Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 17.04.2011, 13:26   #1
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521


Standard Fußballmärchen

Die ganze Stadt scheint nur noch aus drei Farben zu bestehen, grenzenlose Euphorie auf den Straßen, eine wogende Menschenmasse, die sich auf der neuerdings als Fanmeile betitelten Hauptstraße bei jedem Schritt zu vergrößert scheint. Es ist fantastisch! Wildfremde Menschen jeden Alters liegen sich in den Armen, jeder, der das Spiel gesehen hat, wird bedingungslos als Fußballexperte anerkannt.

Ich ströme einfach mit, umarme wildfremde Menschen und verkünde lauthals meine Expertenmeinung, die glücklicherweise kaum Gehör findet, weil jetzt jeder lieber selbst rumbrüllt statt irgendwem zuzuhören. Über uns donnert es und kurzweilig gießt es wie aus Eimern. Wir halten lachend den Stinkefinger in den Himmel und grölen Sauereien Richtung Wettergott. Es ist warm und nass und großartig! Wie berauscht wogen wir weiter. Die Kioskinhaber haben sich mittlerweile auf das wiederholte Spektakel vorbereitet und versuchen erst gar nicht mehr, den bierlüsternen Massen in ihren Läden Herr zu werden. Sie stehen klatschnass mit zahllosen Bierkisten und Mitarbeitern vor ihren Geschäften und machen das Geschäft ihres Lebens.

Während unsere Jungs weitere Flaschen in die Rücksäcke laden, drängeln wir Mädels in die benachbarte Dönerbude. Vor den Toiletten ist die Schlange lang und es dauert nicht lange bis jemand das altbekannte Humba- Humba- Prozedere einleitet. So bebt der kleine Laden bald von hüpfenden und singenden Menschen: Humba humba tätärää! Da machen wir fleißig mit, Ehrensache. Als das Lied verklingt, stellt man unangenehm fest, dass man hier ist, weil man aufs Klo muss. Die Hüpferei hätte man besser gelassen. Die Schlange wird dichter und kurzerhand wird jetzt auch die Herrentoilette von uns Mädels bestürmt. Das kennt man ja von vielen Großveranstaltungen. Die Jungs grinsen und sagen: „Hereinspaziert!“ Die Damenwelt zu Gast bei Freunden.

Zurück auf der Straße stellen wir fest, dass der Regen nachgelassen hat. Die Sonne ist wieder rausgekommen und trocknet die nassen Klamotten und Flaggen. Jetzt können wir schon unser Ziel über unzählige Köpfe hinweg erblicken. Jemand hat eine Rauchbombe gezündet. Was das ist, erklärt mir mein Liebster, als ich entsetzt los schreie, dass es da vorne brennt. Ich verstehe nur die Hälfte, weil wir uns durch eine Gruppe Vuvuzelatrompeter drängeln, zumindest habe ich verstanden, dass der Rauch ungefährlich ist und gebe mich damit zufrieden. Diese Vuvuzelers sind schon irgendwie cool. Ich habe keine und frage deshalb, ob ich es mal ausprobieren darf, da unsere Jungs die Trötenspieler ohnehin gerade in ein Expertengespräch verwickeln. Feierlich wird mir eine gelbe Tröte überreicht und ich versuche es. Leider kommt nur warme Luft und kein einziger Ton aus dem Ding. Misstrauisch beäuge ich die Tröte, komme mir ziemlich blöd vor und weiß nicht, was ich falsch gemacht habe. Der Besitzer klärt mich grinsend auf: „Du musst die Lippen zusammenpressen! So!“ Ich versuche es. Mit dicken Backen und roter Birne stehe ich da und mühe mich ab, um diesem Mistding einen Ton zu entlocken. Das Expertengespräch über das Spiel ist mittlerweile zu einem Expertengespräch über die richtige Tröttechnik geworden. Als mir schon schwindelig wird, ertönt ein kurzer Hupton. So geht das! Grinsend gebe ich die Tröte zurück, wühle ein frisches Bier aus dem Rucksack und ziehe mit den anderen weiter.

Ein zweispuriger Kreisverkehr ist unser Ziel. Auf der Grüninsel in seiner Mitte stehen zwei historische Denkmaler, lebensgroße Steinskulpturen von Pferden und müden Bauern, die auf einem Sockel stehen. Jetzt sind sie von weißgekleideten Fans besetzt, auf einem Pferdearsch prangt die Deutschlandflagge. Hier ballt sich das Gewusel, hier trifft sich die feierwütige Schar und huldigt dem Fußballgott. Es ist ohrenbetäubend laut, bald sehe ich nur noch Rücken und Bäuche im Trikot. Andauernd latscht mir jemand auf die flipflopbeschuhten Füße, es riecht nach nassem Hund in Bier gewälzt. Ich wage es, mich zu bücken, um etwas pflanzenartiges von meinem Zeh zu entfernen. Den Schmodder an den Fingern wische ich am Vordermann ab. Er merkt es nicht.

