßen, die prinzipiell und immer und in jedem Geschäft sind, zu kämpfen. Sobald ich mir ein Müsli, eine Milch, ein Brot, meinen Lieblingskäse und ein Päckchen Kaffee gegriffen habe.
Ja richtig, das Päckchen Kaffee; eigentlich könnte ich auch gleich hier stehen bleiben, denn die Schlange an der Kasse scheint eher in den Laden reinzuwachsen, als dass sie den Laden verließe.
Ich rücke langsam, aber stetig auf das viel zu kleine Laufband an der Kasse vor. Zwischen mir und dem Verlassen dieser Brutstätte verrückter Menschen liegen nur noch eine junge Frau und ein alter Mann, der sich darüber beklagt, dass die Etiketten viel zu klein gedruckt seien.
Er probiert mühsam das Etikett der Äpfel zu entziffern – es will ihm nicht gelingen. Wie so oft halte ich meinen Mund und frage ihn nicht, warum er in drei Gottes Namen nicht versucht, seine verdammte Brille zu benutzen, die scheinbar zur reinen Zierde um seinen Hals hängt; statt dessen beobachte ich das verhaltensauffällige Kind, das nicht nur seine Mutter tyrannisiert, nein, sondern das ganze Umfeld gleich mit, indem es permanent irgendwelche Waren aus der Schütte nimmt und die Frage stellt:
„Darf ich das haben? Und das? Und das? Und das? Und das? Und das? Und das?“
Im Stillen frage ich mich, was der Kleine mit einem Frauenrasierer für die Bein- und Achselzonen will, aber als er dann aus heiterem Himmel anfängt los zu brüllen, als seien Mephisto, Baal, Lucifer oder andere finstere Entitäten hinter ihm her, beginne ich mich zu fragen, ob „Lasset die Kinder zu mir kommen.“, nicht vielleicht doch ein Transkriptionsfehler war und es eigentlich „Hasset die Kinder, auf dass sie zu Sinn kommen.“, heißt.
Wie dem auch sei, ich stehe vor der Kassiererin und die hinter mir angestaute Menschenmasse macht mich nervös.
Alle Blicke ruhen auf mir, da das viel zu kleine Laufband, dessen Erfinder ich gerne einmal in einer handfesten Diskussion begegnen würde, bereits voll ist.
Mein Herz beginnt schneller zu schlagen und feine Schweißperlen bahnen sich ihren Weg über meine Stirn. Nachdem ich bezahlt habe, balle ich vor Wut die Fäuste und bin einmal mehr froh, dass ich das hinter mich gebracht habe.

Dem Himmel sei Dank, dass es Frühling ist, denn ansonsten würde es jetzt gerade Regnen und ein kalter Wind würde mich frieren lassen!
Das wäre ziemlich unangenehm, aber das kann ja nicht sein, denn es ist Frühling und alles blüht.

Ich bin zu Hause, verstaue meinen Einkauf, lehne mich gegen den Küchentisch, lasse meinen Blick schweifen und stelle fest, dass mein Mitbewohner es, entgegen aller Erwartungen, nicht für nötig befindet, nach Tagen sein dreckiges Geschirr oder sonstige hygienische Schäden, die er angerichtet hat, zu sanieren. Ausgelaugt, erschöpft, allem in allem kaputt, koche ich mir einen Kaffee, den ich jetzt auch bitter nötig habe. Nach anderthalb Stunden ist die Küche wieder blitzblank und ein zufriedenes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.
Ich gieße mir ein Tasse Kaffee ein und schlürfe ins Zimmer. Hier warten um sieben Uhr nur noch ein bis zwei Stunden Schularbeit auf mich – man hat ja sonst nicht zu tun.

Die Schularbeiten sind vollbracht; ich schaue aus dem Fenster - es dämmert - und ich kann beginnen meinen Frühlingstag zu genießen.
Ich greife mir meine Lektüre vom Fensterbrett und versinke in den Gedankengängen Nietzsches.
Irgendwie sind die gar nicht nur negativ, sie haben gerade eine ganz angenehme Wirkung auf mich.
Erschreckt wache ich aus meinen Gedanken auf greife nach dem Handy, auf dessen Display die Ziffern 1.30 wie ein Monument des Bösen prangen.
Das letzte woran ich denke, bevor ich um zwei Uhr dreißig Morpheus‘ Pfade beschreite, ist der Gong, der mich morgen Früh sicher wieder in den Frühling holt.


Und die Moral von der Geschicht‘,
trau‘ den Jahreszeiten nicht,
denn Zeit ist relativ.
Harlekin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 25.04.2010, 23:46   #2
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Lieber Harlekin,

der Frühling als Plage, weil die Gefängnisse des Tages durch ihn noch enger werden. Ja, das kenn ich. Und die Partnerschaft mit dem Nihilisten, die befreit. Auch wenn der Widerstand nicht ungestraft bleibt (morgentlicher Gong), ist er nicht mehr zu kassieren.

Liebe Grüße gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.04.2010, 00:01   #3
männlich Harlekin
 
Benutzerbild von Harlekin
 
Dabei seit: 04/2010
Ort: Kassel
Alter: 33
Beiträge: 57


Es freut mich, dass ich nicht der Einzige bin, der bisweilen alles satt hat.
Der Text ist im Rahmen einer Schularbeit entstanden, die mir - zugegeben - mehr Freude bereitet hat, als ich anfangs erwartet habe.
Teilweise ist die Sprache etwas salopp, aber es bleibt zu hoffen, dass es entschuldbar ist.

Liebe Grüße,
Harlekin
Harlekin ist offline   Mit Zitat antworten
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