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Alt 23.07.2006, 01:57   #1
Swanbone
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 4


Standard Emily

Es war am 03. Juni 1863 in einer lauen Sommernacht, als sie Emily in das verfallene Haus in der Swandam Lane brachten. Es war ein kleines, in sich gesunkenes Haus mit einem spitzen Dachfirst und mit von schweren Vorhängen verdunkelten Fenstern. Die drei Gentlemen, die das Mädchen begleiteten, überantworteten ihr Schicksal einer Lady, deren Gesicht ebenso grau war wie die Tapete im Flur des Hauses.
Emily - sie war erst neun und ihre Mutter war letzte Nacht verstorben. Die drei Gentlemen hatten sie aus ihrem Wohnhaus geführt. Sie hatten mit ihr gesprochen, ihr erklärt, dass sie nun an einen Ort gebracht werden würde, wo sie wohnen könnte und dass sie sich um alles weitere kümmern würden. Emily hatte stumm zugehört, denn sie hatte die Nacht neben dem kalten Körper ihrer Mutter verbracht und jedes Wort und jede Träne tief in sich verschlossen.
Den grauen Flur entlang und eine schiefe Treppe hinauf ging sie mit der alten Frau Hand in Hand, bis sie an eine kleine Tür kamen, hinter der sich der Schlafraum verbarg. Als Emily eingetreten war, hörte sie hinter sich den Schlüssel die Tür fest verschließen.
So kam sie in das Zimmer mit den vielen Betten und den anderen Mädchen, die zusammen hockten wie wilde Tiere und leise redeten.

Emily saß allein in der Ecke, auf ihrem Bett, den Kopf an die verfallene Tapete gelehnt, die Augen halb geschlossen und versuchte an nichts zu denken.
Dann waren die Männer gekommen und hatten sie mitgenommen. Die anderen Mädchen waren verstummt und hatten dem kleinen, schwarzhaarigen Mädchen mit großen Augen hinterher geschaut. Viele geschäftige Hände hatten Emily dann eingekleidet; in weißen Atlas und spitzenbesetzte Röcke und die graugesichtige Frau flocht hellblaue Bänder in ihr Haar. Entzückend sähe sie aus, so hatte die Alte gesagt. Und dass der Gentleman sehr zufrieden sein würde. Die Graugesichtige gab ihr dann eine merkwürdige Substanz zu rauchen, die sich komisch im Hals anfühlte und ihre Lungen mit weißem Rauch füllte. Und während Emily das Mundstück der Opiumpfeife noch im Mund hatte, wurde ihr auf einmal ganz schwindlig und sie suchte Halt an den Röcken der alten Frau.

So verbrachte sie eine einzige Nacht in dem kleinen schwarzen Raum im Untergeschoss des Hauses. Man öffnete die kleine Tür und führte Emily zu dem Bett mit dem schweren Satinbaldachin. Und während sie sich niederlegte, so wie man es ihr befahl, hatte sie das Gefühl, dass die Wände sich auf sie stürzten um sie zu zerquetschen.
Als sich dann der schwarze Schatten über sie beugte und begann sie zu entkleiden bekam sie keine Luft mehr und presste die weiße Tagesdecke an ihre Brust.

Als der Gentleman fertig war, taumelte Emily benommen zurück in den Schlafsaal zu den anderen Mädchen, die nun nicht mehr redeten, denn sie schliefen.
Dann legte sie ihren schweren Kopf auf das Kissen und starrte an die Decke. Ihre Schenkel schmerzten und ihr Puls raste. Sie presste die Hände auf dem Bauch um den Schmerz verschwinden zu lassen, doch als ihre Hand den glatten Atlasstoff berührte, fiel ihr auf, dass sie niemals in ihrem Leben so edel gekleidet gewesen war und sie konnte an nichts anderes mehr denken, als an den kalten Körper ihrer toten Mutter.
Als ihre Lider schwer zu werden begannen, fiel auf einmal warmes Licht auf ihr kaltes Gesicht. Emily setzte sich auf und schlich auf Socken an das vergitterte Fenster. Ihr Blick fiel auf die schwarzen Häuser am anderen Ende der Straße, deren verwitterte Dachfirste wie das Gerippe eines entsetzlichen Drachen in den Himmel stachen. Doch eines der Häuser war anders.
Es war weder schräg, noch verwittert – nein, im Gegensatz zu allen übrigen, war es hoch gewachsen und stolz und (was Emily am meisten verwirrte) strahlte aus jedem einzelnen seiner Fenster ein warmes Licht, das die Straße zu seinen Füßen golden färbte.
Sie betrachtete das Haus und fragte sich, was es wohl hier, in dieser schäbigen Gegend verloren haben mochte. Und Emily dachte darüber nach, was sie wohl hier verloren haben mochte, an diesem stickigen Ort mit den quietschenden Betten und den tiefen, übermächtigen Schatten.
Kurz zuckte vor Emilys Geist das Bild des schwarzen kleinen Zimmers auf, bevor sie eine Entscheidung traf.