Überall Menschen und kein bekanntes Gesicht mehr. Meine Leute finde ich nicht wieder, dabei hat mein struppiger Lieblingsblondschopf einigen Wiedererkennungswert. Dafür werde ich jetzt von einem Kollegen gefunden und wir stehen ein Weilchen in der Menge, tauschen Expertenmeinungen aus und teilen uns sein letztes Bier. Den hätte ich gar nicht so eingeschätzt, wen man hier alles treffen kann…Als ich mich weiter schiebe, stehe ich plötzlich vor einem Mercedes. Verblüfft schaue ich durch die Windschutzscheibe und erspähe zwei entgeisterte Rentnerinnen, die sich mit ihrem Wagen in den vollgestopften Kreisel geschlichen haben. Der ist für Autos natürlich gesperrt! Wie haben die das gemacht? Irre! Zwei Bierdosen stehen auf dem Kühler und ein Mädchen lehnt rauchend am Seitenfenster, quatscht mit ihrer Freundin und tätschelt dabei das Chrom hinter ihr. Die Rentnerinnen im Innern des Fahrzeugs benehmen sich wie bei einer Autopanne auf ner Löwensafari. Ich kann kaum die Augen abwenden und grinse bestens unterhalten vor mich hin.

„Hinsetzen!“ ertönt es dann durch ein Megafon vom Steinpferderücken. Das Humba-Spektakel geht wieder los und kommt mir sehr gelegen. Gehorsam gehen hunderte Menschen in die Hocke und lauschen den heiligen Buchstaben. Obwohl man aufdringlich an mir zerrt, bleibe ich stehen und scanne jede Gestalt im Umkreis. Da! Bekannte Gesichter auf der Grüninsel und auch der gesuchte Blondschopf! Der dazugehörige Mann schickt sich gerade an, das Steinpferd zu erklimmen. Oh, oh. Als hunderte Menschen gleichzeitig aufspringen und zu hüpfen beginnen, mache ich mit: „Wir … siiin…gen Humba humba humba tätärä! Täterä! Täteräää!“ Jetzt komme ich eh keinen Schritt weiter. Als der Wahnsinn vorüber ist, sehe ich, dass mein Liebster mittlerweile auf dem Pferd sitzt. Er hat dem anderen Kerl sein Megafon weggenommen und ich höre erschrocken meinen Namen mit langgezogenen Vokalen über den Lautsprecher dröhnen. Er lacht sich schlapp dabei und der Megafonmann stimmt mit ein und kräht: „Dein Prinz wartet!“

Das ist er also, mein Prinz. Balgt sich halbbesoffen auf einem Steinpferd um ein Megafon und hat schon wieder einen Sonnenbrand auf der Nase und undefinierbare Flecken auf dem T-shirt. Trotzdem fliegt ihm mein Herz zu. Als ich von unten an seinem Bein ziehe, rutscht er strahlend über den Pferdehintern zu mir runter und macht eine Verbeugung: „Mylady!“. Unter dem Gejohle einiger Fußballromantiker gibt’s einen feuchten, nicht allzu treffsicheren Schmatz ins Gesicht.
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.04.2011, 13:43   #2
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.115


Gut geschrieben, habe mich köstlich amüsiert!

Das hier hat mich besonders zum Lachen gebracht:

Zitat:
Mit dicken Backen und roter Birne stehe ich da und mühe mich ab, um diesem Mistding einen Ton zu entlocken. Das Expertengespräch über das Spiel ist mittlerweile zu einem Expertengespräch über die richtige Tröttechnik geworden.
Erlebt habe ich das in dieser Form allerdings noch nicht, denn bei uns daheim am Bieberer Berg geht es wesentlich ruhiger zu. Da verläßt man sich noch immer auf die Stimmbänder und Trommelfelle.

Bleibt nur eine Frage: Was hat es mit den "drei Farben" auf sich? Die Vereine, die mir geläufig sind, tragen nur zwei Farben im Namen.

LG
Ilka-M.

Ach so! Kapiert! Es handelt sich um die WM: schwarz-rot-gold.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 17.04.2011, 20:47   #3
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909


Hallo Aquaria,

habe deine prallen Erlebnisse mit Interesse verfolgt. Wirklich gut geschrieben. Meine Kinder, als ich sie damals nach ihrer WM-Feierlaune ein bisschen befragte, sagten nur: "Du verstehst das eh nicht! Und komm bloß nicht zu uns in den Jugendraum. Du hockst dann da wie Angela Merkel, versaust uns die Stimmung." Aber aus deinen Zeilen kann man sie gut entnehmen und ich könnte fast gleich mitmachen.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.04.2011, 13:12   #4
weiblich Aquaria
 
Dabei seit: 02/2010
Alter: 42
Beiträge: 521


Hi Ilka, hi gummibaum

danke. Ja, die WM 2010 war ein tolles Erlebnis und das schöne Wetter draußen hat mich diese Geschichte posten lassen.
Ich bin offenbar zu blöd, um nen Link zu kopieren, wer aber Lust hast, kann bei youtube unter Münster, Kreisverkehr, WM 2010 die passenden Bilder zu dieser Geschichte finden

Sollte man mal mitgemacht haben, 2014 steig ich auch aufs Pferd...

Liebe Grüße,
Aquaria
Aquaria ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Fußballmärchen




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.