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Alt 21.12.2016, 12:37   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Streichholzmädchen

Lisa fröstelt. Das Heizöfchen gibt nicht genug her, um die Minustemperaturen von ihr fernzuhalten. Mit Resignation sieht sie jedem Passanten hinterher, der achtlos an ihrem Weihnachtsstand vorbei geht, ohne sich dessen wundervollen Baumschmuck und Pretiosen aus den Kunstwerkstätten anzusehen, sondern eine der Glühweinhütten ansteuert.

Ein Mädchen in ihrem Alter bleibt vor dem Stand stehen und reicht ihr ein paar Seiten beschriebenen Papiers.

„Das haben wir heute durchgenommen. Übermorgen solltest du in der dritten und vierten Stunde da sein, wir schreiben eine Arbeit in Englisch …“

„Ich kann nicht. Ich muss arbeiten.“

„… und unser Klassenlehrer wünscht dir gute Besserung.“

„Danke, Gabi. Sage ihm, dass ich es bis nach Weihnachten schaffe.“

„Das weiß er selbst. Deine Mutter?“

„Geht schon.“

„Schöne Grüße. Also dann …“

Martin Pechwart betritt den Stand.

„Noch nichts verkauft?“

„Nicht eine Kerze. Nicht mal eine Schachtel Streichhölzer.“

Martin seufzt.

„All die schönen Sachen … Aber die Leute haben schon alles. Wenn ich dieses Jahr wieder keinen Umsatz mache, kriegt mich die Bank am Wickel. Eigentlich kann dich schon jetzt nicht mehr bezahlen.“

Lisa schaut mit Neid zum Stand gegenüber, an dem Besucher des Weihnachtsmarktes genussvoll Kartoffelpuffer mit Apfelmus verspeisen. „Dort hätte ich anheuern sollen!“ Sie denkt es nur, denn sie will Martin nicht kränken.

Während sie sich für ihre abtrünnigen Gedanken schämt, bleibt ein Passant vor ihrem Stand stehen und deutet auf eine Schachtel mit Christbaumkugeln.

„Die sind aber sehr hübsch.“

„Sie sind handgemalt, jede Kugel ist ein Unikat. Nicht ganz billig.“

Indessen der Passant die Kugeln einzeln aus der Schachtel nimmt und bewundert, mustert Lisa sein auffallendes Äußeres. Er trägt einen roten, altmodisch geschnittenen Mantel, der mit weißem Hermelin umfasst ist und viel zu lang erscheint, dazu schwarze, geschnürte Stiefel. Doch sein Gesicht wirkt jugendlich, und sein dunkles, dichtes Haar ist zu einem modernen Haarschnitt getrimmt. Er bemerkt ihren kritischen Blick.

„Ooch, das ist nur meine Arbeitskleidung. Normalerweise laufe ich in Jeans herum.“

„Und für wen machst du den Nikolaus?“

„Für die Kinder. Eigentlich nur für die Kinder. Kinder sind die einzigen Wesen, die noch an mich glauben.“

Lisa muss lachen.

„Und das nehmen sie dir ab, zu Fuß, ohne Schlitten und Rentiere?“

„Oh, ich habe einen Schlitten und Rentiere! Aber damit umzugehen ist nicht einfach.“

„Verstehe. Du bekommst dein Fahrzeug nicht in den Griff, und deshalb bist du zu Fuß unterwegs, weil dich sonst die Polizei wegen Gefährdung des öffentlichen Verkehrs zur Rechenschaft ziehen könnte.“

„Du bist ein intelligentes Mädchen. Wenn ich in der Zelle säße, könnte ich meine Termine nicht einhalten. Sag mal, kannst du mit Rentieren umgehen?“

„Ich kenne mich nur mit Katzen aus.“

„Auch nicht mit Pferden?“

„Nur mit Katzen.“

„Aber du könntest dir meine Rentiere doch mal ansehen.“

„Hast du auch eine Briefmarkensammlung?“

Der Rot-Weiße ist empört.

„So einer bin ich nicht. Dein Boss kann ja mitkommen.“

„Schon gut.“

Lisa folgt dem Rot-Weißen durch den Weihnachtsmarkt. Am Eingang steht tatsächlich ein Schlitten mit vier angeschirrten Karibus. Der Rot-Weiße nimmt eines der Tiere am Zügel.

„Das ist Betty. Sie macht die größten Schwierigkeiten. Hat ihren eigenen Kopf, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Du musst sie nach hinten nehmen, in die zweite Reihe. Dann ist sie gezwungen, sich unterzuordnen.“

Der Rot-Weiße kratzt sich am Kopf.

„Auf diese Idee hätte ich auch kommen können.“

„Was gibst du mir, wenn ich dich begleite?“

„Was willst du haben?“

„Betty!“

Der Rot-Weiß wirkt schockiert, besinnt sich aber schnell.

„Ich werde Betty fragen, was sie davon hält.“

Drei Tage später.

„So, alles ausgeliefert. Jetzt gehört Betty dir.“

Der Rot-Weiße befreit Betty von ihrem Zaumzeug und führt sie Lisa zu.

„Vielleicht sehen wir uns im nächsten Jahr wieder.“

Dann steigt er auf seinen Schlitten, treibt die Rentiere an, steigt in die Lüfte und entschwindet in den Himmel. Lisa sieht mit Staunen hinterher.

„Betty, der war ja echt!“

Betty senkt ihr Geweih und scharrt mit dem Huf.

Am letzten Tag des Weihnachtsmarkts:

„Wie sieht es aus, Martin?“

„Gut. Nicht ideal, aber gut. Betty hat mich gerettet, sie war die Sensation für die Kinder. Für jeden Kauf einmal kostenlos reiten – eine geniale Idee. Aber was machst du jetzt mit ihr?“

„Nichts. Betty weiß von selbst, was sie zu tun hat.“

Lisa macht Betty von ihrem Geschirr los.

„Sag mal, Martin, glaubst du an Wunder?“

Ehe Martin antworten kann, sieht er, wie Betty sich vom Boden löst und den Abendwolken zustrebt.

Ein Passant, dürr von Gestalt, in dunkler Kleidung und würzig riechend, weckt Lisa und Martin aus ihrem Staunen.

„Mir ist die Pfeife ausgegangen. Habt ihr noch ein Päckchen Streichhölzer für mich?“

21.12.2016
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.12.2016, 12:44   #2
weiblich Unar die Weise
 
Benutzerbild von Unar die Weise
 
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Beiträge: 5.271


Anrührend geschrieben.
Erinnert natürlich an das Mädchen mit den Schwefelhölzern.
Aber hier, mit Happy End.
Mir gefällt deine Geschichte.

Frohes Fest und kleine Wunder, wünscht dir Unar.
Unar die Weise ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.12.2016, 17:06   #3
männlich dr.Frankenstein
 
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Die Stelle in der sie plötzlich den Stand verlässt ist irgendwie unschlüssig.
Aber gefällt mir auch.
Ist aber zum Glück ein Zündholzmädel von Heute.
dr.Frankenstein ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.12.2016, 17:12   #4
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City
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Zitat:
Zitat von dr.Frankenstein Beitrag anzeigen
Die Stelle in der sie plötzlich den Stand verlässt ist irgendwie unschlüssig.
Warum? Martin, der Boss, ist doch da und kann sich um den Stand kümmern, solange Lisa nicht da ist.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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