Ohne Schuhe verließ sie den Schlafsaal und tappte sie die schräge Treppe hinunter, nur um sich vor der verschlossenen Eingangstür wieder zu finden. Natürlich - jetzt wurde ihr klar, dass sie überhaupt keine Möglichkeit hatte diesem schrecklichen Haus zu entfliehen und sie schalt sich dumm es überhaupt in Erwägung gezogen zu haben. Doch noch während sie das dachte, fiel ein gelber Lichtstrahl durch das kleine Schlüsselloch und die Tür schwang ohne einen Laut auf.
Emilys Fuß berührte das kalte Pflaster der Straße und ihre weißen Strümpfe wurden beschmutzt vom feuchten Schlamm.
Sie fand sich vor der Tür des riesenhaften Hauses wieder und ihre kleinen Hände umfassten den gelben Messingknopf. Als sie in die Höhe schaute, ragten die drei Stockwerke hoch, aber nicht bedrohlich, sondern eher schützend über ihr auf. Emily nagte an ihrer Unterlippe und drehte dann mit aller Kraft an dem Türknauf. Augenblicklich sprang die Tür auf und Emily fühlte den warmen Stoff des beigefarbenen Läufers unter ihren Füßen, als sie eintrat. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss und Emily war nun allein mit dem Haus.

Sie durchforstete den ersten Stock des Hauses und befühlte den Stoff des purpurnen Sofas im Salon und die raue Oberfläche der Tapete im Treppenhaus. Ihre Finger fuhren über das glatte Holz des massigen Eichentisches im Esszimmer und sie hörte das Ticken der großen Standuhr im Flur.
Im Schlafzimmer hüpfte sie auf dem weichen Doppelbett, bevor sie den großen Flur im ersten Stock des Hauses entlang ging. Rechts und links gingen mehrere Türen ab, eine zum Bad, eine weitere zum Arbeitszimmer. Eine kleine blaue Tür weiter hinten trug die Aufschrift „Emilys Zimmer“ auf einer kleinen Messingplatte.
Neugierig öffnete sie die Tür und ihr Blick fiel auf ein wunderbar eingerichtetes Zimmer mit einem weißen Himmelbett und einem Schrank voller Bücher. Auf dem Boden stand ein kleines Puppenhaus, das von außen wie auch von innen genau wie das Haus aussah, in dem sie sich gerade befand. Emily kniete nieder und schaute durch kleine Fenster in den Flur, das Esszimmer, den Salon und zuletzt auch in ihr Zimmer. Dann fiel ihr eine kleine Tür gegenüber ihrer Zimmertür auf, die sie zuvor übersehen hatte.

Sie fand es merkwürdig, dass sie diese Tür vorhin nicht bemerkt hatte, wo sie doch recht auffällig schien. Emily beschloss, diesem neuen Geheimnis auf den Grund zu gehen und stand auf. Sie durchquerte den kleinen Raum und öffnete die blaue Tür.
Als sie das blaue Türchen hinter sich zugeschlagen hatte, fand sich gegenüber der Tür wieder. Sie war nicht größer oder kleiner als alle anderen Türen dieses Hauses doch ein grundlegender Unterschied erschreckte Emily: die Tür war vom Rahmen bis zur Klinke schwarz gestrichen. In Augenhöhe prangte dort ein kleines weißes Schildchen: „Verboten“.
Emily wandte die Augen ab, denn diese Tür war ihr nicht geheuer. Statt sich weiter mit ihr zu beschäftigen, erkundete sie lieber das letzte Stockwerk des wunderlichen Hauses und stieg die kleine Leiter zum Dachboden hinauf.
Der Boden des Hauses war dunkel und roch nach Staub, obwohl er recht sauber und ordentlich schien. Vielleicht, so dachte Emily, riecht er ja nach Staub, weil man weiß, dass Dachböden nach Staub riechen sollten. Sie durchmaß den Raum mit großen Schritten und versuchte aus den kleinen Fenstern nach draußen zu lugen. Doch sie war zu klein und schaffte es nicht einmal, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte und sie konnte nichts anderes als einen dunklen Himmel erkennen.
Als sie nach links schaute, bemerkte sie eine winzige Treppe, die hinauf zu einer Falltür in der Decke führte. Emily tappte zum Treppenaufgang und sah über sich den schwarzen Türgriff in der Dunkelheit baumeln. Vorsichtig stieg sie Stufe um Stufe die gefährlich schräg stehende Treppe hinauf und zog an dem Holzgriff. Die Tür klappte nach unten, und Emily musste sich ducken, um nicht von ihr erschlagen zu werden. Als sie durch die Öffnung nach oben sah, erkannte sie, dass dies der Aufgang zu einem kleinen Turm an der Hinterseite des Hauses war. Sie kletterte hinauf und drehte sich entzückt um ihre eigene Achse. Die Wände waren in einem zarten Hellblau gestrichen und der Boden mit einem schweren Perserteppich belegt. In jeder der vier Wände gab ein großes Fenster den Blick auf die umgebene Landschaft frei. Emily trat zu einem der Fenster und presste das Gesicht an die kalte Glasscheibe. Zu ihrer großen Überraschung blickte sie auf eine stürmische See und einen Wolken verhangenen, tiefschwarzen Himmel.

***

Emily konnte sich nicht erklären, wie das Haus vom Hafenviertel zum Meer gelaufen sein sollte; noch wie es möglich war, dass es inmitten dieser stürmischen Flut nicht unterging. Vielleicht versucht es mich zu ertränken, dachte sie entsetzt und presste das Gesicht noch härter an die Glasscheibe. Die Wellen tobten und umschlangen einander, während der Wind die Wolken zerfetzte und Blitze über den grauen Himmel zuckten. Gebannt schaute Emily auf dieses schaurige Schauspiel und war fasziniert von der gewaltigen Macht des Seesturms, sodass sie ganz vergaß sich zu fürchten.
Als sie, im Schneidersitz, auf dem dicken Perserteppich eingenickt war, träumte sie von grünen Wellen und fliegenden Fischen, in deren glitzernden Schuppen sich das Mondlicht spiegelte.

Lange als die Nacht schon vorüber war und Emily hingestreckt auf dem flauschigen Stoff des Teppichs langsam erwachte, hatte der Sturm aufgehört zu toben und die Sonne schien durch das Fenster auf ihr Gesicht. Verschlafen richtete sie sich auf und blickte mit großen Augen auf eine wundervolle Wiese, deren grüne Halme und rote Mohnblüten in einer leichten Brise mal zur einen, dann zur anderen Seite schaukelten. Sie rieb sich die Augen und blickte zu dem Fenster in ihrem Rücken. Dort konnte sie über das Laubdach eines gewaltigen Waldes blicken, der sich bis zu den grauen Bergen am Horizont hinzog. In dem Fenster rechts von ihr, konnte Emily - wenn sie die Augen zusammenkniff- noch in weiter Ferne das tiefblaue Meer erkennen.
Nun war sie überaus verwundert, wenn auch nicht mehr so furchtbar ängstlich, und sie beschloss der Sache auf den Grund zu gehen. Als sie die Treppen hinunter gestiegen war und im Flur des ersten Stockes die Tür zum Badezimmer öffnen wollte, fiel ihr auf, dass sie schrecklich hungrig war und sie fragte sich, ob sie nun wie ein wildes Tier im Wald nach Nahrung suchen müsste. Dieser Gedanke beschäftigte sie und nachdem sie das Bad wieder verlassen hatte, beschloss sie, in der Küche nach etwas Essbarem zu suchen. Als sie einen Blick in das große Esszimmer warf, fand sie den gewaltigen Eichentisch zu ihrer großen Überraschung und Freude mit einem wunderbaren Frühstück gedeckt.
Emily stieg auf den Stuhl an der Kopfseite des Tisches und blickte auf die Teller und Tassen und das silberne Besteck. Am Brotkorb und auch an den Früchteschalen befanden sich kleine weiße Zettelchen und sie las neugierig, was darauf stand: „Iss mich.“
An der kleinen Teekanne und der kristallenen Karaffe fand sie weitere dieser Zettel, nur diese besagten: „Trink mich.“
Emily war sich nicht sicher, ob diese Nachrichten wirklich für sie bestimmt waren, doch dann besann sie sich darauf, dass sie, seit sie das wunderliche Haus betreten hatte, keiner Menschenseele begegnet war. Somit fühlte sie sich beruhigt und griff nach einem Stück Brot, schaute hinauf zur Decke und rief ein lautes „Dankeschön!“.
Das war das erste Wort, das sie gesprochen hatte, seit ihre Mutter gestorben war.

Später saß sie im Salon und schaute durch die weißen Spitzengardinen auf das Grün des Waldes und war sich nicht sicher was zu tun wäre.
Eingeschlossen war sie nicht, denn sie hatte versucht die Tür zu öffnen und dies hatte das Haus ihr nicht verwehrt. Doch die wilde Schönheit des Landes vor der Haustür hatte sie eingeschüchtert und sie wusste nicht, ob der Wald nicht vielleicht verzaubert wäre, oder voll von Ungeheuern. Darüber hinaus quälte sie der Gedanke, ob das Haus nicht vielleicht ohne sie weiter ziehen würde, sollte sie es wagen hinaus zu gehen.
So verbrachte sie ihre Zeit lieber innerhalb der schützenden Mauern und blätterte in den Bilderbüchern, die sie in dem Schrank in ihrem Zimmer gefunden hatte.
Gegen die Mittagszeit fand sie den Esstisch wiederum gedeckt, ohne dass sie jemals einer Person in dem Haus gewahr geworden wäre.
Gegen Abend ging Emily in ihr Zimmer mit der blauen Tür und streckte sich auf dem weißen Himmelbett aus.
Diese Nacht waren ihre Träume von einer dunklen Ruhe, die sie entspannte und alles vergessen ließ, was ihr jemals widerfahren war.

Als sie am nächsten Morgen aufgeregt die Treppen zu dem kleinen Turm auf dem Dach des Hauses empor kletterte, war sie sicher etwas Neues und aufregendes zu erblicken, wenn sie aus dem Fenster schauen würde.
Dieses Mal war das Haus auf einen Bergrücken geklettert und Emily offenbarte sich eine atemberaubende Aussicht auf das umgebene Land. Im Norden und Süden war nichts weiter als die Schnee verhangenen Gipfel der mächtigen Gebirgskette zu erkennen. Über dem nördlichsten und höchsten Gipfel fielen die ersten Strahlen der Morgensonne und tauchten das Land in goldenes Licht. Zu ihrer Linken konnte Emily die letzten Ausläufer des gewaltigen Waldes erkennen, dessen knorrige Stämme sich gegen die raue Felswand drückten und bis an die Westseite des Hauses heranreichten. Und im Westen war nichts als eine riesige weiße Schneefläche hinter dem Gebirge zu sehen.

Nachdem sie das Frühstück zu sich genommen hatte, spielte Emily mit dem Gedanken nach draußen zu gehen. Doch sie war sich noch immer nicht sicher, ob das Haus sie dann nicht wieder aufnehmen würde und stand, über diese Frage nachgrübelnd, unschlüssig im Hausflur. Als sie sich der Haustür näherte, fiel ihr dort ein kleines weißes Schildchen auf, von dem sie mit Sicherheit sagen konnte, dass es zuvor nicht dort gewesen war.
„Meine Tür sei dir immer offen. Ich werde warten.“
Emily las das Schildchen überrascht ein zweites und noch ein drittes Mal, bis sie sich sicher war, die Botschaft richtig verstanden zu haben. Zögerlich streckte sie ihre Hand dem Türknauf entgegen und wartete, ob etwas geschehen würde. Doch alles blieb ruhig und Emily drehte den Knauf und öffnete die Haustür einen Spalt breit. Sofort schlug ihr ein eisig kalter Windstoß entgegen und sie rieb sich die bebenden Arme, als sie die Tür ganz öffnete und zur Kante des Plateaus ging von wo aus sie in die Tiefe schaute. Die Felswand war furchtbar hoch und der Wind fegte jaulend durch die zerklüfteten Spalten. Weiter unten begann ein kleiner Wasserfall, der von Wind gegen die Felswand gedrückt wurde und dort in tausend feine Tropfen zerstob. Als das Licht der Sonne auf ihn fiel, leuchteten sie in allen Farben, was Emily sehr gefiel. Doch die Höhe machte sie schwindelig.

Sie verließ die tiefe Schlucht mit weichen Knien und suchte Schutz vor dem Wind in dem Fichtenwäldchen, direkt neben dem Haus.
Sie wanderte ein wenig unter den Bäumen, bis es ihr zu kalt wurde und sie ins Haus zurückkehrte.
Als sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, überlegte sie kurz und lief dann in den Salon des Hauses und stellte sich dort genau in die Mitte des Raumes.
„Es ist schön hier“, sagte sie laut. „Aber zu kalt und viel zu weit oben. Ich könnte die Schlucht herunterfallen. Können wir nicht woanders hingehen?“ Niemand antwortete ihr aber als sie sich umdrehte, um das Zimmer wieder zu verlassen, hing am Türrahmen ein kleines Gold überzogenes Schild. Als sie näher trat, las sie dort: „Morgen.“

Am nächsten Tag stand das Haus, wie versprochen, nicht mehr auf einem der Berge, sondern in den Windschatten des Gebirges gedrängt, in den die Strahlen der Sonne noch nicht vorgedrungen waren. Als Emily die weiße Ebene aus dem Fenster in ihrem Zimmer erblickte, war sie so fasziniert von diesem Anblick, dass sie ohne zu atmen den Blick schweifen ließ. Ihr war, als würde sie mitten ins Nichts gesogen.

Im Salon angekommen, warf sie sich die weiße Tagesdecke, die das Sofa bedeckte, über den Kopf und schlang sie fest um sich. Dann öffnete sie die Tür und trat hinaus auf die Ebene.
Sofort sank sie bis zu den Knien im Schnee ein und das Weiß blendete sie, sodass sie die Augen beschatten musste. Sie versuchte einige Schritte zu gehen, doch der Schnee hinderte sie daran, so dass sie aufgab und in den Hausflur zurückkehrte. Nun war sie fast wütend und sie warf die Tagesdecke ab und ließ sie achtlos liegen.
„Ich kann wieder nicht hinaus.“, sagte sie. „Das hier ist kein Ort für mich. Lass uns weitergehen.“
Und plötzlich lag ein weißes Papierschild vor ihren Füßen, auf dem geschrieben stand: „Morgen.“
„Ich will aber heute weiter.“, antwortete sie, doch diesmal bekam sie keine Antwort.
Swanbone ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.07.2006, 11:21   #2
Struppigel
 
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Beiträge: 1.007


Eine tolle Geschichte. Die Erkundungstour ist sehr interessant. Ich frage mich, ob Emily nicht in Wirklichkeit alles nur träumt. Und so toll scheint die Zukunft nicht auszusehen - wird sie einsam bis auf alle Ewigkeiten in dem großen Haus bleiben? Ist das Ding nicht eher wie ein goldener Käfig?
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.07.2006, 12:23   #3
Swanbone
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 4


Am Abend lag sie in ihrem Himmelbett und starrte aus dem Fenster auf die endlose weiße Landschaft und dieser Anblick verfolgte sie bis in ihre Träume.
Als sie am nächsten Morgen wieder aus den Turmfenstern schaute, dachte sie zuerst entsetzt, dass Haus wäre dort stehen geblieben, wo es sich schon am Tag vorher befunden hatte.
Doch bei genauem hinsehen konnte sie das Gebirge entdecken, das in weite Ferne gerückt war, doch nun fand sie sich in der schrecklichen Ebene aus ihren Träumen wieder, auf der nichts Lebendiges war, kein Baum und kein Strauch, nur gelegentliche Schneehügel, wie die Dünen einer weißen Wüste.
Diesen Tag verbrachte Emily ganz allein in ihrem Zimmer und spielte mit ihrem Puppenhaus, wobei sie jeden Raum untersuchte und die kleinen Möbelstücke verrückte.
Immer öfter wanderte ihr Blick dabei zu der kleinen schwarzen Tür, doch sie fürchtete sich, wenn sie zu lang in ihre Richtung schaute und beschäftigte sich dann schnell mit etwas anderem.
Die Tage vergingen ohne dass sich etwas an der Aussicht änderte. Emily fand manchmal kleine Zettel vor ihrer Tür die schwer zu entziffern waren, wie ungeduldig geschriebene Notizen, auf denen aufmunternde Dinge standen wie: „Der Schnee schmilzt in der Sonne des Frühlings.“ Oder „Vergiss nicht den Sommer.“
Aber Emily wurde traurig und ging nur noch selten in das kleine Turmzimmer, da sie schon vorher wusste, welcher Ausblick sich ihr bieten würde.
Emily aß, trank, wurde Tag um Tag älter und sah noch immer nichts anderes als Schnee. „Unterhalte mich!“, bat sie eines Tages das Haus. „Ich werde mich noch langweilen bis ich eine alte Frau bin. Ich möchte etwas anderes sehen als Eis, Schnee und einen immer grauen Himmel.“
„Sieh aus dem nördlichen Fenster.“, antwortete ihr ein Bild an der Wand.

Als Emily die Treppe zum Dachboden hinter sich gelassen und die kleine Leiter zum Turmzimmer hinauf geklettert war, drehte sie sich um ihre eigene Achse um heraus zu finden, welches der Fenster das Haus gemeint haben könnte. Als ihr Blick aus dem Fenster zu ihrer Linken fiel, konnte sie in weiter Ferne das blaue Glitzern eines Ozeans erkennen.
„Das ist alles was du mir zu zeigen hast?“, rief sie. „Den Ozean habe ich schon gesehen, ich will etwas anderes. Geh zurück zu der schönen Wiese und dem grünen Wald!“
„Nein.“, sagte der Zettel zu ihren Füßen. Und weiter: „Zurück gehen kann ich nicht. Es gibt nur Gegenwart und Zukunft. Die Vergangenheit darf hier nicht existieren.“
Emily warf einen wütenden Blick aus dem Fenster und stieg die Treppe nach unten.

Am Abend war sie schlecht gelaunt und wollte nicht ins Bett gehen.
„Ich kann keinen Schnee mehr sehen, nichts kann ich hier tun außer zu warten. Warum bleiben wir nur so lang in dieser furchtbaren Wüste?“
„Du bist es, die mich verlangsamt.“, antwortete ihr ein Kärtchen auf dem Tisch. „Deine Ungeduld nimmt mir meine Energie. Nun musst du warten, bis ich dich über das Meer gebracht habe.“
Darauf erwiderte Emily nichts und sie ging schweigend in ihr Zimmer.
„Was ist in dem Raum mit der schwarzen Tür?“, fragte sie, als sie vor ihrem Puppenhaus kniete und versuchte in das Innere des Zimmers zu spähen. Doch der Raum hatte keine Fenster und die kleine Tür ließ sich nicht öffnen. Am Dach des Häuschens klebte das Antwortschreiben in Form eines Briefes, der nur einen einzigen Satz enthielt: „Dieser Raum ist verboten.“

Als Emily zu Bett ging, dachte sie daran, dass das Zimmer hinter der schwarzen Tür das einzige Geheimnis des Hauses war, das sie noch nicht erkundet hatte. Der Gedanke verfolgte sie bis in den Schlaf und sie träumte von einem engen Korridor von dem zu allen Seiten kleine schwarze Türen abgingen, die sich nicht öffnen ließen, so sehr sie auch an ihnen rüttelte.

Emily wurde noch missmutiger, vor allem da das Haus ihr die Schuld daran gab, dass sie die Eiswüste noch nicht verlassen hatten. In den vergangenen Tagen waren sie dem Meer vielleicht fünf Meter näher gekommen und Emily konnte es am Horizont nur erahnen, wenn sie aus dem Fenstern schaute.
Die Tage waren ihr so lang, dass sie anfing die Gegenwart des Hauses zu hassen und sie zog sich die weiße Tagedecke über und ging hinaus in den Schnee. Doch sie sank bis zur Brust in das kalte Nass und konnte sich nur schwer wieder befreien.
Nun kam ihr das einst so geliebte Heim wie ein Gefängnis vor und in ihrem Kopf begann ein schrecklicher Gedanke zu wachsen.
Eines Abends beschloss sie, heraus zu finden, warum das Zimmer mit der schwarzen Tür ihr verboten war und sie machte sich auf den Weg in den ersten Stock des Hauses. Als sie die Treppe hinauf ging, hörte sie das Haus um sich knarren und ächzen, wie ein riesenhaftes Wesen. Als sie auf ihre Füße schaute, sah sie Kärtchen auf jeder einzelnen Treppenstufe liegen und auf jedem der Karten stand der gleiche Satz: „Geh nicht weiter.“
Oben auf dem Treppenabsatz fand sie den gesamten Korridor hindurch weitere dieser Kärtchen liegen, die in einer Schlange ausgelegt bis vor die Türschwelle der schwarzen Tür führten und jedes der Kärtchen forderte sie auf, stehen zu bleiben. Emily sammelte die Karten ein und hielt sie in der Hand während sie sich der Tür näherte und als sie ihr gegenüberstand war das Schild, das an ihr hing noch viel größer und Furcht einflößender und auf ihm stand in geschwungenen Lettern das Wort: „Verboten.“
„Ich werde wissen, warum es verboten ist und welches Geheimnis du vor mir verstecken möchtest.“, sagte Emily. „Ich werde jetzt hineingehen.“ Und sie zerdrückte die kleinen Kärtchen mit ihrer Hand und warf sie zu Boden.
Die Wände des Hauses ächzten, als sie versuchte den Knauf zu drehen und Putz rieselte von der Decke auf Emilys schwarzes Haar.
Die Tür öffnete sich mit einem Klacken.
Binnen einer Sekunde befand sich Emily zu ihrem großen Schrecken wieder in dem kleinen schwarzen Kellerzimmer des verfallenen Hauses in der Swandam Lane und roch den schweren Opiumduft, der in der Luft hing wie Modergeruch. Die Schatten waren noch dichter als sie es in dieser Nacht gewesen waren und das Bett mit dem schweren Satinbaldachin war wie ein Maul, das sie wie ein verhasstes Insekt zerquetschen wollte. Aus einer Ecke hörte sie ein wildes Kichern und sie erinnerte sich an den Mann, der sich wahnsinnig lachend über sie gebeugt und ihr wehgetan hatte. Emily hörte hinter sich die Tür ins Schloss fallen und sie war allein mit den grausigen Schatten, die näher rückten und sie einschlossen, bis sie keine Luft mehr bekam. Das Lachen umgab sie und der Gentleman, der einen hohen Zylinder trug und von dessen Gesicht sie nichts sah als seinen schrecklich verzerrten Mund, riss an ihren Kleidern und Haaren und stieß sie herum, bis sie zu Boden fiel und nicht mehr aufstand.

Am 05. Juni 1863 betrat Inspektor Holloway das einzige Haus der Straße, das noch nicht so alt und verfallen war wie der Rest der ärmlichen, mottenzerfressenen Hütten.
Wegen der Razzia einer Drogenhöhle, in der angeblich minderjährige Mädchen zur Prostitution gezwungen worden waren, hatte er den Weg zu dem vermoderten Hafenviertel auf sich genommen, doch dann hatte man ihn zur Bergung einer Kinderleiche in einem anderem Haus in derselben Straße hinzu geholt.
Holloway schritt durch den großzügig eingerichteten Salon und über einen roten Läufer in die erste Etage des Hauses, in der ihm schon mehrere Bobbies den Weg versperrten. Er bahnte sich seinen Weg durch die Menge von Männern und bedeutete einem jungen Polizeiangestellten zu ihm zu kommen. „Was zum Teufel geht hier vor, William? Wo sind die Besitzer dieses Hauses?“
„Wir haben sie nicht finden können… Sir.“, stotterte der schmächtige, rothaarige Ire. „Sie waren nicht Zuhause als wir das Mädchen fanden. Einige Straßenjungen waren in das Haus eingestiegen und hatten sie in dem Zimmer liegen sehen. Wir konnten zwei von ihnen schnappen, die schon oft wegen Taschendiebstahl aufgefallen waren. Sie wissen schon, George und sein Anhängsel, der kleine Frederic…“ William lachte unsicher. Holloway machte eine ungeduldige Geste und Williams Lächeln erstarrte. „Ich habe eigentlich Dienstschluss. Was ist nun mit der Kleinen?“
„Sie lebt noch, Sir.“, rief in diesem Augenblick ein schwarz gekleideter Bobbie, der die vermeintliche Leiche untersucht hatte. „Sie atmet noch schwach.“
Holloway seufzte. „Bringen sie sie in das Hospital und benachrichtigen sie die Eltern. Merkwürdige Leute, die in solch einer gottverfluchten Gegend wohnen und dann auch noch ihr Kind allein zu Haus zurück lassen.“
Damit macht drehte er sich auf dem Absatz herum und überließ es den Polizisten sich um das Mädchen zu kümmern. Er war nur froh, das Haus verlassen zu können, denn es war ihm irgendwie nicht geheuer.

Das Waisenkind Emily Windship wurde kurz darauf das städtische Hospital gebracht, wo man sie in ein weißes bezogenes Bett legte und eine Schwester dreimal am Tag nach ihr schaute. Zuerst war es der Schwester, als ob das Kind nur schliefe und schon bald wieder aufwachen und sich bester Gesundheit erfreuen würde. Doch Emily erwachte nicht. Nicht nach einem, auch nicht nach zwei Tagen und auch nicht nach einer Woche.
Die Schwester kämmte ihr Haar und blickte ihr dann ratlos ins Gesicht. Manchmal war es ihr, als würde sich das kleine, schwarzhaarige Mädchen in einem schrecklichen Albtraum hin und her winden, denn sie verzog das Gesicht und ballte die kleinen Hände zu Fäusten, als wolle sie dunkle Gedanken mit aller Macht vertreiben. Doch meist war ihr Ausdruck friedlich und manchmal konnte man sie nachts leise Lachen hören.
Swanbone ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.07.2006, 12:44   #4
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
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Oh, wie grausig. Das Ende, wah.
Eine tolle Geschichte, jetzt gefällt sie mir noch besser.
Ich dachte während des Lesens an die Deutung von Traumsymbolen. Unter anderem soll ein Haus in einem Traum den Träumer selbst darstellen. Die verbotene Tür - sie ist eine Erinnerung, die das traumatisierte Kind in sich selbst eingeschlossen hat. Bricht man sie auf, durchlebt man das Trauma wieder. Mir kommt es vor, als wäre das alles ein Traum von Emily. Sie ist nach ihrer Flucht in eine Art Koma gefallen und träumt seither, während sie im Hospital versorgt wird. Das näher rückende Meer deutet darauf hin, dass sie irgendwann wieder erwachen wird. Nur steht sie sich damit selbst im Weg.
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.07.2006, 21:17   #5
Swanbone
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 4


Hallo!
Freut mich sehr, dass es dir gefallen hat!
Deine Deutung ist witzig... denn die Idee für diese Geschichte, jedenfalls die für das "laufende" Haus, habe ich aus einem Traum
Die Idee hat mir damals so gut gefallen, dass ich mir eine Geschichte drumherum ausgedacht habe.
Mit Traumsymbolen kenne ich mich ein klein wenig aus, du hast recht was das Haus angeht. Nun ja, das Ende lässt mehrere verschiedene Deutungen offen... möglicherweise war es ja auch die Wahrheit? Oder Emily hat sich in ihrem Wahn in das andere Haus verirrt und ist dort zusammengebrochen.
Swanbone ist offline   Mit Zitat antworten
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